Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden

Stimme eines galizischen Juden an seine Glaubensgenossen in den neutralen Ländern insbesondere in Amerika
Autor: Segel, Binjamin (1866-1931) galizischer Autor, Journalist und Ethnologe, Erscheinungsjahr: 1915

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Erster Weltkrieg, Deutschland, Russland, Frankreich, England, Belgien, Österreich, Polen, USA, Freiheit, Humanität, Menschenrechte, Juden, Judentum, Militarismus, Konkurrenzkampf, Frieden, Antisemitismus, Befreiung, Flucht, Flüchtlinge, Befreiung, Wahrheit und Legende, Westmächte
Allgemeines und besonderes Interesse am Krieg. —Sympathien und Antipathien. Verwirrung des Urteils in den westlichen Ländern, besonders in Amerika. — Russland als Vorkämpfer für Freiheit, Humanität und Menschenrechte. Miliukow, Zangwill, Gottheil. Historische Wahrheit und Legende. — In Galizien erwartete man seit Jahren den Angriff von Seiten Russlands. — Der Doppelmord von Serajewo. — Die Westmächte. — Welche Folgen hätte ein Triumph Russlands für die Juden in der ganzen Welt, besonders in Amerika? — Deutscher und russischer Antisemitismus. — Russlands Wandlung. — Nikolai Nikolajewitsch als Völkerbefreier. — Wie ergeht es den Juden in Russland seit Ausbruch des Krieges? — Metzeleien in Russisch-Polen. Verleumdung der deutschen Armee. Verleumdung der polnischen Nation. — Wie die Russen in Galizien und der Bukowina gehaust haben. — Nadwórna. — Der Zarismus in Galizien. Staatsreligion und geduldete Konfessionen. — Die Ochrana. — Russisch und Deutsch. — Vom Wesen des deutschen Militarismus. — Deutsche Selbstkritik. — Französische Friedensliebe. — Deutsche Friedensfreunde. Moltke als Pazifist. — Nietzsche. — Beleuchtung der diplomatischen Aktensammlungen der Entente-Mächte. — Der Krieg im Lichte der Ethik. Russlands sittliche Berechtigung. Wofür die Zentralmächte kämpfen. — Die französischen Motive. — Deutschland und England. — England als Schirmherr kleiner Nationen. — Kopenhagen 1807. — Das Unterhaus über Wesen und Zweck des Völkerrechts. — Belgiens Schicksal. Apologie der Belgier. Wer ist der Schuldige? — Repressalien. Französische Lehren. — Die deutschen „Barbaren". Zerstörung von Kunstwerken und Diebstahl von Kunstwerken. — Der Krieg im Lichte des gesunden Menschenverstandes. — Frankreichs großer Aderlass. — Englands falsche Rechnung. — Der Konkurrenz-Kampf. — Staatsmoral und Privatmoral. — Die Westmächte kämpfen für Russlands Vorherrschaft in Europa. — Ein Bild der Zukunft. Galizien. Die Zufluchtsstätte der Verfolgten. — Was die Juden zu erwarten haben. Folgen für Amerika. — Die Russifizierung der Welt. — Russlands Kulturarmut und deren Ursachen. — Der Pygmäenkrieg.— Was dieser Krieg kostet. Bankrott des Intellektualismus. — Die bösen Triebe. — Überhandnahme der Verrohung in der französischen und englischen Publizistik. — Die Bergsoniade. — Der Hassgesang. — Die Pflicht der Juden. — Der Friede als Schöpfung. — Schluss.

                              ***************************
Dieser Krieg, der größte und ungeheuerlichste, den die Weltgeschichte je gesehen, hat unter anderen Merkwürdigkeiten auch die, dass er tief in das Schicksal der Gesamtheit des jüdischen Volkes eingreift, wie kein Krieg je zuvor. Darum haben wir Juden allen Anlass, zu ihm nicht nur vom allgemein menschlichen Standpunkt, nicht nur als Bürger der Kriegführenden oder der neutralen Staaten, sondern außerdem auch noch als Juden Stellung zu nehmen, und uns von seinen Ursachen wie von seinen unvermeidlichen Folgen Rechenschaft zu geben. Von einer richtigen Beurteilung dieser Faktoren wird unser Verhalten abhängen und sie kann uns veranlassen, schwere Irrtümer und Missgriffe zu vermeiden, die für uns moralisch und praktisch verhängnisvoll werden könnten.

                                    ************************

Bei Kriegen ist gewöhnlich die Sympathie der Unbeteiligten klar und ausgesprochen auf der einen oder der anderen Seite, je nach ihrer Stammes-, Religions-, oder Kulturverwandtschaft, oder nach ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen. Während des japanisch -chinesischen Krieges stand die ganze zivilisierte Welt auf Seiten Japans, weil sie in diesem Lande eine Stätte europäischer Zivilisation sah, in China dagegen einen verrotteten, barbarischen Staat, der sich der modernen Bildung und den europäischen Wirtschafts- und Regierungsformen nicht eröffnen wollte oder konnte. Im Kriege zwischen Amerika und Spanien wünschte alle Welt den Amerikanern den Sieg, in der Überzeugung, dass sie die umstrittenen Inseln besser, freier und uneigennütziger regieren werden als das entfernte und kraftlose, stark zurückgebliebene Spanien. Im Buren krieg verfolgten alle Völker Europas und Amerikas mit leidenschaftlicher Teilnahme den heroischen und verzweifelten Kampf eines kleinen tüchtigen Stammes, der die Unabhängigkeit seines republikanischen Landes gegen die Herrschsucht und Ländergier eines ungeheuerlich übermächtigen Gegners verteidigte. Im russisch-japanischen Kriege wünschten nicht nur außerhalb Russlands, sondern unter den Russen selber alle unabhängigen und denkenden Elemente die Niederlage des Zarismus. Nur von einer solchen konnte man menschenwürdigere Zustände in Russland erhoffen. Und im jetzigen Kriege, stünden Österreich-Ungarn und Deutschland Russland allein gegenüber, so hätte die öffentliche Meinung des europäisch-amerikanischen Völkerkreises keine Mühe, für ihre Sympathien die Wahl zu treffen. Aber eine seltsame Verkettung der Umstände hat ein unnatürliches und perverses Bündnis zwischen Extremen herbeigeführt. Das absolutistisch regierte, auf der tiefsten Stufe europäischer Kultur stehende Staatswesen hat zu Waffengenossen die beiden freiheitlichsten Völker Europas, die seit jeher als Führer auf dem Wege jeglichen Fortschrittes, als Feinde und Bekämpf er der Tyrannei und der Finsternis galten. Die russische Regierung wird auch nicht müde, sich vor ihrem eigenen Volk und der ganzen Welt fortwährend auf ihre noblen, hoch kultivierten, fortgeschrittenen, liberalen Verbündeten zu berufen. Das hat auch das Urteil der neutralen Welt, insbesondere der England und Frankreich geographisch näher liegenden Länder, verwirrt. Man sagt sich: Wenn die Franzosen, deren Devise in der Politik und in der Gesetzgebung Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit heißt, sich den Russen verbunden haben; wenn England den siebenhundertsten Geburtstag seiner Magna Charta nicht besser feiern konnte, als indem es auf Seite des Zarismus trat, dann war Russland entweder nie das Land der Knechtschaft und der Finsternis, als welches vornehmlich Franzosen und Engländer es immer geschildert haben, oder aber, es hat im letzten Augenblick aufgehört, es zu sein, es ist in eine neue Haut geschlüpft und muss von nun ab als Sitz der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Fortschrittes angesehen werden. Denn es ist ja nicht denkbar, dass Frankreich und England diese höchsten Güter der Menschheit verraten hätten. Daraus folgt aber mit logischer Notwendigkeit, dass der Gegner, insbesondere Deutschland, als Feind der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit, der Gleichheit, des Fortschrittes und aller anderen erhabenen und edlen Prinzipien ist, und dass dessen Niederlage im Interesse der Menschheit gewünscht werden muss. Es wird also auch jetzt um die höchsten Güter der Menschheit gekämpft. Aber der Vorkämpfer dieser höchsten Güter ist . . . Russland, welches sie gegen Deutschland verteidigt. Vergessen ist auf einmal in der Kulturmenschheit, wie Russland die Polen seit 100 Jahren gepeinigt und unterdrückt hat; vergessen ist Finnland mit seiner tragischen Geschichte der letzten Jahrzehnte; vergessen ist Sibirien und die Behandlung der politischen Sträflinge; vergessen ist die Vergewaltigung der griechisch-unierten Kirche, die Ausrottung der ukrainischen Sprache, die Niedermetzelung streikender Arbeiter, die Peitschung wehrloser Frauen, das Niederkartätschen von Greisen, Weibern und Kindern am 22. Januar 1905 in Petersburg, vergessen sind die Gräuel der Gegenrevolution; vergessen sind die seit mehr als dreißig Jahren andauernden Pogrome, der Ansiedlungsrayon, die Schulgesetzgebung, und der ganze unerbittliche Vernichtungskrieg gegen die Juden; vergessen ist der Beilis-Prozess. Alles, alles, ist vergessen und vergeben. Russland ist der Vorkämpfer der Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit gegen den deutschen Militarismus und die deutsche Barbarei . . .

Und dabei steht es fest, dass Deutschland und Österreich es gewesen sind, welche diesen Krieg geplant und angezettelt haben, und auf sie allein fällt die Verantwortlichkeit für das grauenhafte Blutvergießen und die Verwüstungen zurück.

Es ist erstaunlich, was für eine Gewalt über unser kritisches und skeptisches Geschlecht die Phrase und der leere Schein haben.

Man wird deswegen manchem gebildeten und sonst dem Zarismus gegenüber sehr kritischen Russen beinahe verzeihen, dass er anfängt, Russland in diesem Kriege allen Ernstes als den Vorkämpfer der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Fortschrittes und der Kultur gegen Militarismus und Barbarei zu betrachten. Wenn die berufenen Autoritäten in diesen Fragen, die französischen und englischen Philosophen und Publizisten, ihm das seit Monaten tausendstimmig wiederholen, warum soll er am Ende nicht daran glauben? Zumal es so bequem und angenehm ist, daran zu glauben I Vor kurzem sagte ein russischer Fürst in London zu einem Auditorium von Journalisten: „Der letzte russische Muschik weiß, dass er jetzt gegen die Vorherrschaft der in Deutschland verkörperten Barbarei und des rohen Militarismus kämpft!" Der russische Muschik als Bekämpfer der Barbarei Deutschlands. Noch vor einem halben Jahre würde dem besagten russischen Fürsten ein homerisches Gelächter entgegengeschallt sein. Aber jetzt ist man schon dagegen abgestumpft. Und Herr Prof. Miliukow, Führer der Kadetten, ehemaliger Präsident der auseinandergejagten ersten Duma, sagte in einem Interview mit dem Korrespondenten des Mailänder „Secolo", Luciano Magrini: Bismarck war bekanntlich ein Erzreaktionär, der beste Beweis dafür ist, dass er — vor 35 oder 40 Jahren! — ein Bündnis mit Russland angestrebt hat. Deutschland ist von Bismarck geschaffen, folglich ist Deutschland erzreaktionär. Nun hat sich Russland mit Frankreich und England zum Vernichtungskriege gegen Deutschland verbunden, ergo bekämpft Russland die Reaktion; wer die Reaktion bekämpft, streitet natürlich für Fortschritt, Menschenrecht, Gerechtigkeit und Freiheit und noch viele andere schöne Sachen.

Das ist klar, wie der helle Tag.

Verschwägert sich der Rabbiner mit dem Bader, so hält sich der Bader für einen Rabbiner, sagt ein jüdisches Volkssprichwort.

Die Worte des Herrn Miliukow wurden in hervorragenden italienischen Blättern gedruckt, in französischen, englischen und sogar amerikanischen Blättern wiederholt, — und keiner machte irgendeine Bemerkung dazu.

So erstaunlich diese Verdrehung der öffentlichen Meinung ist, so jämmerlich die Schwäche und Betörbarkeit des menschlichen Verstandes dabei zutage tritt, noch viel erstaunlicher ist es, dass Juden und noch dazu in den neutralen Ländern, dieser Suggestion unterliegen konnten. Dem Mr. Israel Zangwill in London hat sein englischer Patriotismus freilich verboten, offen gegen den merkwürdigen Verbündeten seines Vaterlandes aufzutreten. Aber wer hat ihn gezwungen, den amerikanischen Juden Sand in die Augen zu streuen und ihnen zu erzählen, dass Russland jetzt an Englands Seite einen Krieg führe, um die Welt von dem furchtbaren Druck der deutschen Barbarei zu befreien, die sich in dem Ideal des „teutonischen Übermenschen" verkörpere? Und ist es nicht ein Frevel, den Juden vorzuspiegeln, dass dieser Krieg, wenn er mit einem Siege Russlands und seiner Verbündeten endigt, für die Glaubensgenossen in Russland den Beginn einer neuen, glücklicheren Epoche bedeute? Dass der Zar ihnen allerlei Freiheiten und sogar Gleichberechtigung verheißen habe?!

Und in einem angesehenen amerikanischen Blatt stand kürzlich zu lesen, dass Professor Richard Gottheil in verschiedenen Städten Amerikas Vorträge abhält, in denen er der Welt versichert, dass Russland „aus dem Bündnis mit den beiden größten demokratischen Mächten Europas moralisch und politisch verjüngt hervorgehen werde", dass es nach dem Siege seinen „Fremdvölkern", also auch den Juden, Freiheit und Gleichheit gewähren und „ihren wahren sozialen und nationalen Wert voll zur Geltung kommen lassen werde; die 350.000 Juden im russischen Heere werden nicht umsonst ihr Blut vergossen haben." Hiermit soll offenbar für den Bundesgenossen Englands Stimmung gemacht werden, indem man ihm im Voraus für seine zukünftigen edlen Taten Dank abstattet. Man gewährt ihm Kredit.

So bildet sich bei Zeiten eine Legende um diesen Krieg und seinen Ursprung, eine Legende, welche die Wahrheit mit einem dichten Schleier verhüllt und sie in ihr Gegenteil verkehrt. Eine Legende kann manchmal unschädlich sein, die Unwahrheit ist stets gefährlich.

Als Bewohner Lembergs, welches nur einige Eisenbahnstunden von der russischen Grenze entfernt ist, der Hauptstadt des von einer Million Juden bewohnten Landes Galizien, welches zum Kriegsschauplatz geworden ist und seit vielen Monaten die Invasion der Russen erdulden muss, habe ich die Lage und die Vorgänge vor und nach dem Ausbruch des Krieges aus der nächsten Nähe beobachten können. Ich habe jahrelang in Deutschland unter Deutschen gelebt und mir Mühe gegeben, das Wesen dieses Volkes kennen zu lernen. Nach beiden Richtungen hin habe ich, wie ich meine, manches zu sagen, was namentlich für meine Glaubensgenossen in den neutralen Ländern, besonders in Amerika, zu erfahren wichtig ist. Und das öffentlich zu tun und bekanntzugeben, halte ich für meine Pflicht.

In Galizien erwartete man seit Jahren den Angriff von Seiten Russlands

In Galizien, wo man die Vorgänge und Stimmungen in Russland viel besser beurteilt als im Westen, herrschte seit dem Ausgang des russisch-japanischen Krieges die allgemeine Überzeugung, dass Russland bei der erstbesten Gelegenheit Österreich-Ungarn Krieg ansagen würde; um einen Vorwand würde es nicht verlegen sein. Wir kannten die Maxime der russischen Politik: „der Weg nach Konstantinopel führt über Wien". Und da der russische Expansionsdrang nach dem fernen Osten so gründlich zurückgeschlagen wurde, musste er den Weg nach Konstantinopel wieder einschlagen. Vor der Hand war Russland allerdings sehr geschwächt. Aber seit der jungtürkischen Revolution und der Angliederung Bosniens und der Herzegowina an die habsburgische Monarchie rückte für uns die Gefahr eines russischen Krieges immer näher. Bedrohliche Symptome mehrten sich. Die russophile Agitation unter den Ruthenen Ostgaliziens bis nach Ungarn hinein wurde immer frecher und herausfordernder, Spionageprozesse häuften sich. Seit Beginn des Balkankrieges — Herbst 1912 — erwarteten wir jeden Augenblick den Ausbruch eines Konfliktes zwischen Russland und unserer Monarchie. In Ostgalizien, besonders in Lemberg, waren schon im Winter 1912/13 sehr zahlreiche Familien vollständig gepackt, zum Aufbruch nach dem Westen bereit. Obgleich Österreich-Ungarn sich vollkommen ruhig verhielt und wir in unserem Lande Galizien keinerlei besondere Kriegsvorbereitungen, wie Truppenbewegungen, Festungsbauten und dergl. bemerkten, lebten wir in fortwährender Erwartung des Krieges. Das Geschäftsleben stockte, die Bautätigkeit in den größeren Städten erlahmte, Gewerbe und Fabrikation wurden schwach, der Kredit versagte, der Zinsfuß stieg, der Unternehmungsgeist sank. Wohl wussten wir, dass Kaiser Franz Josef den Krieg verabscheute und fest entschlossen war. ihn um jeden möglichen Preis zu vermeiden, wohl wussten wir, dass unser Verbündeter, das Deutsche Reich, ebenso friedlich gestimmt war. Aber wir wussten auch, dass Russland in Serbien unaufhörlich schürte. Wir waren auch überzeugt, dass die Milliarden Frankreichs nicht zu harmlosen Zwecken nach Russland wanderten, und die plötzlich erwachte Freundschaft Englands zu Russland schien uns auch nicht das Zeitalter des ewigen Friedens zu verkünden. An der Hetze gegen Österreich in Serbien beteiligte sich England in hohem Masse. Wir erwarteten daher mit Bestimmtheit in der nächsten Zeit einen großen Krieg an unseren Grenzen.

                  Der Doppelmord von Serajewo

Das änderte sich, als am 28. Juni 1914 unser Thronfolger und seine Gemahlin in Serajewo ermordet wurden.

Das verhängnisvolle Ereignis rief zunächst eine ungeheure Erschütterung hervor. Die Teilnahme der ganzen Bevölkerung wendete sich dem alten Kaiser zu. Allgemein war man überzeugt, dass die grauenvolle Untat in Serbien geplant und vorbereitet worden war. Aber wir meinten alle, dass Serbiens Protektor im Norden den Mord erst in einem späteren Zeitpunkt gewünscht hat, etwa nach einem Thronwechsel in Österreich-Ungarn. Im gegenwärtigen Augenblick, dachten wir, käme das blutige Verbrechen der russischen Regierung sehr ungelegen, da es ihr unmöglich mache, in der Rolle eines Beschützers Serbiens vor der habsburgischen Monarchie aufzutreten, wenn diese dem bösen kleinen Nachbar die wohlverdiente Züchtigung würde applizieren wollen. Wie sollte der Zarenhof, der in der ganzen Welt als Hort der strengsten Legitimität, als Hüter des monarchischen Prinzips, als Repräsentant des absolutistischen Gottesgnadentums galt, und von dieser Geltung für seine Diplomatie die größten Vorteile zog — wie sollte dieser Hof sich auf Seiten der Königsmörder stellen? Wie sollte der Alleinherrscher aller Reußen, der seit Jahren täglich für sein Leben und für das seiner Familie und Kinder, für das Leben seiner Verwandten, seiner Minister und Generale zittern muss, jetzt vor aller Welt als Beschützer einer Mörderbande auftreten, die den Meuchelmord des künftigen Herrschers eines benachbarten Reiches von langer Hand vorbereitet und ausgeführt hat? An keinem Hofe der Welt muss wohl die Vorstellung von einem Fürstenmorde so viel grauenhafte und schauerliche Erinnerungen wecken, wie am Hofe Nicolaus II. Hieße es nicht, vor der ganzen gesitteten Welt seine eigenen Prinzipien verleugnen, sich selbst ins Gesicht schlagen, den Boden, auf dem man steht, mit eigener Hand unterhöhlen, wenn dieser Monarch jetzt einen Weltkrieg entfachen würde, um Fürstenmörder der verdienten Strafe zu entziehen? Nein! Russland kann jetzt keinen Krieg fuhren, folgerten wir, die Kugel des kleinen Tollhäuslers von Serajewo ist zu früh losgegangen und hat in die feingewobenen Pläne der russischen Diplomaten ein Loch geschossen. Der längst geplante Krieg, der die Donau-Monarchie zertrümmern und Russland über Wien den Weg nach Konstantinopel bahnen sollte, würde abermals auf Jahre hinaus verschoben werden müssen. Mittlerweile, so hofften wir, könnten andere politische Konstellationen eintreten, neue Männer ans Ruder kommen, und das große Blutvergießen, vielleicht auf ewig, vermieden werden. Das edle Blut des ermordeten Fürstenpaares wäre gleichsam als Sühnopfer für die europäische Menschheit geflossen . . .

So dachten wir. Und fromme Seelen fingen schon an, den Thronfolger und seine Gemahlin zu beneiden, denen es vergönnt war, mit ihrem Tode solches Unheil von den Völkern abzuwenden.

Noch als das Wiener Ultimatum an Serbien bekannt wurde, waren wir überzeugt, dass Russland seinen Schützling der verdienten Strafe nicht entziehen würde. Es würde erst eingreifen, wenn Österreich-Ungarn den niedergeworfenen Gegner ganz zerschmettern oder ihm Gebietsteile entreißen wollte; aber wir wussten, dass dies nicht in der Absicht unseres Kaisers lag. Damit wäre Russlands sogenanntes Prestige auf dem Balkan ohne Krieg genügend gewahrt.

Wir haben das Scham- und Ehrgefühl Russlands bedenklich überschätzt. Aber nicht nur wir schlichten Bürger eines Grenzlandes, sondern auch führende europäische Persönlichkeiten von sehr hohem Range haben denselben Fehler begangen.

1-001 Wilhelm II. Deutsche Kaiser

1-001 Wilhelm II. Deutsche Kaiser

1-002 Franz Josef I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn

1-002 Franz Josef I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn

1-003 General Helmut J. L. v. Moltke. Chef des Generalstabs der deutschen Armee

1-003 General Helmut J. L. v. Moltke. Chef des Generalstabs der deutschen Armee

1-015 Generalfeldmarschall Freiherr v. d. Goltz Gouverneur von Belgien

1-015 Generalfeldmarschall Freiherr v. d. Goltz Gouverneur von Belgien

1-023 Wilhelm, Kronprinz des deutschen Reiches

1-023 Wilhelm, Kronprinz des deutschen Reiches

1-024 Kronprinz Rupprecht von Bayern

1-024 Kronprinz Rupprecht von Bayern

1-025 Generaloberst Karl v. Bülow

1-025 Generaloberst Karl v. Bülow

1-026 Generaloberst Alexander v. Kluck

1-026 Generaloberst Alexander v. Kluck

1-027 Generaloberst Josias v. Heeringen

1-027 Generaloberst Josias v. Heeringen

1-028 Generaloberst Max Freiherr v. Hausen

1-028 Generaloberst Max Freiherr v. Hausen

12-017 Philipp Scheidemann, Redakteur und Mitglied des deutschen Reichstag

12-017 Philipp Scheidemann, Redakteur und Mitglied des deutschen Reichstag

B001 Delcassés neuer Ritt. Karikatur von Olaf Gulbransson. Simplicissimus. 1911

B001 Delcassés neuer Ritt. Karikatur von Olaf Gulbransson. Simplicissimus. 1911

B002 Karikatur von Th. Th. Heine. Simplizissimus

B002 Karikatur von Th. Th. Heine. Simplizissimus

B003 Die Lage Italiens. Französische Karikatur von Honoré Daumier auf die Oberherrschaft Österreichs über Italien. 1859

B003 Die Lage Italiens. Französische Karikatur von Honoré Daumier auf die Oberherrschaft Österreichs über Italien. 1859

B004 Französische Karikatur auf den König von Preußen. 1870

B004 Französische Karikatur auf den König von Preußen. 1870

1-005 Deutsche Hochsee-Torpedoboote

1-005 Deutsche Hochsee-Torpedoboote

1-009 18 cm Feldkanone der österreichisch-ungarischen Armee mit Bedienungsmannschaft

1-009 18 cm Feldkanone der österreichisch-ungarischen Armee mit Bedienungsmannschaft

1-010 Bosnische Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee auf der Rast

1-010 Bosnische Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee auf der Rast

1-011 Feldartillerie der serbischen Armee während des Aufmarschs

1-011 Feldartillerie der serbischen Armee während des Aufmarschs

1-012 Maschinengewehr-Abteilung der österreichisch-ungarischen Armee zum Angriff bereit

1-012 Maschinengewehr-Abteilung der österreichisch-ungarischen Armee zum Angriff bereit

1-013 Österreichisch-ungarische Monitore auf der Donau

1-013 Österreichisch-ungarische Monitore auf der Donau

1-016 Beispiele der ungeheuren Wirkung eines einzigen Geschosses der 42 cm Haubitze auf das Panzerfort Loncin der Festung Lüttich

1-016 Beispiele der ungeheuren Wirkung eines einzigen Geschosses der 42 cm Haubitze auf das Panzerfort Loncin der Festung Lüttich

1-017 Zerstörte Drahtverhaue und Barrikaden vor dem Fort Loncin der Festung Lüttich

1-017 Zerstörte Drahtverhaue und Barrikaden vor dem Fort Loncin der Festung Lüttich

1-018 Die eroberten belgischen Festungsgeschütze der Zitadelle von Lüttich

1-018 Die eroberten belgischen Festungsgeschütze der Zitadelle von Lüttich

1-019 Durch die deutschen Geschosse gesprengte und in die Luft geworfene Decken und Panzertürme des Forts Loncin der Festung Lüttich

1-019 Durch die deutschen Geschosse gesprengte und in die Luft geworfene Decken und Panzertürme des Forts Loncin der Festung Lüttich

1-020 Die Umwallung eines Forts von Lüttich nach der Einnahme

1-020 Die Umwallung eines Forts von Lüttich nach der Einnahme

1-021 Die Zitadelle von Namur von der Beschießung

1-021 Die Zitadelle von Namur von der Beschießung

1-022 Aus dem zerstörten Teil der Stadt Löwen

1-022 Aus dem zerstörten Teil der Stadt Löwen

1-029 Aus Longwy. - Das französische Tor

1-029 Aus Longwy. - Das französische Tor

Wk1 Artilleriebeobachter, Feuerleitung

Wk1 Artilleriebeobachter, Feuerleitung

Wk1 Britische Infantrie im Angriff beim Verlassen der Schützengräben

Wk1 Britische Infantrie im Angriff beim Verlassen der Schützengräben

Wk1 Das ist keine Szene aus dem antiken Griechenland, sondern aus dem modernen Frankreich

Wk1 Das ist keine Szene aus dem antiken Griechenland, sondern aus dem modernen Frankreich

Wk1 Das war die französische Stadt Bapaume

Wk1 Das war die französische Stadt Bapaume

Wk1 Das war ein Dorf

Wk1 Das war ein Dorf

Wk1 Deute Infantrie im Kampf mit einem britischen Panzer

Wk1 Deute Infantrie im Kampf mit einem britischen Panzer

Wk1 Deutsche Artillerie

Wk1 Deutsche Artillerie

WK1 Die Auszeichnung französischer Offiziere vor Verdun

WK1 Die Auszeichnung französischer Offiziere vor Verdun