Einundzwanzigste Fortsetzung

Streitet, so viel Ihr wollt, ob es möglich sei, den Krieg überhaupt zu vermeiden, — dass es möglich war, diesen Krieg zu vermeiden, unterliegt keinem Zweifel. Kriege wurden geführt um schöne Weiber, um schöne Länder, um Herrschaft und Freiheit; es wurden Kriege geführt aus religiösen Motiven, oder weil eine Dynastie ihre Macht erweitern oder ihren Ruhm erhöhen wollte. Dieser Krieg wird um Geld geführt, damit die Revenuen der englischen Plutokratie nicht vermindert würden.

Ströme von Blut müssen fließen, damit sich der Goldstrom in die City von London stets in ungeminderter Kraft ergieße. Es ist im wahren Sinne des Wortes ein Goldkrieg. Das ist nun auch vom rein rechnerischen Standpunkt das Dümmste was sich denken lässt; denn Geld ist im Leben der Völker, auch wenn man das Leben ganz materialistisch, lediglich als physiologische und wirtschaftliche Funktion auffasst, der Güter niedrigstes. Von allen Arten des Reichtums ist der an Gold der wertloseste. Die unermesslichen materiellen Werte, eine Frucht unausrechenbarer Arbeit von Generationen, die dieser Krieg zerstört, lassen sich um alle Goldschätze der Welt nicht erkaufen. Und erst die vernichteten idealen Güter, das zerstörte Solidaritätsbewusstsein der europäischen Völker, die gehemmte Entwicklung der Kulturideen und deren Durchdringen zu den Massen — welcher heroischen Anstrengungen wird es bedürfen, um all das einigermaßen leidlich wieder von neuem anzufangen ! Zu den traurigsten Erscheinungen dieses Krieges gehört der Bankerott des westeuropäischen Intellektualismus, der sich selbst ins Gesicht schlägt, verleugnet, was er bis zum Ausbruch des Krieges gepredigt hat. Im Mai 1914 hielt der Professor der Philosophie an der Sorbonne und Mitglied der Académie Française Emile Boutroux in Berlin, zum Teil in deutscher Sprache, vor einem erlesenen Publikum einen Vortrag über die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes, mit dem erst der französische sich zu einer höheren Einheit ergänze. Und schon im Oktober verkündete er in London, der deutsche Geist sei stumpf, schwerfällig und nebelhaft, seine Bedeutung für die Geisteskultur sei minimal. Was war inzwischen vorgefallen? Die Zweiundvierziger hatten gesprochen und ihre Stimme hat die des intellektuellen Gewissens zum Schweigen gebracht. Die Académie des Sciences dekretierte, dass die exakten Wissenschaften und die Mathematik ausschließlich von Franzosen und Anglosachsen gemacht seien, die Deutschen hätten keinen Anteil daran . . . Die Kopernikus und Leibnitz und alle die anderen Leute ihresgleichen bis auf Helmholtz und Koch haben nie gelebt. In London hat man die deutsche Philosophie abgeschafft. Noch eine Menge ähnlicher Dinge haben wir mit Staunen erlebt. Die Römer hießen im Waffengeklirr die Musen schweigen. In London und Paris ist auch dem Unterschied von Mein und Dein Schweigen auferlegt worden: dort ist es untersagt, an Angehörige der feindlichen Länder Zahlungen zu entrichten. Aber nicht nur die Geldforderungen für gelieferte Waren, sondern auch die Dankesschuld an den Feind für geistige Leistungen ist kassiert worden.


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Zwei der gefährlichsten und verderblichsten Triebe: Hass und Neid, einer hässlicher als der andere, sind entfesselt worden und machen sich auf eine erschreckende Weise breit. Wenn ein Mann wie Lord Curzon sagte, er freue sich bei dem Gedanken, dass die Kosaken in den Straßen von Berlin ihre Lanzen schimmern lassen und die indischen Gurkhas und Shiks in den Gärten von Potsdam sich sonnen werden; wenn Lord Beresford in einer großen Versammlung verkündet, man müsse Deutschland so zerschmettern, dass das ganze Volk am Boden liege und gezwungen sei, seine ganze nationale und wirtschaftliche Existenz von Grund aus neu aufzubauen; wenn ein großer Naturforscher wie Sir William Ramsay, der überdies sein Wissen auf deutschen Hochschulen sich geholt und sein Können an deutscher Geistesarbeit geschult hat, erklärt, der „moralische Verfall" der Deutschen mache es äußerst unwahrscheinlich, dass internationale Verbindungen mit Individuen dieses Stammes wieder angeknüpft werden, bevor mehrere Generationen gekommen und gegangen sein werden; wenn in den höchstgebildeten und einflussreichsten Kreisen die Schlagworte umgehen: man müsse Deutschland erwürgen, erdrosseln, zerschmettern, zerstückeln, — so atmen alle diese Äußerungen einen solchen verbissenen, versteinerten Hass, dass er einen normalen Menschen mit Entsetzen erfüllen muss, um so mehr, als er bis in die höchsten geistigen Regionen hinaufreicht. Das lässt auf einen Vorrat von Herzenshärte und Gemütsrohheit schließen, die ans Zoologische grenzen. Es kommt hier ein atavistisches Heidentum zum Durchbruch, welches unter der Decke eines tausendjährigen Christentums fortwuchert.

Französische Künstler, Gelehrte und Denker, führende Geister ihrer Nation, ergossen eine Flut von Schmähungen und bewussten Verleumdungen über Deutschland, die an Verlogenheit und Boshaftigkeit alles übertrafen, auf was man in dieser trüben Zeit gefasst sein musste. Die Art, wie die hervorragendsten Pariser und Londoner Blätter von den beiden Kaisern sprechen, erinnert mit ihrer Schamlosigkeit und Unflätigkeit an das Getratsch missvergnügter und entlassener Bedienten, wenn sie sich in der Waschküche versammeln. Die Sache wirkt drollig, wenn man sich erinnert, dass dieselbe Londoner Presse bis zum Kriegsausbruch nicht müde wurde, die beiden Monarchen mit Schmeicheleien und Lobhudelungen zu überschütten. In Paris werden jetzt unter den Volksmassen in Millionen von Exemplaren Ansichtspostkarten und witzig sein sollende Bilder von namhaften Künstlern verbreitet, deren blutrünstiger und pervers-erotischer Inhalt jeder Beschreibung spottet, jedem Freund Frankreichs die Schamröte ins Gesicht treibt und auf die politischen und kulturellen Erzieher dieser von Haus aus edel gearteten Nation ein seltsames Licht wirft.

Nicht minder betrübend ist das völlige Schwinden der einfachsten Wahrheitsliebe und das Überhandnehmen einer krassen und zynischen Verlogenheit in der englischen und französischen Presse. Liest man alle diese Schilderungen von „Augenzeugen" über die in Wien und Berlin seit Kriegsausbruch herrschenden Zustände, über die Hungersnot, an der die Bewohner dieser Städte unaufhörlich dahinsterben, über die Unmassen von Krüppeln, die dort die Straßen füllen, über die fortwährenden Volksaufstände, über die persönliche Unsicherheit und die verzweifelte stumme Trauer, die die Bevölkerung umfangen hält, und beachtet jedesmal dabei die Ausbrüche tierischer Schadenfreude über die böse Not der feindlichen Zivilbevölkerung, — so weiß man nicht, ob man zuerst über die Lügenhaftigkeit der Zeitungsschreiber und die Leichtgläubigkeit der Leser lachen, oder über deren rohen Sadismus trauern soll.

Seit Ausbruch des Krieges verfolge ich aufmerksam die Publizistik und die sonstigen Äußerungen des öffentlichen Lebens in Deutschland und muss hier vor aller Welt bezeugen, dass die Deutschen im Hinblick auf die diesbezüglichen Leistungen ihrer Gegner sich mit vollem Recht sagen dürfen: „Wir Barbaren sind doch bessere Menschen." Als einige Witzblätter sich an den König der Belgier heranmachten, erteilte ihnen eine ernste Zeitschrift (Der Kunstwart) einen kräftigen Verweis, den die gesamte Presse, von der „Kreuzzeitung" bis zum „Vorwärts" aufnahm. Der Unfug hat sich seither nicht wiederholt. Und auch in den zornigsten und empörtesten Kundgebungen deutscher Geister waltet noch eine vornehme Zurückhaltung und überlegene Mäßigung. Kein Schrei wilden Hasses und geschwollenen Neides, wie sie aus dem Westen herüberhallen, ist hier laut geworden. Vielleicht aber entspringt das Verhalten der Engländer und Franzosen einem dumpfen Gefühl der Ohnmacht, die sich im Schelten, Schimpfen und Fluchen austobt. Das wäre immerhin ein mildernder Umstand.

Gewiss werden sie alle sich über kurz oder lang ihres Betragens tief in die Seele hinein schämen und es bereuen, sie werden zu ihrer Rechtfertigung ihre momentane Unzurechnungsfähigkeit anfuhren und ihren jetzigen Zustand als eine Art Kriegspsychose und geistige Alkoholvergiftung ansehen, und die volle Verantwortung für die „Taten", die sie geredet und geschrieben, ablehnen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden