Vierte Fortsetzung

Es wäre jedoch verfehlt, zu meinen, dass der alte Kurs gegen die Juden allein ungeschwächt andauert. Die Juden werden nur, wie bisher, hundertmal schlimmer behandelt als alle anderen, denen die neue Zeit ein besseres Los bringen sollte. Finnland wird noch unbarmherziger und rücksichtsloser als zuvor unterdrückt und russifiziert. Der Rest seiner Selbständigkeit wird vernichtet, es wird durchaus wie ein russisches Gouvernement behandelt. Finnland soll offenbar als Übergang nach Schweden dienen. Den Polen wurde schon ganz unzweideutig zu verstehen gegeben, dass sie sich keinen allzu überschwänglichen Hoffnungen überlassen möchten. Die versprochene „Autonomie" hat nur lokale Bedeutung und ist von einer unabhängigen nationalen Selbstverwaltung weit entfernt. Burzew hat seine vertrauensvolle Selbstauslieferung an die russischen Behörden mit der Verschickung nach Sibirien gebüßt. Die sozialdemokratischen Dumaabgeordneten wurden vor Gericht gestellt und abgeurteilt. Jede Druckschrift, die an dem Vorgehen der Regierung Kritik übt, wird unbarmherzig konfisziert, alle Zeitschriften in ruthenischer Sprache wurden verboten. Der Kaiser der deutschen Hunnen und Barbaren hat an seinem Geburtstag diesmal eine noch weitergehende Amnestie für politische Verbrecher aller Art erlassen, als in den vorhergehenden Jahren. In den unterirdischen Löchern der russischen Festungen und in den Jurten von Nordsibirien faulen zu Tausenden die Revolutionäre von 1905, die für ihr Land eine Verfassung begehrten, wie sie England seit Jahrhunderten besitzt. Man hat nichts davon gehört, dass die beiden größten demokratischen Länder der Welt sich für diese unglücklichen Verfechter von Recht und Gerechtigkeit bei deren Peinigern verwendet hätten.

Vor kurzem lasen wir, dass eine Reihe englischer Schriftsteller — Bernard Shaw war nicht unter ihnen — an ihre russischen Kollegen eine Art „Freundschafts- und Verbrüderungsadresse" gerichtet haben, in der das Bündnis zwischen England und Russland als die Gewähr einer neuen Blüte der Kultur gepriesen wurde. Den russischen Schriftstellern dürfte aber diese Anbiederung ziemlich überraschend gekommen sein; sie haben bisher die englischen Verfasser von Gouvernanten- und Detektivromanen nie als ihresgleichen betrachtet, und auch die ganze nichtenglische Welt hat das nicht getan. Was aber diesen Krieg anbetrifft, so haben die russischen Schriftsteller, — es ist hier von Schriftstellern und nicht von Zeitungsschreibern die Rede — über ihn ihre eigenen Meinungen. Uns Außenstehende aber muss es wundernehmen, dass diese Engländer nicht die Gelegenheit benützt haben, auch die blutigen Schatten jener russischen Schriftsteller zu grüßen, die von der russischen Regierung in den Bergwerken von Sibirien und den Kasematten der Peter-Pauls-Festung langsam zu Tode gemartert oder in den Wahnsinn getrieben wurden, und deren Namen jeder gebildete Russe mit Ehrfurcht nennt. Und die jetzigen russischen Schriftsteller werden sich mit der Huldigung der englischen Romanschreiber darüber trösten müssen, dass ihre Werke gerade in dieser Zeit von neuem durch die russische Regierung auf den Index gesetzt wurden und noch härter verfolgt werden als vordem.


Es ist ein wahrhaft trauriges Schauspiel, wie diese Wortführer der stolzen englischen Nation vor der russischen Macht kriechen und bei dieser Gelegenheit sich bei dem russischen Publikum einzuschmeicheln streben, ohne ein Wort für die Verfolgten und Bedrückten in Russland zu finden. Wie soll man da erwarten, das eben diese Schriftsteller nach einem Siege des Zarismus ihn zu einer anderen Haltung bewegen werden.

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Wenn die russische Regierung aber ihre administrativen Maßregeln gegen die Juden auch nicht gemildert hat, so hätte man doch wenigstens erwarten können, dass sie die Pogrompolitik nach Ausbruch des Krieges einstellen würde. Das Gegenteil ist der Fall gewesen. Wohl wurde in die Welt hinaustelegraphiert, dass der berüchtigte Pogromheld Purischkewitsch eine so gründliche Sinneswandlung durchgemacht hat, dass er in der Synagoge die Thorarolle geküsst und in den Armen der Juden Freundschaftstränen vergossen haben. Dafür war den Zeitungen streng verboten, über die gleichzeitig abgehaltenen Pogrome zu berichten. Wir in Galizien haben eine feine Witterung für die Stimmungen in Russland, und wir sagten uns: es ist unmöglich, dass die Kosaken nicht einstweilen, bevor sie zur Verteidigung der Gerechtigkeit und der Kultur nach Berlin und Wien gegen die deutschen und österreichischen Barbaren marschierten, an den Juden einige Vorübungen in diesem edlen Tun vornehmen sollten. Bald drangen auch zu uns dumpfe Gerüchte von blutigen Verfolgungen in den russischen Grenzlanden. Genaueres konnte man vorläufig nicht erfahren, da aus Russland nur das in die Welt hinausdrang, was der russischen Regierung genehm war. In den kleineren unbefestigten Ortschaften Galiziens, wohin die Russen einrückten, zerstörten sie zunächst die Synagogen und die katholischen Kirchen; wehrlose Einwohner, Frauen, Greise und Kinder wurden niedergemacht, Brände wurden gestiftet, es wurde geplündert und geschändet, ganz wie es bei Pogromen in Russland zuzugehen pflegt. Die besondere Wut der Kosaken richtete sich in erster Reihe gegen die Juden. Da dachten wir mit Grauen: „Wie muss es erst in Russland selber zugehen!"

Aber erst als die deutschen und Österreich-ungarischen Truppen in Polen einrückten, erfuhr die Welt Genaueres darüber.

Die englische und französische Presse hat aber die öffentliche Meinung in Amerika so geschickt und erfolgreich zu betören verstanden, dass sogar die jüdischen Zeitungen die Richtigkeit der Nachrichten über die von den Russen an den Juden in Russisch-Polen verübten Gräuel anzweifelten. Man glaubte wirklich, Russland habe sich im Handumdrehen geändert. Doktor Arthur Levy, der als Feldrabbiner der deutschen Armee in Polen zugeteilt ist und die Vorgänge in nächster Nähe beobachtet und genaue Nachrichten gesammelt hat, hat in zwei offenen Briefen an eine angesehene New-Yorker jüdische Zeitung eine Reihe von Tatsachen geschildert, die in der ganzen Welt Schaudern erregten. Es sei nun mit Nachdruck betont, dass die von Dr. Arthur Levy geschilderten Begebenheiten nur einen geringen Bruchteil von dem bildeten, was die Russen in Polen an den Juden verübt haben. Tausendmal mehr als der Krieg haben die russischen Soldaten und Offiziere im Verein mit dem einheimischen Pöbel unter den Juden gewütet. Herr Sasonow hat die eiserne Stirn gehabt, von der Dumatribüne herab die ganze Welt anzulügen und die Gräueltaten der russischen Truppen überhaupt in Abrede zu stellen. Was? Pogrome hätten stattgefunden! Keine Spur! Ich bitte: Kosaken und Judenpogrome; wie reimt sich das? Hat man jemals gehört, dass Kosaken sich an Judenpogrom beteiligt oder sie gar angestiftet hätten? Das ist alles eine „deutsche" Erfindung. „Die Juden haben nicht mehr gelitten als die Bevölkerung während eines Krieges im Feindesland zu leiden hatte!" „Im Feindesland!" Das Wort ist Herrn Sasonow gegen seinen Willen entschlüpft, denn es ist eine Wahrheit. Wenn die Juden schon in Friedenszeiten in Russland wie in einem Feindesland behandelt werden, um wie viel mehr in Kriegszeiten! Man führt Krieg — gegen die Deutschen und Österreicher hat das manche Schwierigkeiten. Aber es ist leicht, gegen die Juden Krieg zu führen!

Als gegen Ende November die Wahrheit durchzusickern begann, beeilte sich die russische Regierung, durch ihre in Kopenhagen residierenden Soldschreiber in die Welt hinauszutelegraphieren, dass die Schuld an den Pogromen die polnische Bevölkerung treffe. Eine organisierte „polnische Denunziantenbande" habe die nach dem strategischen Rückzug der Deutschen wiedergekehrten Russen verleitet, an den Juden Gräueltaten zu verüben, indem sie ? nämlich die „polnische Denunziantenbande", die Jude", als Spione und Verräter bezeichnete, die den Deutschen Hilfe gegen die Russen geleistet hätten. Gleichzeitig wurden aus derselben Kopenhagener Quelle Nachrichten über die von den . . . Deutschen im Kriegsgebiet verübten Metzeleien verbreitet! Einige Photographien aus den Pogromen der Jahre 1903, 1905 und 1906, welche von den Hooligans gemarterte, verstümmelte und ermordete jüdische Greise, Kinder und Frauen darstellten, wurden in amerikanischen illustrierten Zeitungen veröffentlicht, die Aufschriften dahin gefälscht, dass es Aufnahmen von Opfern „deutscher Gräuel in Russisch-Polen" seien. Auf diese Weise wurde der ganzen neutralen Welt Sand in die Augen gestreut. Von der russischen Soldateska wurde die Schuld auf die „organisierte polnische Denunziantenbande" abgewälzt, und gleichzeitig in Wort und Bild das deutsche Heer als Verüber von Pogromen hingestellt.

Die Wahrheit ist, dass die Kosaken gleich von Anbeginn überall, wo sie hinkamen, an den Juden nach gewohnter Art Metzeleien und Plünderungen vornahmen. In Polen, lange noch bevor die Deutschen einrückten, verbanden sie sich mit dem heimischen Pöbel, der lange zuvor schon von den russischen Behörden aufgehetzt wurde, und über den die besseren Elemente der polnischen Bevölkerung jegliche Gewalt verloren hatten. Das Einrücken der Deutschen bedeutete für die Juden überall eine Befreiung wenigstens vom schlimmsten Übel. Es ist selbstverständlich, dass die Juden gegen den deutschen Landesfeind, der sie aus den blutigen Händen der teuren Landes-Verteidiger errettete, keine ingrimmigen Hassgefühle hegen und ihn nicht mit siedendem Wasser und heimtückischen Kugeln überschütten konnten. Als aber der Landesfeind sich zurückzog und die Vaterlandsverteidiger wieder einrückten, gaben sie ihrer entfesselten Raub- und Mordgier einen legalen Namen: Vergeltung für den Verrat und die Spionage zugunsten der Deutschen.

Seltsamerweise merkten die Zeitungen und das Publikum den Widerspruch nicht, der darin lag, dass die deutschen Truppen Gräuel verübt — und die Juden ihnen trotzdem Sympathie entgegengebracht haben sollen!

Noch seltsamer und tiefbetrübend ist es, dass ein großer Teil der Presse sich dazu hergegeben hat, ganz nach dem Wunsch der russischen Regierung die polnische Gesellschaft als solche, ja sogar die gesamte polnische Nation für die vom Abschaum des Pöbels in polnischen Städten unter Anleitung der russischen Soldaten und Billigung der russischen Militärbehörden vollführten Pogrome verantwortlich zu machen. Damit leistete man der russischen Regierung den besten Dienst. Man wusch sie in den Augen der Welt von jeder Schuld rein, andererseits vertiefte man den von ihr seit Jahren mit aller Kraft geschürten Hass zwischen Juden und Christen in Polen. Unter dem Schutz und der Förderung der Regierung entstand und erstarkte in Polen die sogenannte „national-demokratische", russophile Partei, die den Antisemitismus nach russischen Prinzipien predigt. Nichts ist für die Regierung erwünschter, als ewiger Hader zwischen Juden und Christen in Polen. Dadurch wird ihr nur leichter gemacht, beide zu unterdrücken, was aber die Juden nur um so schwerer zu fühlen bekommen.

Es hätte keinen Zweck, Einzelheiten aufzuzählen, es genügt zu betonen: was sich abgespielt hat, war ein allgemeiner großer, nur durch die Kriegsoperationen gegen den Feind unterbrochener Pogrom. Wer ein detailliertes Bild davon haben will, braucht sich nur an die Schilderungen bisheriger Pogrome zu erinnern und noch dazu die Grauen des Krieges hinzuzufügen. Hinreichendes Material findet man in dem zweibändigen Buch „Die Pogrome in Russland", welches 1909 in Berlin erschienen ist.

Eine Frage möchte man doch gern beantwortet haben: Übt eine Kriegsbehörde „Vergeltung für Verrat", indem sie den Soldaten erlaubt, Frauen in Gegenwart ihrer gefesselten Männer, Töchter in Gegenwart ihrer gekreuzigten Väter, Mütter in Gegenwart ihrer unmündigen Söhne und Töchter auf offener Straße zu schänden?!

Mögen die französischen Juristen, Philosophen und Poeten darauf eine Antwort erteilen!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden