Zwanzigste Fortsetzung

Mr. Zangwill hat uns verheißen, dass England Russland und die Russen zivilisieren werde; und Professor Richard Gottheil verkündet, dass Russland aus dem Bündnis mit den „zwei größten demokratischen Mächten Europas" politisch und moralisch verjüngt hervorgehen werde. Nun: diese veredelnde kulturelle Wirkung hat schon angefangen, Früchte zu tragen. In Frankreich herrschte bis zum Bündnis mit Russland eine lebhafte Sympathie für die Polen, welche ihrerseits seit Napoleon für Frankreich schwärmten und von ihm die Erlösung erhofften. Als Alexander II. zur Weltausstellung in Paris weilte, rief ihm auf seiner Fahrt zum Ausstellungspalast der nachmalige Ministerpräsident Floquet entgegen: „Vive la Pologne!" Der Zar blickte verdutzt auf, und Floquet wiederholte seinen Ruf: „Oui, Sire, vive la Pologne!“ — Unter Alexander III. gingen diese Sympathien ins Lächerliche über. Für ihr Vaterland kämpfende und leidende Polen wurden in Komödien und Schwänken als komische Figuren vorgeführt und verhöhnt. Heute heißt es in Paris: „Les Polonais sont des Russes qui n'ont pas d'argent." Auch der russische Antisemitismus wirkte in Frankreich ansteckend. Dass die ganze Dreyfus-Affäre auf russische Einflüsse zurückzuführen ist, unterliegt keinem Zweifel. Die wütendsten Revanchehetzer und Vorkämpfer der russischen Freundschaft sind in Frankreich auch die wüstesten Judenhetzer. Mit dem von Frankreich geborgten Gelde fütterte die russische Diplomatie die Pariser Presse bis hinauf zum „Temps". Die Haltung der großen Pariser Blätter während des Beilis-Prozesses war sehr merkwürdig und grundverschieden von jener während des Blutprozesses in Xanten (1892). Der „Temps" weigerte sich, den das Blutmärchen verdammenden Brief des französischen Bischofs Duchesne an einen jüdischen Freund zu publizieren mit der zynischen Begründung, dass er die russische Subvention von einigen hunderttausend Francs jährlich nicht einbüßen wolle. In Frankreich selber ist es bei der verschwindenden Anzahl der Juden technisch unmöglich, Pogrome zu veranstalten, dafür hält man sich an den Juden in Algier schadlos, wo regelrechte Drangsalierungen und Pogrome abgehalten werden.

Und in England? Im Sommer 1911 wurde in Süd-Wales ein richtiges Pogrom nach russischem Muster veranstaltet, und es ist festgestellt worden, dass dies durch russische Agenten mit russischem Gelde gemacht worden war. Die „Times" ist seit der Intimität mit Russland nichts als die englische Ausgabe des „Nowoje Wremja", nur ist letzteres Blatt ungleich roher und gemeiner im Ton, und es ist ein offenkundiges Geheimnis, dass sie aus derselben Quelle gespeist wird, wie ihr Pariser Namensvetter. Das Gleiche gilt von den andern Blättern desselben Konzerns; auch unter den englischen Intellektuellen macht sich eine antisemitische Stimmung geltend, die in gehässigen Schriften und Büchern sich austobt und für die nächste Zukunft nichts Gutes ahnen lässt.


Allein auch die Regierung hat sich, obwohl im Kabinett einige jüdische Minister sitzen, zu Schritten herbeigelassen, die ganz das Petrograder Gepräge an sich tragen. Nach der Ausrufung des „Heiligen Krieges" durch den Kalifen erließ der Gouverneur des Sudan an die arabischen Stämme eine Proklamation, in welcher er ausführte: der ganze Krieg sei von den Jungtürken angestiftet, welche einem aus Juden, Finanziers und niedrig geborenen Intriganten bestehenden Syndikat gehorchen, „syndicate of Jews, financers and low-born intriguers" — „in deference to the urgent demands of Germany" („Jewish chronicle". Zweite Januar-Nummer, nach der „Times"), das im Dienste Deutschlands gegen den besten Freund des Islam und des Moslims im geheimen kämpfe.

Man bedenke, dass der hohe englische Regierungsfunktionär damit die Juden des Orients der unversöhnlichen Feindschaft und der blutigen Rachsucht der Mohammedaner preisgibt.

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Als der berühmte russische Novellist Iwan Turgeniew zum ersten Male auf dem Forum in Rom stand, rief er aus: „Ein Fußbreit dieses Bodens hat für die Weltgeschichte mehr Bedeutung als ganz Russland!" Noch ungünstiger würde sein Urteil ausgefallen sein, wenn er die kulturelle Bedeutung seines Vaterlandes mit der seiner Gegner und Verbündeten verglichen hätte. Es ist keinem Menschen möglich, einen Gedanken zu denken, einer wissenschaftlichen Wahrheit sich bewusst zu werden, eines ästhetischen Genusses sich zu erfreuen, eine technische Erfindung zu benutzen, ohne auf deutsche, französische, oder englische Arbeit zu stoßen. Was aber hat Russland zu alledem beigetragen, dieses Russland, welches mehr als ein Zehntel der ganzen Menschheit knechtet, mehr als ein Sechstel der ganzen Erdoberfläche bedeckt und dessen unersättliche Tatzen ausgestreckt sind, immer mehr an sich zu raffen? An materiellen Gütern gibt es der Welt nur Rohstoffe und einige Lebensmittel; wir wissen aber, dass es davon hundertmal mehr und in besserer Qualität zu liefern vermöchte, wenn es Arbeit und Verkehr nach der Weise gesitteter Staaten organisieren könnte und wollte. Zum geistigen Schatz der Menschheit hat es so gut wie nichts beigetragen, bis auf einige wenige, noch dazu ungesunde poetische und mystisch-religiöse Schauer, die uns mehr verwirrt als gefördert haben. Die Russen erklären das damit, dass sie ein „junges Volk" seien. Aber wenn es ihnen passt, berufen sie sich auf das tausendjährige Alter ihres Staates; dabei vergessen sie, dass alle großen Kulturvölker ihr Bestes gerade in der Jugendzeit geleistet haben, und dass die Schöpferkraft eines Volkes sich darin äußert, dass es immer von neuem eine Jugendblüte erlebt. Indessen wäre es irrtümlich zu meinen, dass das russische Volk unfähig und zur Unfruchtbarkeit verurteilt sei. Dieser pessimistische, von vielen Russen gehegte Glaube — Oblomow prägte ihn in die Formel „improductivité slave" — ist sicherlich falsch. Aber die Regierung missbraucht die Kräfte des Volkes zu der widernatürlichen Aufgabe, immer mehr Länder zu erobern, um edle, hochentwickelte Völker zu unterjochen, und entzieht diese Kräfte jeder fruchtbringenden Arbeit. So ist Russland der Parasit der europäischen Kulturvölker, er nährt sich von ihren geistigen Erzeugnissen, ohne sie müsste es in der rohesten Barbarei verharren, es besitzt keine geistigen Werte, die seinen ungeheuren Besitz an materiellen Gütern einigermaßen rechtfertigen und seine unersättliche Machtgier entschuldigen könnten. Wie aber wird unsere Zeit in den Augen der Nachwelt den ungeheuerlichen welthistorischen Frevel beschönigen, dass die Schöpfer und Träger der edelsten und höchsten Kulturgüter einander zerfleischen, um Russlands Herrschaft zu erhöhen und dessen Bereich auszudehnen? Wenn einmal ein zukünftiger Historiker diese widernatürliche Erscheinung untersucht, wird er sicher bezweifeln, ob die Urheber des Bündnisses, die diesen Krieg entfacht haben, Kulturmenschen in europäischem Sinne gewesen sind.

Im Grunde aber sind alle diese Menschen und ihre Helfershelfer ringsherum in jeder Beziehung unbedeutende Geister, und die Maschinerie, mit deren Handhaben ihre Finger spielen durften, war seit Jahrzehnten immer komplizierter und furchtbarer geworden. Nun haben sie sie mutwillig in Bewegung gesetzt und gleich Kindern, die spielend einen Brand gestiftet, stehen sie fassungslos da, haben das Grauen in der Seele vor dem Unheil, welches sie angerichtet, und um sich zu betäuben, schreien sie und schimpfen und wälzen die Schuld auf andere.

Auch vor hundert Jahren durchtobten die Welt sinnlose Kriege, die Millionen Opfer hinwegrafften, Völker dezimierten und Länder verwüsteten. Aber der Würgeengel von damals war ein genialer Dämon, der die Menschen faszinierte und behexte. Während er sie zur Schlachtbank hetzte, gab er ihnen den großen Rausch, das unheimlich wollüstige Gefühl, einer gewaltigen, übermenschlichen Willenskraft zu gehorchen, die im Dienste geheimnisvoller Mächte stand. Wir aber haben die Öde, triste Erkenntnis, dass all das Herrliche, woran seit einem halben Jahrhundert die besten Geister Europas gearbeitet haben, von einigen pygmäenhaften Intriganten zerstört worden ist. Was ist das aber für eine Welt, auf der eine Handvoll eleganter, eitler Nullen, die zu Petersburg, Paris und London ihre Ränke spinnen, in ihren Busentaschen das Schicksal des Erdballs tragen?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden