Vierzehnte Fortsetzung

Die Deutschen haben wegen des Franktireur-Kriegs über viele Ortschaften Belgiens furchtbar Gericht gehalten. Noch mehr als die Belgier selber verbreitete die englische und französische Presse über die ganze Welt bis in die fernsten Ecken und Enden Schauergeschichten von den „Gräueltaten deutscher Soldaten". Das weckte ein tausendstimmiges Echo, fand besonders starken Widerhall in Amerika, und überall bildete sich eine immer stärker auftretende Legende, die Deutschen seien von Natur grausam und „ihr Gemüt in Friedenszeiten ebenso hart und lieblos, wie blutdürstig im Kriege". Das begründete nur noch mehr die Berechtigung dieses Krieges, der zur Niederwerfung der „deutschen Barbaren" durch die Westmächte im Verein mit Russland geführt werde.

Wer lange unter Deutschen gelebt hat, wusste ganz genau, was er von den Märchen über aufgespießte belgische Kinder, geschändete Mädchen, ausgestochene Augen und dergleichen zu halten hatte. Das alles hörte sich an, wie der Bericht über einen russischen Pogrom in der Judengasse — und war zweifellos auch davon entlehnt. Damit sollten auch vor der Welt die immer mehr bekannt gewordenen Untaten des östlichen Verbündeten in einem milderen Lichte erscheinen. Seither sind alle diese Erzählungen im Lichte der von neutraler, besonders amerikanischer Seite geführten Untersuchungen und Zeugenverhöre in Nichts zerflattert. Das waren mit Absicht ausgesprochene Lügen, oder Gebilde einer aufgeregten Phantasie; was blieb, waren die scharfen Repressalien gegen Nichtkombattanten, sogar gegen ganze Ortschaften und Gegenden wegen blutiger Angriffe durch belgische Freischaren.


Von belgischer Seite wird jetzt bekannt gemacht, dass es gar keine Freischärler gewesen seien, die auf die deutschen Truppen aus dem Hinterhalt schössen, sondern reguläres belgisches Militär, das von den Deutschen irrtümlicherweise für Franktireure gehalten wurde. Das belgische Militär sei wegen seiner Kleinheit gezwungen, „überall und nirgends" zu erscheinen, einen Guerillakrieg zu führen. Seine Organisation sei so beschaffen, dass die Soldaten in Erscheinung und Aktion Freischärlern zum Verwechseln ähnlich sehen. Die Repressalien der Deutschen seien also „auf eine Reihe entsetzlicher Missverständnisse zurückzuführen".

Das mag sein, muss darauf der Unbeteiligte antworten. Aber wer ist für die Beschaffenheit und Organisation der belgischen Armee verantwortlich? Wer anders als die belgische Regierung und der belgische Generalstab? Anstatt jene „unverbindlichen Conversationen" mit England zu führen, hätte er vielleicht besser daran getan, dafür zu sorgen, dass im Falle eines Krieges die reguläre Armee nicht wie ein Haufen von Freischärlern erscheine und durch ihr Auftreten und Gebaren die friedliche Bevölkerung in Gefahr versetze und namenloses Unheil und Verderben über ganze Gegenden bringe! Wer kann es den Deutschen verargen, dass sie einem Guerillakrieg mit entsprechenden Mitteln begegneten und reguläre Truppen, die wie Freischärler aussahen und vorgingen, auch als solche behandelten?! War es etwa Pflicht des preußischen Generalstabs, dafür zu sorgen, dass die belgischen Soldaten nicht Anlass zu einer Reihe „entsetzlicher Missverständnisse" gaben?

                                        *************************

Nun werden die Repressalien als viel zu hart und grausam bezeichnet; das deutsche Handbuch des Kriegsgebrauchs im Landkriege wird zitiert, welches diese Repressalien fordert und wiederholt einschärft, dass im Kriege das Ziel allein maßgebend sei, welches man schonungslos und rücksichtslos verfolgen müsse, ohne sich um die Forderungen des Völkerrechts zu kümmern.

Das alles entzieht sich der Beurteilung des Nichtfachmanns in militärischen Dingen, und der Meinung der Betroffenen wird man sicherlich nicht einseitig trauen dürfen. Allein es wird gewiss Pflicht der Berufenen sein, die Abschaffung solcher Vorschriften und Weisungen zu erwirken, die überflüssige Härten oder gar Grausamkeiten veranlassen können. Wer hat aber die Deutschen gezwungen, ihren Kriegsbrauch im Landkrieg hart und grausam werden zu lassen? Wer ist mit dem Beispiel vorangegangen? Kein anderer war es, als der französische König Ludwig XIV. Seine Heere haben in dem Kriege, der Deutschland das linke Rheinufer entriss, die Pfalz so schrecklich verwüstet, dass man noch heute mit Schaudern daran denkt, die größten und schönsten Ortschaften und hunderte von Dörfern verbrannt und zerstört. Und diese grausame Kriegführung hat Napoleon I. zum Prinzip erhoben. Jene französischen Historiker, die das Vorgehen Ludwigs XIV. tadelten, verhöhnte er und nannte sie „elende Gelehrte". Im Krieg, predigte er, seien alle Mittel lobenswert, die den Feind schwächen und vernichten können, Schonung feindlichen Lebens oder Eigentums sei verächtliche Torheit. Es wäre naiv zu glauben, dass diese napoleonischen Traditionen im heutigen Frankreich nicht mehr gelten. Die Lehren des französischen „Handbuches des Kriegsgebrauches im Landkriege" (es gibt doch wohl ein solches), sind mir nicht bekannt, aber wenigstens für den Seekrieg möge hier die Ansicht eines Fachmannes ersten Ranges angeführt werden, des bereits genannten Johann von Bloch, der russischer Staatsrat war, also französische Verhältnisse gewiss nicht in schlechtem Lichte darstellen mochte. Er zitiert die Stimme eines hervorragenden französischen Militärschriftstellers und hohen Marineoffiziers, namens Charmes: „Ein Torpedoboot hat ein Handelsschiff bemerkt, dessen Fracht wertvoller ist, als die, welche einst spanische Galeeren geführt haben. An Schiffsbemannung und Passagieren sind auf dem Schiffe einige hundert Mann. Soll der Kommandierende des Torpedobootes dem Handelsschiff seine Anwesenheit signalisieren und ihm zu verstehen geben, dass er einen geeigneten Moment zu dessen Vernichtung abwartet? Der Kapitän des Handelsschiffes würde mit Schüssen antworten, die das Torpedoboot mit seinem tapferen Führer zum Sinken bringen würden, und das Handelsschiff würde ruhig seine Fahrt fortsetzen. Im Gegenteil, das Torpedoboot muss dem Schiff von ferne folgen, es wird sich ihm in der Nacht nähern, und das Schiff mit seiner Fracht, Besatzung und Passagieren versenken, und der Kommandant des Torpedobootes wird dann weitersuchen und andere Schiffe verfolgen. Jede Stelle des Ozeans wird Zeuge des Vollzuges solcher Grausamkeiten sein. Es werden sich Leute finden, die hiergegen protestieren werden, was uns betrifft, so begrüßen wir in den Kreuzern die höchste Offenbarung des Gesetzes des Fortschrittes, der zuguterletzt selbst zur Vernichtung des Krieges führen wird." (Bloch, Band III, Seite 310—311).

Mit Recht bemerkt der Verfasser zu diesem Erguss einer merkwürdigen philosophischen Humanität: „Eine Tätigkeit dieser Art würde sich in nichts vom Seeraub unterscheiden, und es ist natürlich, dass angesichts solcher Heldentaten, die Kriegskreuzer und Torpedoboote ausführen sollen, die Grausamkeiten von Privatkapern des Mittelalters niemanden in Erstaunen setzen würden. Unter solchen Umständen würde der heutige Seekrieg einfach als eine Rückkehr zu den Zeiten der Barbarei erscheinen."

Aber das ist noch nicht alles. Lassen wir Bloch weiter sprechen: „In dem Werke „Les guerres navales de demain", par le Commandant Z. et H. Montéchan, finden wir folgende Betrachtung: Der industrielle Krieg hat seine genauen beständigen und unvermeidlichen Regeln, ohne Erbarmen über den Schwächeren herzufallen, und ohne falsche Scham vor dem Stärkeren zu fliehen. Unsere Torpedoboote oder Kreuzer müssen sich sofort verbergen, wenn sie auch nur ein einziges Kriegsschiff erblicken, das ihnen nicht einmal überlegen, sondern nur fähig ist, irgendwelchen Widerstand zu leisten." (Wie mit Handelsschiffen zu verfahren ist, wurde bereits oben gelehrt). Es ist wohl auch dem Nichtfachmann gestattet, von diesen Regeln des Seekrieges auch auf die französischen Regeln des Landkrieges einen Schluss zu ziehen.

Die Deutschen wussten also genau, wessen sie sich von ihrem westlichen Nachbar zu versehen hatten. Den östlichen kannten sie besser als seine jetzigen Verbündeten, und er hat in Ostpreußen, Galizien und Polen gezeigt, wie er es macht. Von zwei solchen Feinden flankiert, kann man anders, als sich mit Härte und Schonungslosigkeit wappnen, wenn man sich seines Lebens erwehren und nicht ihr Opfer werden will?

Böswillig und geschmacklos aber ist es, aus der im Handbuch des Kriegsbrauch geforderten Schonungslosigkeit auf eine dem Deutschen innewohnende Grausamkeit und Herzenshärte zu schließen, wie dies im Ausland, sogar in Amerika und in der Schweiz geschieht. Das Handbuch des Kriegsbrauchs ist ja nicht zur Lektüre in Volksschulen und Lehrerseminarien bestimmt, es enthält nicht Prinzipien der bürgerlichen Moral, sondern Verhaltungsmaßregeln für Kriegsmänner, in außerordentlicher Lage, wo es sich um das Leben ganzer Regimenter, vielleicht um die Zukunft des Vaterlandes handelt. Ganz im Gegenteil. Das Bedürfnis, dem Kriegführenden immer wieder einzuschärfen, er solle sich im Kriege nicht um die Lehren des Völkerrechts kümmern, sondern schonungslos auf das Kriegsziel lossteuern und für tückische Überfälle seitens der nichtkämpfenden Bevölkerung rücksichtslose Repressalien üben, könnte eher beweisen, dass die Soldaten sich sonst durch ihre angeborene Weichherzigkeit verleiten lassen könnten, ihr eigenes Leben und die ganze Armee der Gefahr preiszugeben. Es wäre z. B. ganz überflüssig, den Kosaken etwa Rücksichtslosigkeit und Härte einzuschärfen. Sie lassen darin ohnehin nichts zu wünschen übrig. Es ist umgekehrt nötig, sie durch furchtbare Strafandrohungen vor viehischen Handlungen zu warnen. Aber sogar in den seltenen Fällen, wo das geschieht, ist es völlig unwirksam.

Im zweiten Buch Mosis findet sich ein Abschnitt über Strafrecht, der Gesetze und Weisungen zum Gebrauche des Richters enthält. Schon äußerlich kennzeichnet sich dieser Abschnitt als ein Kapitel des Strafgesetzbuchs, das weit davon entfernt ist, Vorschriften des Verhaltens im täglichen Leben zu bieten. Ein Satz in diesem Kapitel lautet: „Aug' um Auge, Zahn um Zahn." Das ist ein Grundsatz des bei allen antiken Völkern herrschenden jus talionis und bildet, so hart er uns klingt, einen Fortschritt gegen die noch härtere Praxis primitiver Zeiten, da der Beschädigte sich selbst Recht verschaffte und für ein Auge beide, für einen Zahn zwei Zähne ausschlug.

Die biblische Vorschrift unterscheidet sich nur insofern von ähnlichen in anderen antiken Gesetzbüchern, dass sie niemals wörtlich genommen wurde, sondern schon von der ältesten Tradition, die in jedem Kommentar dicht beim Texte steht, als Geldstrafe verstanden wurde. Trotzdem werden die Judenfeinde aller Zeiten nicht müde, den Satz als ein Grundprinzip der jüdischen Morallehre anzuführen und daraus zu folgern, das der „Judengott" ein Gott der Rache, und dass die jüdische Lehre voll sei von Grausamkeit, Blutdurst usw., usw. Das ist in der ganzen Welt so allgemein populär geworden, dass es jedem geläufig ist und in öffentlichen Reden, Artikeln, Romanen, Gedichten als unumstößliche Wahrheit angeführt wird.

Es enthält nur drei Lügen: erstens ist der Grundsatz kein jüdischer, sondern ein allgemein antiker; zweitens ist es kein Moral-Grundsatz, sondern ein Paragraph des Strafgesetzbuchs; drittens wurde er vom jüdischen Richter niemals wörtlich genommen, sondern seit uralten Zeiten in einem so milden Sinne ausgelegt, wie nur vom modernsten Strafrecht.

Genau so verhält es sich mit der Zitierung des deutschen Handbuchs des Kriegsbrauchs als Zeugnis für die Beschaffenheit der deutschen Volksseele.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden