Sechste Fortsetzung

Allein, wird man sagen, das alles sind Kriegsereignisse im Feindesland; wenn gesetzliche Zustände wiederkehren, werden die Völker unter dem neuen Herrn es besser haben als vorhin. Nun, auf die Richtigkeit dieser Behauptung haben die Ereignisse bereits das Exempel gemacht.

Als die russischen Truppen Anfang September 1914 Lemberg besetzten, depeschierte der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch an den Zaren: „Mit Hilfe des russischen Herrgotts habe ich an der Spitze der Armee Ew. Majestät die Polen und die Ruthenen vom Joche Österreichs befreit." Ach, wie schwer haben Polen und Ruthenen unter dem Joche Österreichs geseufzt! Sie waren belastet mit einem eigenen Schulwesen; Volksschulen, Bürgerschulen, Lyceen, Gymnasien, Realschulen, Handelsschulen, Gewerbeschulen, einer landwirtschaftlichen Akademie, einer Polytechnik, einer Universität, mit zahlreichen Privatschulen aller Grade und Arten. Ferner drückte sie eine ausgedehnte Gemeindeautonomie in Städten und Dörfern; sie brachen zusammen unter der Last eines allgemeinen gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zum Zentralparlament in Wien und eines nicht viel schwereren Wahlrechts zum Landtag in Lemberg, welches letztere kurz vorher im demokratischen Sinne reformiert worden war und nach welchem die Wahlen im Herbst 1914 stattfinden sollten. Überdies trugen sie schwer an dem Recht, autonome Bezirksausschüsse zu wählen. Nun hat sie der Zar von allen diesen Lasten befreit. Befreit zunächst von der allgemeinen Schulpflicht, denn alle Schulen wurden allsogleich geschlossen; befreit von der Koalitions- und Versammlungsfreiheit, denn alle Vereine und Verbände, sowohl philantropischer als kultureller Natur wurden allsogleich geschlossen. Geschlossen sind überall die polnischen und ruthenischen Nationaltheater sowie die jüdischen Volksbühnen, sogar Amateur vor Stellungen sind verboten, öffentliche Vorträge desgleichen.


Der Zar liebt keine Schulen, Schulen sind ihm Teufelswerk. Indessen sollen die Lehranstalten in Ostgalizien nicht für immer geschlossen bleiben, man verspricht, sie wieder einmal zu öffnen. Aber dann werden es nicht mehr polnische und ruthenische, sondern russische Schulen sein. Das Russische soll als Vortragssprache überall eingeführt werden, und sogar in den Volksschulen werden dieser Sprache mindestens sechs Stunden wöchentlich gewidmet werden.

Nun kommt das Merkwürdigste. Russland begründet seine Ansprüche auf Ostgalizien mit der Behauptung, dass diese Provinz ein urrussisches Land sei. Und in diesem urrussischen Lande versteht kein Mensch Russisch. Um Lehrkräfte zu beschaffen, wurden deshalb an fünf Ortschaften Kurse für die russische Sprache eröffnet, die etwa ein halbes Jahr oder mehr andauern sollen. In dieser kurzen Frist werden mehrere tausend perfekte Russen und Russinnen hergestellt werden. Das erinnert ein wenig an die Lehrbücher für Vergnügungs- und Handlungsreisende. In zwei Monaten perfekt Französisch, Englisch, Italienisch! Die Russen schätzen ihre eigene Kultur so gering ein, dass sie überzeugt sind, man könne sie sich in wenigen Monaten vollkommen aneignen. Alle Beamten, mit Ausnahme einer Anzahl Zivilrichter, wurden entfernt und an ihre Stelle ganze Scharen russischer Tschinowniks herbeigerufen, die sich mit der Bevölkerung gar nicht verständigen können, was sich namentlich im Verkehrswesen besonders fühlbar macht. Die Schilder über den Läden mussten alle russisch übermalt werden. Eine dünne russische Tünche wird über das ganze Land gestrichen, und die neuen Machthaber wollen sich vortäuschen, dass das Land nunmehr „urrussisch" sei.

Aber in diesem „urrussischen" Lande, für dessen „Wiedereroberung" hunderttausende Menschenleben geopfert worden sind, fehlt es an . . . Russen. Daher hat die russische Regierung beschlossen, aus Sibirien 300.000 russische Bauernfamilien nach Galizien zu transportieren und sie dort anzusiedeln. Um diesen Ansiedlern Raum zu schaffen, wird ein Viertel der Bevölkerung Galiziens von Haus und Hof verjagt werden müssen.

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Zwei neue Erscheinungen sind es besonders, mit denen die russische Invasion unser Land beglückt hat: die Staatsreligion und die Ochrana.

Unter dem drückenden Joch Österreichs waren in unserem Lande alle Religionsbekenntnisse gleich vor dem Staatsgesetz: der lateinische und der griechische Katholizismus, zu dem sich fast 90% der Landesbewohner bekennen, das Judentum, der Protestantismus, sogar die griechisch-orthodoxe Religion, der einige hundert von den acht Millionen Bewohnern angehören. Die Russen haben nun in Galizien die griechisch-orthodoxe Religion wie im eigentlichen Russland zur Staatsreligion proklamiert, der gegenüber alle anderen Bekenntnisse nur geduldet werden. Die griechisch-katholische Religion wurde einfach abgeschafft, ihr Oberhaupt, der Metropolit von Lemberg. Graf Szeptycki, einer der gebildetsten, geachtetsten und edelsten Männer des Landes, verhaftet und nach dem Innern Russlands in die Gefangenschaft verschleppt. Dasselbe Schicksal ereilte 400 griechisch-katholische Priester, welche sich weigerten, ihr Bekenntnis abzuschwören und die neue Staatsreligion anzuerkennen. Ein orthodoxer Erzbischof aus Russland kam nach Lemberg, nahm die prachtvollen Kathedralen und Kirchen der Ruthenen für seine alleinseligmachende Staatsreligion in Besitz, Hess dort Gottesdienste in seinem Ritus abhalten und erklärte die der griechisch-katholischen Kirche gehörigen Domänen als Eigentum des russischen Staates. Die arme ruthenische Bauernbevölkerung wird nun mit „Milde und Wohlwollen" nach der bekannten russischen Methode, nämlich mit den beiden russischen Hauptmitteln: dem Rubel und der Knute in den Schoss der heiligen allrussischen Kirche „zurück geführt". Die römisch-katholischen Kirchen und Kapellen in Ortschaften mit einer römisch-katholischen Minorität wurden einfach geschlossen.

Und nun die Ochrana! Jeder Kulturmensch erschauert bei Nennung dieses Namens. Die russische geheime Polizei, deren Treiben Burzew von Paris aus der ganzen Welt enthüllt hat, ist womöglich noch verwerflicher und niederträchtiger als es die spanische Inquisition gewesen ist. Sie depraviert systematisch den Charakter des russischen Volkes, züchtet in den breiten Massen Heuchelei, Lüge, Verrat, Doppelzüngigkeit und Denunziantentum. Ihre Werkzeuge und Kreaturen sind unzweifelhaft die gemeinsten und bösartigsten unter allem, was Menschenantlitz trägt. In kommenden Zeiten wird man nicht begreifen, wie europäische Regierungen mit einem Staate als ihresgleichen verkehren konnten, der eine solche Pflanzstätte moralischen Giftes hegte und pflegte und deren Gewächse zu meinen stärksten Stützen zählte. Diese Ochrana haben wir heute in Galizien! Die Prügelstrafe wurde eingeführt und hat schon mehrere Todesopfer gefordert.

In hellen Haufen hat die russische Regierung Geheimpolizisten nach Galizien geschickt, wo sie sich in allen möglichen Verkleidungen horchend und provozierend unter die Bevölkerung mischen. Wehe, wenn jemandem ein den Russen missfälliges Wort entschlüpft. Es erwartet ihn Verschickung, hohe Geldstrafe, Zuchthaus oder leibliche Züchtigung. In den Restaurants und Volksspeisehäusern wurden deshalb Warnungen für das Publikum angeschlagen: „Aus hygienischen Gründen werden die Gäste gebeten, jedes politische Gespräch zu vermeiden!“ Das ist der Vorgeschmack der russischen Herrschaft, den die unglücklichen Bewohner der okkupierten Gegenden Galiziens und der Bukowina zu verspüren bekommen.

Der russische und der französische Staatsbegriff bilden die denkbar schroffsten Gegensätze. Der russische gründet sich auf Absolutismus, Gewaltherrschaft, Unterdrückung, der französische auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Unter den 162 Millionen russischer Untertanen bildet der dritte Teil, nämlich etwa 55 Millionen großrussischer Bekenner der orthodoxen Religion die herrschende Bevölkerung; alle anderen, auch wenn sie der Sprache nach Russen sind, wie ein beträchtlicher Teil der Juden, oder die 35 Millionen Kleinrussen, die sich zu dem orthodoxen Glauben bekennen, aber ihre eigene Sprache sprechen, gehören zu den unterworfenen „Fremdvölkern", und werden nur geduldet, in der stillschweigenden Voraussetzung, dass sie schließlich im orthodoxen Großrussentum ganz aufgehen werden. In Frankreich hat man das Bekenntnis aus dem Staatsleben ganz ausgeschaltet. Keinem Franzosen fiele es ein, die Bewohner der Bretagne oder die Südfranzosen oder Korsen als Staatsbürger minderen Rechts zu behandeln, weil ihre Sprache von der der Islede-France verschieden ist. Jeder Franzose würde sich vor Ekel und Abscheu schütteln, wenn ihm zugemutet würde, in seinem Vaterlande eine Institution wie die Ochrana, oder die Prügelstrafe, zu dulden. Vor mehr als 120 Jahren zogen die französischen Revolutionäre unter den Klängen der Marseillaise aus, um gegen die Tyrannen zu kämpfen und die Völker vom Joche des Absolutismus zu befreien, und die französischen Historiker werden nicht müde, uns zu beweisen, dass alle heute auf dem Kontinente vorhandene konstitutionelle Freiheit in direkter Linie von jenen Vorkämpfern herstamme. Und nun lässt Frankreich hunderttausende seiner Söhne zur Schlachtbank führen, damit der Alleinherrscher aller Reußen seine Knute über halb Mitteleuropa schwingen kann, damit Völker, die seit Jahrzehnten eine immerhin nicht ganz zu verachtende Freiheit gemessen, ihren Nacken unter das Joch einer asiatischen Knechtschaft beugen! . . . Allons enfants de la patrie . . . le jour de la gloire est arrivé!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden