Fünfte Fortsetzung

Herr Sasonow hat uns in dankenswerter Weise belehrt, dass die Juden in Russisch-Polen sich in „Feindesland" befinden. Ein schönes Wort! Gegenden, wo Juden wohnen, behandelt die russische Regierung als „Feindesland". Nun kann man sich leicht ausmalen, wie es den Juden in Galizien und der Bukowina ergeht, wohin die Russen als wirkliche Feinde und Eroberer kamen.

Seit den ersten südrussischen Pogromen in den Jahren 1881 und 1882 haben wir in Galizien Massen unserer russischen Brüder gesehen, die, wahnsinniges Entsetzen in den Augen, Verzweiflung in der Seele, aller Habe beraubt, sich durch» unser Land wälzten. Wir haben sie beherbergt, gepflegt und getröstet. Noch stand vor unsern Augen das schreckliche Bild der Pogrom-Waisen von Homel, die im Sommer 1906 unter der tiefsten Teilnahme der ganzen, auch der christlichen Bevölkerung, im Lemberger jüdischen Waisenhause Aufnahme fanden. Und je mehr die Russen in Ostgalizien vordrangen, desto mehr füllte sich die Hauptstadt Lemberg mit Flüchtlingen aus den kleineren Städten und Dörfern, die grauenhafte Schilderungen von den „Taten" der Kosaken gaben. Eine immer steigende Angst bemächtigte sich der Bevölkerung, insbesondere der Juden. Viel mehr als die Schrecken des Krieges fürchtete sie die Schrecken einer „friedlichen" Invasion der Russen. In immer größerer Anzahl flohen die Menschen nach dem Süden und dem Westen. Was nach dem Einrücken der Russen geschah, bestätigte nicht nur alle Befürchtungen, sondern überstieg sie in hohem Masse. Es ist hier nicht der Ort und nicht die Zeit, im einzelnen die Taten der russischen „Befreier" in diesen beiden unglücklichen Provinzen Österreichs darzulegen, das soll später einmal gründlich nachgeholt werden. Vorläufig mögen folgende wenige Stichproben genügen, um dem Leser ein Bild von den Leiden der Bevölkerung, insbesondere der Juden, zu entwerfen. Michael Sadoveanu, der weitaus bedeutendste unter den heute lebenden rumänischen Schriftstellern, ein Mann gleich ausgezeichnet durch geniale Schaffenskraft wie durch die Lauterkeit seines Charakters, veröffentlicht im „Universul" unter dem Titel : „Namenlose Schmerzen" eine erschütternde Schilderung der furchtbaren Gräuel, die die russische Soldateska an der friedlichen Bevölkerung in der Bukowina verübt hat. Sadoveanu lebt an der oberen Moldau, in der Stadt Falticeni, nahe der Grenze der Bukowina, und er hat vollauf Gelegenheit, das Elend der Flüchtlinge aus dem Buchenlande aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Dieser Tage, so schreibt er, bei einem Schneesturm, der wie ein grauer, beweglicher Flor Himmel und Erde bedeckte, kam an meine Tür ein Flüchtling aus der trauernden Bukowina. Es war ein Rumäne, mit tiefliegenden, leidvollen Augen, aus dem Distrikt von Gurahomora. Schnurrbart und Bart hingen ihm voller Eiszapfen, er stand da wie gebeugt unter einer furchtbaren Last und sprach mit heiserer Stimme von den schweren Zeiten, die Gott verhängt hat.


„Vorgestern früh", so erzählte er, „haben mir die Kosaken das Haus angezündet, dass es brannte, wie ein Streichholz. Damals, als sie ins Gebirge zogen, war es nichts Besonderes. Sie nahmen einfach weg, was ihnen in die Hand fiel, und auch das Weibervolk fand keine Schonung. Jetzt aber, als sie zurückkehrten, verjagt und geschlagen, da erst lernten wir alles Übel kennen. Sie kamen in Haufen und waren voller Wut. Sie verlangten rasch Heu und Hafer für die Pferde, und Essen für sich selber. Gleich darauf kam der Befehl, das Haus des Dorfrichters anzuzünden. Dann brachten sie den jüdischen Schankwirt, um auch ihm sein Teil zu geben. Einer spießte ihn mit der Lanze auf, und ein anderer, der Mitleid mit ihm hatte, schoss ihn vor den Kopf, um seine Qualen zu beenden. Daraufhin kamen Leute von den Unsrigen, und baten, dass man ihre Häuser und Habe vor Raub schütze. Auch sie wurden von den Soldaten aufgespießt und niedergeschlagen. Es war fürchterlich. Und in der herrenlosen Schenke floss der Branntwein aus den Fässern. Die Soldaten tranken sich toll und voll und gingen dann in die Häuser, um ihre Gelüste zu befriedigen. Sie kamen zu mir wie zu den anderen, ich weiß nicht mehr, wie viel es waren. Sie schändeten mein Weib vor den Augen der Kinder und vergewaltigten meine unreife Tochter vor den Augen der Eltern. Mich banden sie mit Stricken und warfen mich unter die Ofenbank, damit ich meine Schmach sehe und nichts tun könne, damit ich mich vergifte und nicht sterbe, damit ich lebe als der elendeste aller Menschen. Und ganz zuletzt steckten sie uns das Haus in Brand. Die Weiber liefen davon wie die Gluckhennen mit den Küchlein, wohin ihre Füße sie trugen, damit man sie nicht umbringe; und als der Brand aufhörte, als wir die ganze Arbeit unseres Lebens in Asche verwandelt sahen, da gingen auch wir in die weite Welt. Und so kam ich bei diesem Schneesturm an diese Tür."

Es sei betont, dass der „Universul" ein ausgesprochen russenfreundliches rumänisches Blatt ist, welches unaufhörlich zum Anschluss an Russland gegen Österreich hetzt.

Man denke sich nun die hier angeführten Tatsachen mit 10.000 multipliziert, und über ganz Galizien und die Bukowina zerstreut, und man wird ein schwaches Bild von dem bekommen, was diese beiden Provinzen und insbesondere ihre jüdische Bevölkerung von den Russen zu erdulden hatten.

Vor dem Einmarsch in die Bukowina erließen die Russen an die ruthenische Bauernbevölkerung einen Aufruf, in welchem sie sie aufforderten, die österreichischen Gendarmen und Juden zu ermorden, wofür ihr die Aufteilung des jüdischen Grundbesitzes, Getreides und Viehbestandes, sowie des sonstigen jüdischen Vermögens versprochen wurde. „Wo die Russen einmarschiert sind, dort fliehen die Juden und werden nimmer wiederkehren."

In Jablonitza in der Bukowina wurde ein Haus angezündet und verboten, etwas daraus zu retten. Der unglückliche Besitzer, ein Jude, holte sich, um in der kalten Nacht nicht zu erfrieren, trotzdem zwei Decken. Er wurde gekreuzigt und ein Posten bis zum Eintritt seines Todes aufgestellt. In Zuczka wurden mehrere Juden gehängt, darunter einer, weil er seine junge Frau vor der Schändung bewahren wollte. Am 17. Februar wurde in Storozynetz, südlich Czernowitz Isak Zellermayer aus dem Bette geholt und ohne Angabe von Gründen von vier Soldaten abgeführt und gehängt. Der Strick riss jedoch, worauf dem Gepeinigten der Hals durchgeschnitten wurde; dann wurden der Leiche die Augen ausgestochen und sie nackt im Schnee liegen gelassen.

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Doch wozu Einzelheiten aufzählen! Ich will einen Namen nennen, der mehr spricht als tausend einzelne Tatsachen: Nadwórna!

Im 16. und 17. Jahrhundert pflegten sich die Kosaken im Kampfe gegen Polen eines von den Tartaren entlehnten Kriegsmittels zu bedienen: wenn sie eine Festung stürmten, trieben sie mit Lanzenstichen und Gewehrfeuer Gefangene vor, die Säcke voll Erde auf den Schultern trugen, und unter dem Kugelregen ihrer eigenen belagerten Landsleute und Waffenbrüder die Laufgräben um die Festung ausfüllen mussten, wobei sie unter der Last begraben wurden. Diese grausame, unmenschliche Sitte ist aus dem Kriege zwischen zivilisierten Völkern seither verschwunden. Die Japaner haben oftmals gegen die russische Feldarmee Viehherden vorgetrieben, die das heftigste Feuer auffingen und unter deren Deckung die Soldaten heranmarschieren konnten. Die Russen haben in Galizien aufs neue den Brauch eingeführt, Menschen, wehrlose Menschen, zu diesem Zweck zu gebrauchen. Diese Menschen waren allerdings nur Juden. Nicht etwa Gefangene, sondern Nichtkämpfer, Greise, Frauen und Kinder. Vor Nadwórna, im Südosten Galiziens, geschah das Furchtbare. Die Russen brachten eintausendfünfhundert jüdische Familien zusammen und trieben sie vor die österreichische Front, während sie selber hinterdrein vorrückten. Die menschliche Sprache hat keine Worte, um das Grausame dieser Untat auch nur annähernd zu kennzeichnen.

Man male sich das Bild nur etwas deutlicher aus. Fünfzehnhundert Familien, also siebentausendfünfhundert bis achttausend Köpfe, lauter Greise, Frauen, Kranke und Kinder. Denn die Waffenfähigen standen alle im Felde oder waren vom Feinde längst in die Gefangenschaft verschleppt worden. Seit Monaten ertragen sie alle Schrecknisse des Krieges, leiden Hunger und Kälte, die Russen haben ihre Behausungen geplündert und verbrannt oder zerstört, ihre Habe vernichtet, sie haben sie beraubt, geschlagen und gemartert. Und nun haben sie sie zusammengetrieben, wie das Vieh, um sie zur Schlachtbank zu treiben. Vorwärts! Pascholl! Es knattern in ihrem Rücken die Revolver und Maschinengewehre, die Knuten zischen durch die Luft, mit Lanzenstichen und Kolbenstößen werden sie in die feuerspeienden Kanonenschlünde und Gewehrläufe der Österreicher hineingetrieben. Die Österreicher hören das Jammergeschrei und das herzzerreißende Stöhnen der Opfer, aber sie können nicht helfen, sie müssen unaufhörlich feuern, denn hinter der Schar der Unglücklichen schleicht sich der Feind heran; stellen sie das Feuer ein, so werden sie von den Russen überrumpelt, die Schlacht ist verloren. Und siebentausend bis achttausend Menschen, wehrlose, unschuldige Greise, Frauen und Kinder müssen, ohne zu kämpfen, ohne sich wehren zu können, auf dem Schlachtfelde verbluten.

Ihr Juden von Amerika! Merkt Euch Nadwórna und was dort geschah! Denkt immer daran und vergesst es nie! Sprecht davon zu Euern Nachbarn, Bekannten und Freunden, zu Juden, Christen, Mohammedanern und Heiden, zu allen Rassen und Völkern, die Amerika bewohnen. Und wer von Euch einen Brief schreibt, nach einem nahen oder nach einem fernen Lande, nach Afrika, Australien oder Asien, der vergesse nicht, Nadwórna und was dort geschah, zu erwähnen. Das soll sich dem Gedächtnis der Menschen in der ganzen Welt einprägen auf ewig. Bedenkt: Wenn Ihr dort wäret, Ihr müsstet ebenfalls sterben. Mit Euren Greisen und Kindern, schwangeren Frauen und Kranken, an einem kalten Winterabend, auf freiem Felde, zwischen zwei Feuer genommen, ohne Euch wehren zu können! Siebentausendfünfhundert Menschen zu einem formlosen Brei zusammengeschossen, das Brüllen der Kanonen, das Knattern der Gewehre wären das einzige Totengebet bei Eurem Sterben. Und nicht einmal ein ehrliches Grab würdet Ihr finden, sondern unter dem Schnee verscharrt werden, und später würden ausgehungerte Hunde Eure bleichenden Knochen hinwegschleppen. Auch jene dort vor Nadwórna haben ja nichts verbrochen, als dass sie Juden waren. Und darum mussten sie sterben, siebentausendfünfhundert an der Zahl!

Ihr Juden Amerikas! Wie viele von Euch mögen unter den siebentausendfünfhundert oder achttausend Opfern von Nadwórna eine alte Mutter, eine junge Schwester oder gar eine Gattin und kleine Kinder haben, oder wenigstens einen Blutsverwandten oder einen lieben Freund! Wie viele von Euch mögen wohl auf der Flucht vor einem russischen Pogrom bei manchem von ihnen Obdach gefunden oder an einem traulichen Freitagabend an seinem Tische gesessen haben! Und nun mussten sie alle von den Kartätschen zermalmt werden, um den Soldaten des Zaren als Deckung zu dienen.

Sorgt dafür, Ihr Juden Amerikas, dass Nadwórna in Russland unter den dortigen Juden bekannt werde, unter den 350.000 jüdischen Soldaten, die sich in der russischen Armee für den Zaren schlagen, damit sie genau wissen, wofür sie sich schlagen, und unter den Juden, die sich für das englische Heer anwerben lassen, damit sie wissen, wer der Bundesgenosse Englands ist und was ihre Brüder auf dem ganzen Erdball erwartet, wenn er Sieger bleibt Erfahren sollen es die Barone von Rothschild und von Günzburg, die im englischen und im französischen Heere als Offiziere dienen, um dem Zaren zum Siege zu verhelfen, damit der Name Nadwórna sich ihnen ins Herz und Hirn brenne und noch in der Todesstunde ins Ohr gelle und in ihr Totengebet und in ihre letzte Beichte hineinschalle. Und wenn Lord Rothschild in London Euch sagen lässt, er habe tausend Pfund goldene Sterling für die Juden in Polen geschenkt, so antwortet ihm: Nadwórna! Und wenn Mr. Zangwill und Professor Gottheil Euch von dem goldenen Zeitalter sprechen, welches über uns heranbrechen werde, wenn erst der „teutonische Übermensch" durch die Kosaken vernichtet ist, so antwortet ihnen: Nadwórna! Und wenn die Belgier zu Euch kommen und um Euer Mitleid betteln und Euch vorjammern, dass die deutschen Hunnen ihre schönen Kirchen und alten Rathäuser zerschossen haben, so antwortet ihnen: Nadwórna! Und fragt sie, ob denn der schönste Kirchturm und das älteste Rathaus mehr sind als ein Haufen von Steinen im Vergleich mit einem einzigen lebenden Menschen, mit siebentausendfünfhundert bis achttausend lebenden Menschen, die nicht aus dem Hinterhalt geschossen, keine Waffen getragen, nichts verbrochen haben, als dass sie Juden waren und ihrem alten Kaiser die Treue bewahren wollten.

Hütet Euch aber, dem russischen Volk als solchem Hass und Groll nachzutragen, oder gar an einzelnen Russen Rache zu nehmen, und sie die Schandtaten ihrer Regierung entgelten zu lassen! Das russische Volk ist der große Stumme, zum Schweigen verdammt; und in ihm schlummern viele edle Kräfte. Viele russische Männer und Frauen sind über Nadwórna gewiss nicht weniger entsetzt als wir Juden. Tolstoi und Solowiew und Korolenko und Krapotkin und Andrejew und Gorki und Tschirikow und viele, viele andere, deren Namen kein Mensch zu nennen weiß, sogar Dostojewski, der Mann mit der kranken, finsteren, hasserfüllten Seele, müssen sich mit Abscheu und Trauer von dem grauenerregenden Bild von Nadwórna abwenden. Das russische Volk hält ein böser Geist, gefangen, welcher sich in dem armseligen Schwächling auf dem Zarenthrone und in dem Bluthund Nikolai Nikolajewitsch verkörpert, der hinausgezogen ist, um an Frankreichs und Englands Seite für Kultur und Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu kämpfen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden