Zweite Fortsetzung

Allein glaubt jemand, dass wenn die Juden in Ost- und Mitteleuropa zu Parias erniedrigt würden, die Juden der anderen Länder von diesem Schicksal auf die Dauer verschont bleiben könnten? Das russische Prinzip hätte in der Welt gesiegt. Die beiden „größten und demokratischsten Mächte Europas" hätten ihm zum Siege verholfen, es mit ihrem Prestige umgeben und moralisch gerechtfertigt. Die Gleichberechtigung der Juden, welche jetzt für jeden Kulturmenschen im Prinzip fraglos und endgültig erledigt ist, würde von neuem zur Diskussion gestellt werden. Die Welt würde an eine Revision der Begriffe vom gleichen Recht der Konfessionen im Staate schreiten und nicht umhin können, zu finden, dass sie sich geirrt habe, und dass Russland im Rechte sei, da Frankreich und England ihm Recht gegeben haben. Wenn aber fast die gesamte Judenheit Europas nicht wert ist, Gleichberechtigung im Staate zu gemessen, warum sollen dann die anderwärts versprengten Bruchteile eine bessere Behandlung verdienen?

In Frankreich, England und Italien z. B., wo eine Handvoll Juden lebt und im Gesamtbilde der Nation fast verschwindet, würde sich die neue Strömung vielleicht weniger geltend machen. Aber in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Juden zahlreich leben, und in gewissen Bezirken in dichten Massen beieinander wohnen, kann die Sache bedrohliche Formen annehmen. Man hat das Bedürfnis, diejenigen, denen man Unrecht zugefügt hat, nachträglich noch zu verleumden, um sein Gewissen zu salvieren, oder wenigstens vor der Welt sich zu rechtfertigen. Der russische Botschafter in Washington hat übrigens schon öfters versucht, durch Anschwärzung der Juden in der amerikanischen Presse seine Regierung vor den Amerikanern wegen der blutigen Pogrome und der anderen Schandtaten zu entschuldigen, indem er diese Behandlung der Juden als durch ihre Verderbtheit begründet und verdient hinstellte. Das würde nicht mehr wie bisher wirkungslos verhallen, wenn Russland in Europa siegreich wäre, die Verhältnisse in seinem Geist umgestalten könnte, und ein Recht hätte, sich dabei auf die Unterstützung und die Bundesgenossenschaft Englands und Frankreichs zu berufen. Hass ist leicht zu wecken. Aber in Amerika wagen sich die antisemitischen Strömungen nicht ans Tageslicht. Fänden sie in Russland einen zuversichtlicheren, noch dazu einen siegreichen Helfershelfer, — die amerikanischen Juden müssten einen schweren Kampf aufnehmen zur Verteidigung ihrer bürgerlichen Rechte. Und wer weiß, wie dieser Kampf ausgehen würde!


Der Zustand, in dem der Zarismus die russischen Juden behielt, galt bisher in der ganzen Welt als ein Schandfleck der modernen Kultur, als ein Schimpf gegen die Menschlichkeit und das Rechtsbewusstsein Europas, und daher als unerträglich und im Grunde nur als provisorisch : über kurz oder lang müsste er unter dem Druck des „europäischen Gewissens" eine totale Umgestaltung erfahren — zusammen mit allen andern unerträglichen und unhaltbaren Zuständen in Russland. Denn dieses Land kann ja nicht für immer darauf verzichten, in die europäische Kulturgemeinschaft aufgenommen zu werden. Nun aber haben die beiden berufensten Repräsentanten der besagten Kulturgemeinschaft und des europäischen Gewissens, die beiden „größten demokratischen und freiheitlichen Mächte Europas" Russland trotz aller seiner Gräuel, unter denen seine Judengesetzgebung und seine Pogrome nicht zu den leichtesten gehören, in ihre Mitte aufgenommen und sich mit ihm zum Kampf auf Leben und Tod gegen Deutschland und Österreich-Ungarn verbunden; sie haben also Russlands Judenbehandlung eo ipso als einwandfrei und wohlberechtigt anerkannt, und sich einverstanden erklärt, dass sogar das dritte Drittel der Juden, welches in Mitteleuropa wohnt, derselben Behandlung unterworfen werde. Nun muss ja folgerichtig die Frage aufgeworfen werden, warum denn die amerikanischen Juden eine Ausnahmebehandlung verdienen sollten? Wenn 8—9 Millionen Juden in Europa eine so niedrige und verwerfliche Rasse oder Religionsgemeinschaft bilden, dass sie in Russland und den von ihm besiegten und unterworfenen Ländern von der Rechtsgleichheit mit den christlichen Mitbürgern ausgeschlossen bleiben müssen, warum sollten ihre Glaubensgenossen in Amerika anders behandelt werden? Diese sind ja nicht nur ihre Stammes- und Religionsverwandten, sondern ihre nächsten Nachkommen und Brüder nach dem Blut! Hieße es nicht, die christlichen Amerikaner beschimpfen, wenn man ihnen zumutete, Menschen als gleichberechtigt anzuerkennen, welche von den erlauchtesten Europäern als tief unter ihnen selber stehend betrachtet werden?

Das würde für die amerikanischen Juden die Folge eines russischen Sieges sein! Ich zweifle keinen Augenblick, dass die amerikanischen Juden auf die obigen Fragen schon die richtige Antwort finden werden. Nur meine ich, dass es notwendig ist, sich rechtzeitig klar zu machen, vor was für Probleme man sich in Amerika gestellt sehen wird!

                                        ***********************************

Herr Professor Miliukow hat zum Beweise für die Rückständigkeit Deutschlands u. a. darauf hingewiesen, dass hier der moderne Antisemitismus seinen Ursprung genommen und sich von hier aus über ganz Europa ausgebreitet habe. Dieses Argument wurde von der englischen und französischen Presse aufgenommen und breitgetreten und auch von den deutschfeindlichen Zeitungen Amerikas wiederholt. Wäre die Sache nicht so unendlich traurig, man müsste sie unendlich komisch finden. Die Russen marschieren auf Berlin, um den Antisemitismus niederzuschlagen und die deutschen Juden von seinem Druck zu befreien! Der moderne Antisemitismus ist freilich in Deutschland entstanden, aber als eine Schattenseite der deutschen Kultur, ein Fleck auf ihr, im Widerspruch zum Kulturbewusstsein des deutschen Volkes und von den besten deutschen Männern unablässig bekämpft. Von Deutschland ist er ausgegangen, aber in Russland hat er die schlimmsten Früchte gezeitigt. In Deutschland ist er eine trübselige Erscheinung, der tausend erfreuliche gegenüberstehen. In Russland ist er zur alleinherrschenden Macht emporgewachsen, das Leitmotiv der Gesetzgebung, der Exekutive und der Verwaltung geworden, zu einem wohldurchdachten, gegliederten und dauernden Verfolgungssystem ausgeartet. In Deutschland musste er entstehen, in Russland war er von jeher da. Herr Professor Miliukow betonte, dass in Deutschland ein Jude nicht einmal Reserveoffizier werden könne. Er vergaß gütigst, dass in Russland ein Jude nicht einmal Staatsminister, nicht einmal Herrenhausmitglied, nicht einmal Rektor einer Universität, Präsident des Reichstags und des Reichsgerichts werden kann, was in Deutschland oft schon dagewesen ist. (Dass er in Russland nicht einmal die Würde eines kaiserlich russischen Briefträgers oder Pförtners in einem Amtsgebäude bekleiden darf, sei nur nebenbei bemerkt).

Besonders den Franzosen und Engländern gegenüber sei daran erinnert, dass Deutschland nicht nur das Ursprungsland des Antisemitismus, sondern auch der — — Judenemanzipation ist. In Deutschland ist die verfassungsmäßige Gleichstellung der Juden vor dem Gesetz nicht der Laune eines Tyrannen oder dem selbstsüchtigen Interesse einer Regierung oder einer Klasse entsprungen, sondern als Frucht der geistigen Entwicklung der Nation gereift. Schon auf Seiten Moses Mendelssohns, des ersten Vorkämpfers der Gleichberechtigung seiner Glaubensgenossen, standen die besten Geister seiner Zeit; Lessings Nathan übte weit hinaus, bis nach Indien einen starken Einfluss, und Mirabeau stützte sich auf Mendelssohns und Dohms Arbeiten, als er für die Emanzipation der Juden in Frankreich eintrat. Aber auch in den trübsten Zeiten wäre es in Deutschland keinem Menschen eingefallen, den Juden die Quellen deutscher Bildung und deutschen Geistes zu verstopfen, ihnen den Zutritt zu Schulen und zur Universität zu verwehren, wie, das in Russland bis auf den heutigen Tag der Fall ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden