Neunte Fortsetzung

Der Autor des zitierten Kursus erklärt, dass die Erzielung des von ihm behaupteten Glückes der Menschheit und die Verhütung einer allzu langen Friedensperiode keine besonderen Schwierigkeiten bereiten kann. (Das will sagen, es sei leicht, vermittelst diplomatischer Kniffe unter den Völkern Krieg zu entfachen). „Die Staatsoberhäupter", sägt er, „welche den Krieg brauchen, müssen sich nicht besonders um die Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit des begonnenen Krieges sorgen. Es genügt, den Krieg zu erklären, und dem Minister liegt die Pflicht ob, seine Berechtigung (nachträglich) nachzuweisen. Die Unvermeidlichkeit des Krieges und der begründete Anlass zu demselben können nur durch die Bedürfnisse des Volkes nachgewiesen werden." (Das will sagen, wenn die Diplomatie eines Staates die Lust verspürt, Krieg zu führen, um das erwähnte Glück ihrem Volke zu beschaffen, so braucht sie nur, unter welchem Vorwand immer, mit dem Nachbar Händel anzufangen, und die Diplomatie hat die Aufgabe, nachher eine plausible Ursache und eine sittliche Begründung zu ersinnen, um die Welt glauben zu machen, dass der Krieg für das Heil der Menschheit unvermeidlich war). „Der Krieg kann weder gerecht noch ungerecht sein, er ist entweder politisch oder unpolitisch". (Entnommen dem Werke des russischen Staatsrates Johann v. Bloch, „Der zukünftige Krieg", Seite 60 — 61, deutsche Ausgabe, Band V). Diese Sätze lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Man bedenke, dass das nicht etwa die Privatmeinung eines einzelnen Generals ist, sondern die von der Regierung geaichte offizielle Lehrmeinung, welche angehenden Offizieren vom Katheder herab eingetrichtert wird. Natürlich werden diese Lehren im Publikum nur selten bekannt. Der angesehene und einflussreiche russische Staatsrat hat nur dank seinen hohen Beziehungen ausnahmsweise die Möglichkeit gehabt, einen flüchtigen Blick in die Vortragshefte der hohen französischen Militärschule zu werfen. Die Vermutung ist aber wohl gerechtfertigt, dass in dieser Anstalt noch ganz andere Dinge über den Krieg und dessen Notwendigkeit, insbesondere dem Erbfeind gegenüber, vorgetragen werden.

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Haben sich aber in Deutschland nicht auch andere Stimmen vernehmen lassen, die den Frieden predigten? Hat man schon die Baronin von Suttner vergessen, die mehr als 30 Jahre hindurch unermüdlich im Dienste der Friedensidee tätig war? Die die eigentliche Schöpferin der internationalen Friedensbewegung ist und auf deren Einfluss die Haager Friedenskonferenzen zurückgeführt werden müssen? Ihr Buch „Die Waffen nieder!" hat in Deutschland eine Verbreitung von mehr als einer halben Million Exemplaren gefunden, während das Buch von Bernhardi kaum vier Auflagen erlebt hat. Tausende und Tausende von Zuhörern jubelten der Baronin Suttner entgegen, wenn sie in deutschen Städten ihre Reden für den Weltfrieden und für die Verständigung der Völker hielt, Reden, aus denen jene große, die ganze Kulturwelt umspannende pazifistische Bewegung hervorgegangen ist. Und die Baronin von Suttner stammte aus einem alten Soldatengeschlecht. Ihr Vater war ein berühmter österreichischer General. Darf man in der Suttner und ihrem Werke nicht viel eher den Ausdruck der deutschen Volksseele sehen als in dem Buch des Generals von Bernhardi, der nur zu Fachgenossen und Berufspolitikern spricht?

Der Reichskanzler, Graf Caprivi, versicherte in seiner Rede in Danzig, der deutsche Kaiser hoffe, dass im zwanzigsten Jahrhundert ein friedlicher Zusammenschluss der europäischen Staaten zur Vermeidung des Krieges erfolgen werde.

Der berühmte russische Kriegsmaler Wereschtschagin (umgekommen mit der Flotte des Admirals Makarow im russisch-japanischen Kriege) erzählt in seinen Memoiren abgedruckt in der Monatschrift „Die Waffen nieder" folgendes: „Der Krieg, sagten mir Prinz Georg von Sachsen und der damalige Erbe des preußischen Thrones, Kronprinz Friedrich, ist etwas Besonderes, das alldem wider spricht, wozu die christliche Moral verpflichtet ist." (Bloch Band III, Seite 69).

Im Jahre 1841 schrieb Moltke ungefähr folgendes „Wir bekennen uns offen zu den Anhängern der so häufig verspotteten Idee des ewigen Friedens, nicht in dem Sinne natürlich, dass die langen, blutigen Zusammenstöße aufhören, die Heere aufgelöst, die Kanonen eingeschmolzen werden müssen, nein; aber scheint nicht der ganze Gang der Geschichte ein Fortschritt zu sein, der dem Frieden zustrebt? Ist etwa in unserer Zeit ein Krieg wegen eines spanischen Botschafters oder wegen der beaux yeux de Madame möglich? Die Möglichkeit, einen Krieg zu entzünden, hängt jetzt nur von wenigen Mächten ab. Die Kriege werden immer seltener stattfinden, denn sie sind allzu teuer geworden, sowohl im Sinne der Geldausgaben, als auch der Interessen, die dann an die zweite Stelle treten müssen. Ist nicht die Bevölkerung Preußens im Laufe von 25 Friedensjahren unter einer guten und klugen Verwaltung um ein ganzes Viertel gestiegen? Gibt es jetzt hier nicht fünfzehn Millionen Einwohner, die sich besser nähren, besser kleiden und gebildeter sind als jene elf Millionen, die bis zu dieser Periode vorhanden waren? Hat dies nicht mehr Wert als ein glücklicher Feldzug, oder eine eroberte Provinz? Wir müssen zugestehen, dass die jährlich zum Unterhalt der europäischen Heere bewilligten Milliarden und die Millionen Leute, die in der Blüte der Jahre ihren Beschäftigungen für die Zwecke eines möglichen Krieges entrissen werden, — dass alle diese gewaltigen Hilfsquellen weit produktiver verwendet werden können. Wird Europa irgend einmal eine allgemeine Abrüstung sehen? Man sagt, dass der Mensch ohne Krieg seine sittliche Energie verlieren und sich entwöhnen würde, sein Leben für Ehre, Glauben, Ruhm, Liebe zum Vaterland und zur Religion zu opfern. Vielleicht steckt hierin ein Teil Wahrheit. Je seltener in Europa Kriege stattfinden werden, desto unumgänglicher wird es sein, ein neues Feld der Betätigung für die sich entfaltende Energie der jungen Geschlechter zu finden. England hat hierfür eine Armee in allen fünf Weltteilen und auf allen Meeren gefunden. Es findet dort Beschäftigung für die jungen Glieder seiner Aristokratie, Anlässe, den kriegerischen Mut seiner Jugend zu betätigen, neue Wege für seinen Handel und neue Märkte für seine Industrie. Sollte Deutschland nicht dieses Beispiel benutzen und über seine Grenzen hinaus deutsche Kultur, Energie, Arbeitsliebe und Ehrlichkeit verbreiten?" (Bloch, Band V, Seite 56—57).

Man kann nicht ohne tiefe Wehmut diese Worte lesen. Der Hohepriester des Militarismus sprach vor 75 Jahren ganz wie ein moderner Pazifist. Sein Ideal ist das Blühen der friedlichen Kultur, er trägt kein Verlangen nach ruhmvollen Feldzügen, nach eroberten Provinzen. Aber im Westen war ein Nachbar, der ihm seit Jahrhunderten die friedliche Kulturentwicklung nicht gönnte. Carlyle sagt, Frankreich war den Deutschen vier Jahrhunderte hindurch der schlimmste, gefährlichste Nachbar. Jede Regung zur Einigung und Selbständigkeit der deutschen Stämme wurde mit Argwohn überwacht, jeder Entwicklung Hindernisse in den Weg gelegt. Da mussten die friedlichsten Naturen hart und härter werden. Sie hatten das Joch französischer Fremdherrschaft bitter genug empfunden. Das sollte nicht wiederkommen. Dazu mussten sie geeint da stehen. Sie legten nun ihre Rüstung an. Frankreich war es, das die Deutschen zum Militarismus erzogen hat. Moltke hat dreißig Jahre später Krieg geführt, scheinbar „um einen Botschafter", in Wirklichkeit um seinem Volke die Selbständigkeit zu sichern; und er hat zwei Provinzen erobert, weil er anders sein Haus vor Einfällen nicht sichern konnte. Moltke war nicht nur ein genialer Feldherr, sondern auch ein großer Geist, und er hat, wie selten ein Mensch, die ganze Wucht der Tatsachen kennen gelernt; und auf der Höhe seines großen Lebens schreibt er: „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner." Welch tiefe Resignation klingt aus diesen Worten! Aber Männer von großer Tatkraft und seelischer Ausgeglichenheit vertragen es nicht, im Zwiespalt mit der rauen Wirklichkeit zu leben und sich dadurch die Entschlussfähigkeit zum Handeln lähmen zu lassen. Sie betrachten den Gang der Dinge von einem höheren Gesichtspunkt und bringen ihre Weltanschauung philosophisch mit ihm in Übereinstimmung. Diesen Wandel bemerken wir auch bei Moltke, wenn er fortfährt: „Der Krieg ist ein integrierender Teil der von Gott eingesetzten Weltordnung. Er entwickelt die edelsten Eigenschaften des Menschen: Mut, Ergebenheit für die allgemeine Sache, den Geist der Selbstaufopferung. Wenn es keinen Krieg gäbe, würde die Welt sich in Fäulnis auflösen und in groben Materialismus versinken."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden