Zweiundzwanzigste Fortsetzung

Eine der merkwürdigsten „Taten" in dieser Art hat der allermodernste Philosoph, Henri Bergson, vollbracht. Als Präsident der Académie des Sciences morales et politiques forderte er gleich nach Ausbruch des Krieges diese erlauchte Körperschaft auf, „wissenschaftlich zu konstatieren", dass der deutsche Geist zynisch und brutal, nur der Mechanik und dem methodischen Fortschritt der Organisation des Lebens ergeben sei; der französische dagegen sei voll „Ideen", als da sind: Rechte der Individuen und der Völker, Freiheit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Loyalität, Menschlichkeit, Barmherzigkeit. Mich hat das ganz besonders geschmerzt, nicht weil Bergson unter den deutschen Philosophieprofessoren sehr viele Bewunderer zählt und einen großen Teil seines Ruhmes Deutschland verdankt, sondern weil Bergson Jude ist. Es ist doppelt betrübend, wenn ein Jude sich zu solchen „patriotischen Taten" hinreißen lässt. Der Patriotismus fordert, dass man den Feind töte, aber nicht, dass man ihn verleumde und schände; er fordert, dass man sich für das Vaterland totschlagen, aber nicht, dass man sein Gewissen erdrosseln und abtöten lasse. Man muss in der Stunde der Gefahr der Regierung seines Landes in den Tod folgen, auch wenn man überzeugt ist, dass ihre Politik Wahnsinn und Verbrechen ist. Aber fordert der Patriotismus, dass man die Ehre des Feindes herabsetze und mit Kot bespritze? Hat das Gebot: „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten", seine Geltung verloren, wenn man gegen den Nächsten Krieg führt? Ich empfand eine aufrichtige Schadenfreude, als Bergson zum Dank von einem französischen Nationalisten den verdienten Fußtritt erhielt und daran erinnert wurde, dass er ein „Sohn von Fremden" sei und als solcher in den nationalen Schimpfchorus sich nicht hineinzumischen habe. Als ich einmal in einer deutschen Abhandlung über ihn las, dass er in England geboren sei, sagte ich mir: dieses Fleckchen England liegt ganz gewiss nicht weit von Berdytschew oder Kolomea. Große Begeisterung für seine Philosophie konnte ich trotzdem nicht aufbringen, ich fand, dass der Intuitionismus, die Unzulänglichkeit des Intellekts das Wesen der Welt zu begreifen, die Evolution créatrice, der Elan vital schon in unserer Kabbala des 13. und 15. Jahrhunderts, freilich nur mit den Ausdrucksmitteln jener Zeit, vorgetragen wurden. Unsere geistige Entwicklung haben diese schönen Konzeptionen nicht gefördert. Henri Bergson, von dem sein Akademiekollege Emile Faguet gesagt hat, er schreibe das schönste Französisch, stammt aus Warschau. Sein Vater, ein Musiklehrer, wanderte nach der Schweiz aus und kam von dort nach Paris. Der Sohn hat seine Ausbildung auf Kosten einer jüdischen Wohltätigkeitsgesellschaft unter dem Schutz des verstorbenen Großrabbiners von Frankreich, Zadok Kahn, erhalten. Das war gewiss der Grund, weshalb Bergson nie ein Wort der Teilnahme für die Juden in Russland und Polen fand. Das Tröstliche ist, dass er zwar mit seinem Fleisch und Blut, wohl auch mit seinem Intellekt, nicht aber mit seinem Welt- und Lebensgefühl vom Judentum herstammt. Das Vorgehen der zarischen Regierung und der französischen Politiker, welche Frankreich an sie verschachert haben, hatte in seinen Augen keine Spur von Zynismus an sich. Bergson wurde der Abgott der französischen Reaktionäre und Nationalisten, und war „une de nos gloires". Man jubelte, wenn deutsche Denker von ihm sagten, er sei unter der lebenden Philosophengeneration der stärkste Intellekt, oder ihn eine der bedeutendsten Erscheinungen im europäischen Geistesleben nannten und versicherten, seine Gedanken seien voll Originalität und werbender Kraft, und er habe für mancherlei wesentliche Bestrebungen, die in vielen von uns nach Ausdruck rangen, die europäisch gültige, eindrucksvollste Formulierung gefunden. Denn die deutschen Barbaren gelten in Frankreich, malgré tout, als die höchste Autorität in Sachen der Philosophie. Vermittels seiner Intuition hat nun Bergson Deutschlands Zynismus und Brutalität festgestellt, und auf einmal entdecken seine Bewunderer, dass er „ein Sohn von Fremden" sei und zu schweigen habe, wo echte Franzosen keifen. Judaeus taceat in ecclesia calumniatorum!

Dasselbe Schicksal erlitt der Dichter des so rasch populär gewordenen Hassgesanges auf England. Von Mr. Houston Stewart Chamberlain musste er sich sagen lassen, dass ein solcher Gesang nur von einem Juden verfasst werden konnte. Glücklicherweise ist in der Seele dieses Dichters nicht ein Fünkchen jüdischer Gefühlsart und jüdischer Weltanschauung. Er hat auch öffentlich bekannt, dass für ihn das Verschwinden des Judentums vom Erdboden höchst wünschenswert sei, und dass er dies schon für die nächste Zeitepoche erhoffe. Mehr als sechzig jüdische Personen habe ich befragt, und es waren unter ihnen viele, denen ein teurer Angehöriger von einer englischen Kugel entrissen worden ist: alle, ohne Ausnahme, haben die in diesem Gedichte zum Ausdruck kommende Gesinnung und Gefühlsweise entschieden abgelehnt, die meisten mit der Begründung: „das ist unjüdisch". Es ist natürlich und berechtigt, wenn das Verhalten eines Feindes wie England einen gesund empfindenden Menschen in wildem Zorn aufschäumen lässt. Und ein Dichter soll es sich gewiss nicht versagen, dieser Stimmung ungescheut kräftigen Ausdruck zu geben. Aber wer vom Geiste der Propheten beseelt ist, der kann nie den unversöhnlichen Hass verewigen. Die Propheten schleuderten die glühendsten Zornesworte gegen die Feinde und Vernichter ihres Volkes, aber ihre Hassgesänge klingen stets in der Hoffnung aus, dass die Menschen sich am Ende bessern und der Hass im Sonnenschein der göttlichen Gerechtigkeit und Güte dahinschwinden werde. Nicht Hass, sondern Frieden und Harmonie unter den Völkern zu stiften, das ist unsere Berufung.


Wir Nichtdeutschen, die wir lange unter den Deutschen gelebt und die Seele dieses Volkes aus seinen Schöpfungen idealer und realer Natur, aus den Äußerungen seines sozialen Lebens und seiner Arbeit kennen gelernt, haben die Pflicht, unsere Stimme laut zu erheben und gegen die Verleumdungen zu protestieren, die jetzt eine Welt von Feinden gegen dieses Volk schleudert. Insofern wir Juden sind, erfüllen wir nur das klare und schlichte Gebot der Bibel: „Du sollst nicht untätig dastehen, wenn das Blut deines Nächsten vergossen wird." Der Talmud bezieht das nicht nur auf das Vergießen des leiblichen Blutes, sondern, nach dem alten Sprachgebrauch, auch auf Verleumdung und Beschimpfung. Wir dürfen nicht zugeben, dass eine unsaubere und verlogene Legende das wahre Wesen und den innersten Charakter dieses Volkes vor der Welt verdunkele. Wir brauchen nicht blind zu sein gegen seine Fehler und Gebrechen, noch die Missgriffe und Irrwege seiner Regierung zu beschönigen. Aber Fehler und Gebrechen sind dazu da, durch immerwährende Selbsterziehung überwunden und in Tugenden und Vorzüge verwandelt zu werden; Regierungen vergehen, was bleibt, ist das Volk und der große Segen, der über die ganze Welt von ihm ausgegangen ist und ausgehen wird.

Der Friede ist nicht ein Passives, nicht nur Ruhe und Abwesenheit von Krieg, sondern ein Positives, eine Schöpfung, ein Element steter Wirksamkeit. Eines der Mittel zu seiner Verwirklichung ist die Wahrheit, die zur Gerechtigkeit führt. Wir wollen nach unseren schwachen Kräften dazu beitragen, dass zwischen den Völkern gegenseitige Erkenntnis, Aufrichtigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit herrsche. Dann wird dieser Weltkrieg vielleicht der letzte Krieg in der Welt sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden