Erste Fortsetzung

Dass Frankreich sich auf Russlands Seite stellen würde, war keinem von uns zweifelhaft. Zwanzig Milliarden und Revanche, diese beiden Worte sagten Alles. Wir erinnerten uns, dass dem Ausbruch des Balkankrieges ein Besuch Poincares in Petersburg vorangegangen war, und nun erschien uns die abermalige Reise des französischen Präsidenten nach der russischen Hauptstadt im wahren Lichte. Aber England? Wir wussten, dass eine Entente cordiale zwischen diesem und Russland bestand, eine Frucht der Einkreisungspolitik König Eduards gegen Deutschland. Aber würde England im Bunde mit Russland gegen die beiden mitteleuropäischen Mächte in den Krieg ziehen? . . .

Ein jüdisches Sprichwort sagt: „Jeder weiß, dass er sterben muss, aber keiner glaubt daran." Wir wussten — aber wir glaubten nicht, wollten nicht glauben, dass England im Ernstfalle sich mit Russland zu blutigem Handeln verbünden würde. Optimisten hofften sogar, dass Englands Stellungnahme Frankreich zurückhalten würde; dann käme es lediglich zu einem Waffengang zwischen Russland und dem Zweibund. So stark war in uns allen der Glaube an England als europäische Kulturmacht, für welche Humanität und Gerechtigkeit zu den höchsten Interessen gehören. Man ist bei uns mit Englands Kolonial- und Kriegsgeschichte sehr wohl vertraut. Wir wussten wohl, wie z. B. Warren Hastings in Indien gewirtschaftet hat; jeder Primaner weiß, was 1807 in Kopenhagen geschehen ist; ältere Leute erinnern sich noch der Beschießung von Alexandrien, und die jungen Mädchen erschauern noch heute bei der Erinnerung an den Burenkrieg und die Konzentrationslager und all die andern Dinge, die damals am Cap geschehen sind. Aber all das liegt teils mehr als 100 Jahre zurück, teils hat es sich weit hinten in Afrika abgespielt. Es war unserm Bewusstsein nicht gegenwärtig. Dagegen kannten wir das geistige England: die englischen Philosophen und Dichter, — fast ausschließlich aus deutschen Übersetzungen — die englische Wissenschaft und Technik. Und wir waren überzeugt, dass es allein vom Verhalten Englands abhing, ob dieser Krieg eine zwar schwere, aber nicht unüberwindliche Krise für die europäische Völkergemeinschaft, oder ein Weltbrand ohnegleichen werden sollte.


Darum wirkte die Kriegserklärung Englands wie ein Keulenschlag auf uns. Nicht, als ob wir die kriegerische Bedeutung Englands übermäßig eingeschätzt hätten. Wir meinten, dass in diesem Krieg die Entscheidung nur auf dem europäischen Festland fallen könne. Aber, dass England zugunsten Russlands eingriff, — das war es, was uns als ein Bankrott aller Gesittung erschien, als der Zusammenbruch aller Hoffnungen auf eine Verständigung der Völker, um die Ideale der Humanität und der Kultur zu verwirklichen. Nie im Leben werde ich diesen Tag vergessen, er war für mich und meine Freunde einer der schwersten in diesen grauenvollen Monaten. Ich weiß wohl, dass Englands Staatsmänner auf die Gefühle der Bewohner einer österreichischen Ostprovinz nicht das geringste Gewicht legen. Aber ich weiß auch, dass diese unsere Gefühle von sehr vielen Millionen, Männern und Frauen in der ganzen Welt, sogar in Russland, geteilt werden und immer stärker, immer klarer zum Durchbruch gelangen. Am Ende verlohnt es sich vielleicht doch, zu bedenken, ob Englands Macht in der Welt nicht zu einem sehr großen Teil auf der Vorstellung beruhte, die der denkende und führende Teil der Kulturmenschheit von ihm hatte, und die nun unwiederbringlich dahin ist.

Man täusche sich nicht. Einem Staat, wie Russland kann man vieles verzeihen, weil man so wenig von ihm erwartet und fordert. Und man kann hoffen, dass, wenn er eine höhere Stufe der Zivilisation erklommen haben wird, auch seine Wege sich ändern werden. Kann man aber England auf einer noch höheren Stufe denken, als die jetzige? Rühmt England sich nicht stets, dass es in der ganzen Welt in Gesittung und Bildung voranschreite? Und nun hat es sich zum Helfershelfer des schroffsten und rücksichtslosesten Absolutismus und der brutalsten Unterdrückung gemacht . . .

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Mittlerweile fingen wir Juden Galiziens an, die Vorgänge auch von unserem spezifisch jüdischen Standpunkt zu betrachten. Und da mussten wir uns sagen: Wenn schon der Krieg an sich für uns ein ungeheures Unglück bedeutet, so ist die Gruppierung der kriegführenden Mächte der härteste Schlag, der uns überhaupt treffen konnte. Das Prinzip der bürgerlichen Gleichberechtigung im Staate, ein Prinzip, welches nach 150jährigen Kämpfen endlich die allgemeine Anerkennung der Kulturwelt gefunden, ist ernstlich bedroht. Denn die beiden Staaten Europas, in denen die Gleichberechtigung endgültig und auf breitester Basis durchgeführt worden ist, werden von dem Staat, der diesem Prinzip hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt, auf Tod und Leben bekämpft, und das geschieht unter Patronanz der und im Bunde mit den „beiden größten demokratischen Mächten Westeuropas", die die Freiheit des Individuums und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz auf ihre Fahne geschrieben. Gelänge es Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn zu zertrümmern, ihnen die östlichen Provinzen, wo die meisten Juden wohnen, zu entreißen, und ganz Europa den Stempel der russischen „Kultur" und der russischen Gesetzgebung aufzudrücken, so wäre der Traum, einmal die Juden in allen Staaten der Welt den nichtjüdischen Bürgern gleichzustellen, für immer begraben.

Es hat nämlich nicht viel zu sagen, dass die Juden in Frankreich, England und Italien viel früher als in Mitteleuropa die Gleichberechtigung errungen haben: in diesen Ländern bilden die Juden eine verschwindende Minderheit, gehören überdies fast ausschließlich den wohlhabenden und gebildeten Klassen an; ihr Dasein macht sich im öffentlichen Leben kaum bemerkbar. In Amerika war die Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied des Stammes und der Konfession etwas Selbstverständliches. Dieser junge, mächtig emporblühende Staat schleppte keinen Ballast veralteter Institutionen und überlebter Vorurteile mit sich; ihn „störte nicht im Innern zu lebendiger Zeit unnützes Erinnern und vergeblicher Streit" (Goethe). Das Land konnte gleich mit dem Besten beginnen, was die Entwicklung bot: Freiheit und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, Parlamentarismus, Wählbarkeit des Staatsoberhauptes. Keine Menschengruppe war dort älter und erbgesessener als die andere; alle hatten in gleichem Masse am Aufbau des Vaterlandes gearbeitet. Wie sollte da jemandem einfallen, die Rechte gerade der Juden einzuschränken? Die ungeheure Ausdehnung und der unerschöpfliche Reichtum des Landes Hessen Brotneid und Eifersucht unter den Bürgern nicht aufkommen. Man
brauchte einem andern den Platz nicht streitig zu machen. Jeder fleißige und tüchtige Arbeiter war willkommen.

Anders in den beiden mitteleuropäischen Reichen, wo über drei Millionen Juden, ein Drittel der gesamten Judenheit Europas, leben, in dichten Massen nebeneinander wohnen; wo schwere eingewurzelte religiöse und Rassenvorurteile überwunden werden mussten, um dem modernen Staat Raum zu schaffen. Wenn in diesen Ländern die Juden sich seit beinah einem halben Jahrhundert immer mehr und sicherer als Vollbürger fühlen dürfen, so ist das eine wahrhaft wertvolle Errungenschaft, wertvoll vom Standpunkte der Humanität und der Kultur, für uns Juden aber ganz unschätzbar.

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Diesen beiden Staaten gegenüber steht nun Russland, welches von ihnen die neuesten Errungenschaften der Technik, des Verkehrs, des Handels und des Finanzwesens sich ausborgt, aber sich hartnäckig weigert, seinen 5 — 6 Millionen Juden auch nur einen Schein von Freiheit oder bürgerlicher Gleichheit zu gewähren. Dort sind die Juden von dem weitaus größten Teil des riesigen Landes verbannt, in der Entwicklung ihrer intellektuellen und wirtschaftlichen Tätigkeit auf das äußerste Minimum beschränkt. Der russische Staat führt gegen seine Juden den offen eingestandenen Vernichtungskrieg. Die Maxime lautet: ein Drittel soll totgeschlagen, ein Drittel ausgehungert, und ein Drittel verjagt werden. Seit mehr als 30 Jahren ist der Pogrom mit Massenmord, Raub, Plünderung, Brandstiftung, Schändung als stetiges legislatives und administratives Mittel zur Erreichung dieser Zwecke eingeführt worden, und wird immer unbarmherziger angewendet.

Was würde nun ein Triumph Russlands anders bedeuten als einen totalen Bankrott der Gleichberechtigung der Juden!? Einen Bankrott, um so demütigender und verderblicher, als ihn die „beiden größten demokratischen und freiheitlichen Mächte Europas" gutgeheißen, besiegelt und herbeigeführt hätten!? Daraus würde die historisch denkwürdige Lehre fließen, dass Freiheit und Gleichheit wohl sehr hohe Guter seien, auf die alle Menschen Anspruch hätten, nur nicht die Juden. Frankreich und England haben dekretiert, dass die Juden Osteuropas nicht würdig seien, der Freiheit und der Gleichheit, ja, der primitivsten Bürgerrechte teilhaftig zu werden, Frankreich und England haben gegen Mitteleuropa Russland recht gegeben — Russland, welches seine Juden auf menschenunwürdige Weise peinigt und ausrottet. Und Frankreich und England müssen es wissen; denn Frankreich und England sind die Stammländer der Freiheit und der Gleichheit! Es wurden also nicht nur die Juden Russlands alle Hoffnung verlieren, jemals ein menschenwürdiges Dasein fuhren zu können, sondern auch die mitteleuropäischen Juden, die seit einem halben Jahrhundert sich bürgerlicher Rechte erfreuen, würden entrechtet, in die mittelalterlichen Zustände, wie sie jetzt nur noch in Russland herrschen, zurückgestoßen werden.

Das wäre die schrecklichste Niederlage und die schwerste Demütigung, die der ganze jüdische Stamm in der Welt erleiden könnte, viel schwerer, als die schwersten Leiden und wirtschaftlichen Verluste, die ihm der Krieg jetzt bereitet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden
B005 Die Beiden Könige des Schreckens. Napoleon I. und der Tod. Farbiger Kupferstich von Thomas Rowlandson auf die Volkerschlacht bei Leipzig 1814

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B006 Der Nordische Koloss. Französiche Karikatur von Honoré Daumier auf Kaiser Nikolaus I. und den Krimkrieg. 1854

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B007 Die englische Klaue. Französische Karikatur von J. Laurian. 1899

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B008 Der Korse und seine Bluthunde schauen von einem Balkon der Tuilerien auf Paris hinab. Symbolische Karikatur von Thomas Rowlandson auf Napoleon I. 1815

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B009 Die Bluternte von 1870. Französische Karikatur von Faustin. 1871

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B010 Der Totenwagen. Aus dem Burenkrieg. Kohlezeichnung von Max Slevogt

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B011 Die Vertreter der Zivilisation auf dem Weg nach Paris. Französische Karikatur auf den Einzug der Russen in Paris. 1815

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B012 Preußischer General. Französische Militärkarikatur von Draner. 1862

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B013 Münchner Scheibenbild auf Napoleon III. 1870

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B014 Feiglinge. Das besiegte Griechenland. Fränzösische Karikatur von Pupett auf den griechisch-türkischen Krieg. 1897

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B015 Die Macht. Symbolisch-satirische Steinzeichnung von Alfred Kubin

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B016 Die Fastenmahlzeit des Mars. Französische Karikatur von Honoré Daumier auf die allgemeine Kriegsrüstungen. 1869

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B017 Die apokalyptischen Reiter. Symbolisch-satirischer Holzschnitt auf den Krieg von Albrecht Dürer

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B018 Preußischer Infantrist. Felddienstausrüstung. Französische Militärkarikatur von Draner. 1862

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B019 Der großmütige Verbündete. Englische Karikatur von James Gillray auf den Kaiser Paul von Russland und seinen Vertragsbruch gegenüber England.

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B020 Menelik II., König der Könige Äthiopiens und Besieger Italiens. Französische Karikatur von C. Leandre. Le Rire

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