Siebzehnte Fortsetzung

Und wieder kann man nicht umhin, den ethischen Maßstab an die Frage zu legen. Englische Soziologen waren es, welche die Ähnlichkeit zwischen dem Staat und dem Individuum in Bezug auf den Verlauf der Entwicklung betonten. Darüber kann man streiten, jedenfalls hat der Staat die für das Individuum verpflichtenden Moralgebote nicht zur Richtschnur seines Handelns gemacht. Namentlich in England ist die Emanzipation des Staates von der für jeden gemeinen Sterblichen geltenden Ethik so weit gegangen, dass dort das Wort: „Right, or wrong, my country!" geprägt werden konnte. Auch der infame Satz: „Private vices, public benefits" stammt von einem Engländer, Mandeville. Im Interesse des Gemeinwohls vermeinte der Staat, Dinge tun zu dürfen, die den Einzelnen für sein Leben ehrlos machen oder gar mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt bringen konnten. Aber dieser Widerspruch zwischen der staatlichen und der privaten Moral wird immer unerträglicher. Wir fühlen alle, dass wenn die erstere zu schlecht ist, die letztere notwendig depraviert werden muss. Der Einzelne sagt sich: Vater Staat tritt als Wächter der höchsten Güter der Tugend auf und maßt sich das Recht an, mich der Freiheit zu berauben, an Ehre und Gut zu schädigen oder gar mit dem Tode zu bestrafen für Dinge, deren er seinesgleichen gegenüber ohne Skrupel sich schuldig macht, und wenn sie gelingen, als höchst verdienstilch und lobenswert sich anrechnet. Ein Missionar bereitet einen Zulukaffer zur Taufe vor; er unterrichtet ihn ein Jahr lang in der Morallehre; als er ihn genügend vorbereitet wähnt, nimmt er mit ihm eine Prüfung vor. „Kennst du den Unterschied zwischen gut und böse, mein Sohn?" — „Jawohl." — „Was ist böse?" — „Wenn mein Nachbar mir meine Frau stiehlt." — „Schön, mein Sohn. Und was ist gut?" — „Wenn ich meinem Nachbar seine Frau stehle." — — Wenn England die Lebensmittelzufuhr nach Deutschland abschneiden will, so kämpft es ehrlich für seine Lebensinteressen; wenn Deutschland dasselbe England gegenüber tut, so „treibt es Seeräuberei". Das ist Kaffernmoral. Darf aber ein Staat es als „gut" ansehen, wenn er seinem Nachbar das antut, wovon er nicht will, dass es ihm selbst geschehe? Der Staat sagt: das Gemeinwohl fordere es und darum dürfe er es tun. Was ist Gemeinwohl anders als das Wohl der Bürger oder auch nur einer kleinen Anzahl reicher und mächtiger Bürger?! Ich bin ein Bürger. Wenn ich nun finde, dass mein Wohl es erfordert, warum soll mir verwehrt sein, genau dasselbe zu tun, was der Staat für mein Wohl als erlaubt und sogar als lobenswert bezeichnet? Das Mindeste, was man verlangen kann, ist, dass die von den Staaten gegeneinander im Interesse des Gemeinwohls verübten Treulosigkeiten, Gewalttaten und Verbrechen eine gewisse Grenze nicht überschreiten und das natürliche Gefühl für Recht und Billigkeit nicht allzu schroff und zynisch verletzen. Solange es sich um sogenannte höhere politische Interessen handelt, die über das Niveau des gemeinen Mannes hinausgehen und sich mit einem mystischen Nebelschleier verhüllen lassen, geht das noch halbwegs an. Wenn aber ein Staat aus einfachem Neid gegen einen erfolgreichen Konkurrenten in Handel und Industrie den Vernichtungskampf führt, und alle Mittel, auch die Aushungerung der Zivilbevölkerung, in diesem Kampfe für statthaft erklärt, um den Gegner von Grund aus zu vertilgen, so heißt das nicht mehr „Right, or wrong, my country", sondern „my business". Was soll da den privaten Geschäftsmann abhalten, einem unbequemen Rivalen den roten Hahn aufs Dach zu setzen, den Brunnen zu vergiften, ihm durch Meuchelmörder auflauern zu lassen — oder ihn durch Tücke, Verrat und Meineid zu verderben? Im Kampfe um nackte materielle Interessen darf die ultima ratio heutzutage auch zwischen den Staaten nicht mehr die brutale Gewalt allein sein. Das verträgt das moralische Empfinden des modernen Menschen nicht. Wo aber ein solches Prinzip herrscht, ist es unausbleiblich, dass sich dessen Rückwirkung auf die Privatmoral in einem Sinken der Redlichkeit im Verkehr von Mensch zu Mensch, in einem Verschwimmen der Grenzen zwischen Recht und Unrecht äußert. Ich glaube fest, dass im englischen Volke ethische Kräfte genug schlummern, die eine solche Abstumpfung des sittlichen Empfindens für die Dauer sich nicht werden gefallen lassen. Wenn diese Kräfte einmal erwachen, wird das englische Volk mit den jetzigen Lenkern seiner Politik strenge Abrechnung halten. Nicht Ruhmeskränze werden es sein, die man ihnen flechten wird. Es wird nichts nützen, sich herauszureden, dass es unmöglich war, mit dem deutschen Konkurrenten eine Verständigung zu finden. Wenn man die Theorie der Quaternionen ersinnen, das Argon entdecken, Wunderwerke der Technik konstruieren, scharfsinnige philosophische Systeme ausbauen, die südliche Eisregion erforschen konnte, so hätte man mit einigem guten Willen und einiger Anstrengung doch wohl auch eine Formel für ein friedliches Auskommen mit den Deutschen finden können.

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Und der Zeitpunkt der Ernüchterung rückt für die Westmächte immer näher. Die Rechnung auf den russischen Freund hat schon eine bittere Enttäuschung gebracht. Der Zarismus hat seine militärische Minderwertigkeit wieder einmal glänzend bewährt. Nur gegen wehrlose Juden und geknebelte Finnländer kann er Krieg führen. Aber gegen die Zentralmächte ist seine Offensive schmählich zusammengebrochen und zwar trotz der ungeheuren zahlenmäßigen Übermacht, trotz dem französischen Gold und trotz der reichen Erfahrungen des japanischen Krieges. Dass Galizien überflutet werden konnte, ist gewiss auch auf strategische Ursachen zurückzuführen, allein in erster Linie verdanken die Russen das dem großartigen, bisher nie dagewesenen Verrat der Russophilen. Der Verrat ist die einzige Waffe, in der Russland alle Militärmächte Europas bei weitem übertrifft. Der Zarismus hat sich nicht gescheut, einen ganzen Stamm, auf dessen Religions- und Blutsverwandtschaft er sich fortwährend beruft, systematisch durch die niedrigsten Mittel zu depravieren.

Massenhafte Geldbestechung und das Versprechen, den Grundbesitz des Adels, der Kirche und der Juden unter die Bauern zu verteilen, verleitete die dunklen und minderwertigen Elemente unter den ungebildeten und leicht betörten Schichten zum Verrat gegen den Kaiser, dem sie alles verdanken, von der Befreiung aus der Leibeigenschaft bis zum allgemeinen Wahlrecht, und gegen den Staat, in dem sie sich zur bürgerlichen Freiheit und zum Wohlstand entwickeln durften. Die Perfidie dieser Elemente hat auf den Charakter des ganzen ruthenischen Volkes in den Augen Europas einen dunklen Schatten geworfen. Sehr mit Unrecht! Dieses begabte, schlichte, rastlos emporstrebende Volk war jahrelang die Zielscheibe gewissenloser, in der russischen Ochrana geschulter Agitatoren, welche die von der österreichischen Verfassung gewährleistete Gewissensfreiheit missbrauchten, um unter dem Mantel einer religiösen Propaganda für die orthodoxe Kirche, Spionage und Verrat zugunsten des Zaren zu treiben. Die Straflosigkeit der Agitatoren erhöhte ihre Keckheit und verwirrte die ruthenische Bauernschaft. Jetzt posaunen noch die Russen aus, „das ganze ruthenische Volk in Galizien habe ihnen zuliebe seinen Kaiser verraten". Sie haben eine ganze Nation in Verruf gebracht, ein unverhülltes Beispiel perfider und nichtswürdiger Kriegführung gegeben, deren ganze Scheußlichkeit den westlichen Verbündeten erst später zum Bewusstsein kommen und den Völkern die Schamröte ins Gesicht treiben wird.

Und doch hat das alles nichts genützt; trotz der Aushungerung von Przemysl hat die russische Flut sich gebrochen, trotz der ungeheuren Menschenopfer, die Russland in wahrhaft barbarischer Weise gebracht hat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden