Zwölfte Fortsetzung

Indessen hat der Zweibund Kraft und Farbe erst durch den Beitritt Englands erhalten. Die Franzosen hätten sich damit begnügt, in infinitum ihre 6—8% einzusacken, mit dem erlauchten Bundesgenossen Besuche zu tauschen und von der Gloire und Revanche und Befreiung der unglücklichen Brüder zu träumen. König Eduard war es, der die Revanche-Politiker in Paris zur Tat ermutigte. Er drängte den alten und natürlichen Antagonismus Englands zu Frankreich und zu Russland vor der Hand zurück und stellte sich zum Ziele seiner Politik, Deutschland zu isolieren und zu „vernichten". In diesem Punkte trafen seine Bestrebungen mit den russischen zusammen. Während nun Russland und Frankreich ihren Kriegsgelüsten ein ideales Mäntelchen umhängen durften, sucht man in England vergebens danach. Hier ist es ganz unverblümt der Neid gegen den erfolgreichen Rivalen auf dem Weltmarkt, welcher den englischen Großkaufmann und Großindustriellen zu blutigem Hass gegen Deutschland aufgestachelt hat. Eine korrupte und allen Gewissens bare Presse hat den Mittelstand und die Arbeiterschichten durch jahrelange Hetze in den Bannkreis dieses Gefühls hineingezogen. Andere Rechnungen hatten diese beiden Nationen nicht miteinander auszugleichen. König Eduard fühlte sich sozusagen als der Prokurist sämtlicher Groß-Produzenten und Großhändler des vereinigten Königreichs. Der Neid der Engländer auf die Deutschen hatte aber noch einen besonderen Stachel. Vor kurzem noch waren die Deutschen eine Nation von Denkern und Dichtern, von denen man nichts zu befürchten hatte. Erst seit 30 oder 40 Jahren hatten sie, ohne ihr früheres Metier im geringsten zu vernachlässigen, sich auch ganz irdischen Gebieten zugewendet und — siehe da — schon sie sind gefährliche Nebenbuhler geworden. Mochten sie doch fortfahren, Opern und Oratorien zu komponieren, Gedichte zu machen, philosophische Systeme zu bauen, die Natur zu erforschen, und sich in das Wesen und die Geschichte des Geistes zu vertiefen! Das gönnte ihnen die englische Plutokratie neidlos und von Herzen. Aber nun haben sie sich darauf verlegt, Kattun und Maschinen und Farbstoffe und Leder und Panzerplatten und Samt und Seide und Kali und feine Möbel und Gott weiß, was alles noch zu produzieren. Und das alles machen sie mit jener unheimlichen Präzision, Gediegenheit und Zuverlässigkeit, die ihre wissenschaftlichen Arbeiten seit jeher auszeichneten. Ihre Kaufleute tauchen überall auf, sind zäh und geschmeidig, erfinderisch, kenntnisreich, genügsam, ehrlich, von einer unverwüstlichen Arbeitskraft. Das empfindet der Engländer als einen Raub an seinen heiligsten Gütern, ein Attentat auf das ihm vom Himmel verliehene Recht. Wer daran rührt, ist der Feind, dem er Verderben geschworen hat.

Mittlerweile taten die Deutschen nur das, was ihr gutes natürliches Menschenrecht war. Sie sagten sich: unsere Volkszahl vermehrt sich normal, wir haben die Pflicht, für die Zukunft vorzusorgen. Die Welt ist groß genug und bietet Raum für alle. Wir tun niemandem Unrecht, wenn wir unseren Anteil an ihr haben wollen. Die Engländer dagegen huldigen der fast zu einem religiösen Dogma erstarrten Überzeugung, dass sie das Monopol besitzen, alle Reichtümer der Welt einzuheimsen. Gott in eigener Person habe ihnen das ausschließliche Recht übertragen, dem Erdball „das Gepräge ihres Antlitzes" aufzudrücken, d. h. prosaisch gesprochen, die Rohprodukte aller Himmelsstriche nach England zu schleppen und sie von dorther in Gestalt von Industrieerzeugnissen in die Ursprungsländer zurückzuschicken.


Während nun die Deutschen ruhig und gelassen ihrer Arbeit nachgingen, tönte es unablässig zu ihnen herüber, vom Osten her: „Der Weg nach Konstantinopel führt durch das Brandenburger Tor", vom Westen: „Revanche, Revindication"!. Sie sahen die Möglichkeit voraus, einmal gegen zwei Fronten kämpfen zu müssen, und machten ihre starke Landarmee nur noch stärker. Aber auch aus England knurrte es immer grimmiger herüber, man drohte immer unverhohlener, den überseeischen Handel und die Industrie der Deutschen zu vernichten. Die 46 Millionen Engländer sind überzeugt, dass ihnen allein die Welt gehöre, und da sie die Macht zu haben glauben, sie auch das Recht hätten, den 70 Millionen Deutschen jede Seegeltung zu verbieten. Die Deutschen sind also gezwungen, auch eine Flotte zu bauen, um gegen diesen Feind ebenfalls gewappnet zu sein. Nun tragen sie einen doppelten Panzer: er ist nicht leicht und nicht bequem. Aber, wenn sie jemals gemurrt haben, der jetzige Krieg hat sie alle überzeugt, dass es nicht anders sein konnte. Jetzt rufen die Gegner, aber nicht triumphierend: „Seht, wie unheimlich sie gerüstet sind! Sie haben den Krieg gewollt und sich systematisch auf ihn vorbereitet! Haben wir es nicht immer gesagt!?" Ihnen freilich wäre es lieber gewesen, die Deutschen wären gar nicht gerüstet.

Österreich-Ungarn und Deutschland kämpfen, weil sie nicht wollen, dass Wien und Berlin den Russen als Passage auf ihren Eroberungszügen dienen, dass ihre Reiche zerstückelt und aufgeteilt, dass ganze Provinzen unter die Botmäßigkeit der östlichen Barbaren kommen, dass die Früchte einer unvergleichlichen Kulturarbeit von Generationen zerstört, dass freie Bürger unter das Joch des Absolutismus und der Gewaltherrschaft gebeugt werden. Sie wehren sich gegen die natur- und rechtswidrige Lahmlegung der wirtschaftlichen Kräfte eines großen, tüchtigen und hochbegabten Volkes zugunsten einer kleinen Klasse englischer Nabobs. Nicht Eroberungsdrang, nicht Raubsucht und neidische Habgier leiten sie. Sie kämpfen einen guten Kampf.

                                                *************************

Nun ist die Verletzung der belgischen Neutralität von England zum Anlass genommen worden, den Krieg an Deutschland zu erklären. England steht da in der Toga des Weltenrichters, mit dem Richtschwert in der Hand als Rächer der Weltgerechtigkeit. Der deutsche Reichskanzler hat im Reichstag offen und mannhaft bekannt: „Ich brach die Neutralität!" Er hätte nur, ein bekanntes Wort variierend, hinzufügen müssen: „bevor die Neutralität mich brach!" Zweifelt jemand daran, dass England nicht einen Moment gezögert hätte, Belgiens Neutralität zu brechen, um ein Heer zu landen und Deutschland in den Rücken zu fallen? Wer daran zweifelt, der möge an 1807 zurückdenken. Damals lag England mit Frankreich im Kriege; das kleine Dänemark beharrte darauf, neutral zu bleiben. England fühlte das dringende Bedürfnis, die damals nicht unansehnliche Flotte des kleinen Staates auf seiner Seite zu sehen. Eines schönen Tages im August, erschien ohne Kriegserklärung vor Kopenhagen eine starke englische Flotte mit zahlreichen Transportschiffen, landete ein Heer von mehr als 30.000 Mann, umzingelte die dänische Hauptstadt zu Wasser und zu Lande, nachdem der Regent von Dänemark die Aufforderung, seine Flotte auszuliefern, zurückgewiesen hatte. Drei Tage Lang, vom 2. bis 5. September, wurde Kopenhagen beschossen. Viele öffentliche Gebäude und mehr als 300 Privathäuser wurden in Trümmer gelegt, Hunderte und Hunderte von Menschen getötet. Als die unglückliche Stadt kapituliert hatte, segelten die Engländer mit ihrem Raube von 18 Linienschiffen, 46 anderen Kriegsfahrzeugen, mit großen Vorräten an Munition und Waffen, davon. Was an Kriegsmaterial nicht mitgeführt werden konnte, wurde vernichtet. Zwei Wochen darauf erließ der englische König eine Proklamation, in der er das Verfahren gegen Kopenhagen vor dem englischen Parlament und vor der ganzen Welt zu rechtfertigen suchte. Am 3. Februar 1808 wurde im Unterhause eine Debatte über die ganze Frage, insbesonders über die königliche Proklamation, abgeführt. Eine kleine Opposition verdammte den allen Prinzipien des Völkerrechts hohnsprechenden Gewaltstreich gegen den kleinen friedlichen Nachbar, der im Kampfe zwischen zwei mächtigen Gegnern neutral bleiben wollte. Es ist besonders heutzutage sehr erbaulich, sich die englische Proklamation und den Inhalt der Debatten zu Gemüte zu führen. Man kann dies in dem 16bändigen Werk von William Cobbet „Parliamentary Debates", London 1808—1811, im 8. Bde. von S. 115 und dann von S. 252 ab nachlesen. — Es war der Antrag gestellt worden, die Regierung aufzufordern, die Dokumente über ihre Verhandlungen mit Dänemark während der letzten Jahre dem Hause vorzulegen. — Einiges möge aus genanntem Werk hier zitiert werden: In der königlichen Proklamation heißt es unter anderem:

„Der König bedauert die traurige Notwendigkeit, die ihn gezwungen hat, feindselige Handlungen gegen eine Nation zu unternehmen, mit der er ernstlich bestrebt war, Beziehungen des gemeinsamen Interesses und der Bundesgenossenschaft zu unterhalten. Aber Seine Majestät hegt die unverbrüchliche Zuversicht, dass die gebieterische und nicht zu umgehende Pflicht eines Herrschers, für die unmittelbare Sicherheit seines Volkes zu sorgen, so lange es noch Zeit ist, eine Pflicht, welche allen anderen vorangehen muss, dieses sein Verfahren in den Augen Europas und der ganzen Welt, rechtfertigen wird."

(„While he [the kingl laments the cruel necessity which has obliged him to have recourse to acts of hostility against a nation, with which it was his majesty's most earnest desire to have established the relations of common interest and alliance, his majesty feels confident, that, in the eyes of Europe and of the world, the justification of his conduct will be found in the commanding and indispensable duty, paramount to all others amongst the obligations of a sovereign, of providing, while there was yet time, for the immediate security of his people.") (S. 115).

Es fand sich ein Naiver, der eine andere Auffassung hegte, er hieß Mr. Ponsonby. Der sagte u. a. :

„Kein Schriftsteller auf dem Gebiete des Völkerrechts oder einer anderen Rechtsdisziplin oder der allgemeinen Gerechtigkeit hat je die Lehre aufgestellt, dass wenn eine Macht einer anderen etwas nimmt, was das Eigentum der letzteren ist, dieses Verfahren irgendwie gerechtfertigt werden könnte, es sei denn, dass eine dritte Macht die Absicht und die Mittel gehabt hätte, dasselbe zu tun."

(„No writer of the law of nations, or of any other law, or on common justice, had ever maintained, that one power could be justified in taking from another power what belonged to it, unless a third power meant and was able to take the same thing.") (S. 256).

George Canning, der damalige Sir Edward Grey, gab Folgendes zum Besten:

„Wer wird zu behaupten wagen, dass wir verpflichtet waren, im Augenblicke unmittelbarer Gefahr und unabweislicher Notwendigkeit auf einen Schritt zu verzichten, den Voraussicht und Politik von uns heischten, um schlimme Gefahren abzuwenden, welche die Sicherheit unseres Daseins bedrohten. Hätten wir anders gehandelt und dadurch den Kürzeren gezogen, so hätten wir keinen anderen Trost als dass eine Autorität wie Pufendorf *), uns Beifall geklatscht hätte?“

(„Was it to be contended, that in moment of imminent danger and impending necessity, we should have abtained from that course, which prudence and policy dictated, in order to meet and avert those calamities that threatened our security and existence, because, if we sunk under the pressure, we should have the consolation of having the authority of Pufendorf to plead?") (S. 283).

*) Samuel von Pufendorf, ein deutscher Barbar aus dem 17. Jahrhundert, war einer der Begründer und berühmtesten Lehrer des Völkerrechts.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden