Neunzehnte Fortsetzung

Einige der großen Städte haben die Russen verschont und „verwalten" sie. So namentlich Lemberg. „Lwów", die Hauptstadt Galiziens, ist nicht nur in der polnischen, sondern auch in der jüdischen Geschichte ein berühmter Name. In der Stadt befinden sich Denkmäler der polnischen Vergangenheit, welche nicht nur den polnischen, sondern den Juden der ganzen Welt ehrwürdige Erinnerungen wecken. So die alten Synagogen. So die Häuser, in denen ehemals der große Polenkönig Johann Sobieski wohnte. (Die von diesem König in der nahegelegenen Stadt Žolkiew erbaute wunderschöne Synagoge mit ihrer weithin sichtbaren Kuppel ist von den Russen in Trümmer geschossen worden). Lemberg bildete eine der ältesten und berühmtesten jüdischen Gemeinden. Diese war bis in die neueste Zeit hinein der Sitz jüdischer Gelehrsamkeit, der Rabbiner von Lemberg nahm eine in der ganzen jüdischen Welt hochgeachtete Stellung ein. An die Rabbinen von Lemberg ergingen aus der ganzen Welt: aus Kanada, aus Südafrika, sowie aus Indien und aus Algier Anfragen in Dingen, die das religiöse Leben betrafen. Lemberg war eine der Städte, wo die moderne Wissenschaft des Judentums entstanden ist und ausgebaut wurde. Lemberg sowie Galizien überhaupt hat zahlreiche Männer hervorgebracht, welche auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft und Kunst Rühmliches geleistet und dem jüdischen Namen in der ganzen Welt Ehre gemacht haben. Aus Galizien stammen sehr zahlreiche Gelehrte und Rabbinen, die heute in der ganzen Welt, insbesondere in Amerika, als Führer, Lehrer und Prediger an der Spitze der jüdischen Gemeinden stehen.

Wie sieht es heute in Lemberg aus?


Unter der Bevölkerung herrscht Hunger und Kälte. Jene österreichischen Staatsbeamten, die nicht flüchten konnten, können ihre Gehälter nicht ausbezahlt erhalten. Nun versuchte die österreichische Regierung durch den amerikanischen Botschafter in Petersburg an den katholischen Erzbischof von Lemberg, Dr. Joseph Bilczewski, einige Millionen zu senden, damit er den notleidenden Beamten die Gehälter ausbezahlte. Die russische Regierung widersetzte sich dem und erklärte, sobald das Geld an den Erzbischof anlange, würde sie es konfiszieren. Die Beamten sollen weiter hungern, damit sie mürbe werden, ihren österreichischen Beamteneid brechen und in den Dienst der russischen Regierung treten. Die Bevölkerung von Lemberg hat sich, obschon ein großer Teil der Bewohner geflüchtet ist, durch den Zustrom der Entflohenen aus der Provinz enorm vermehrt. Da in Russland Lebensmittel reichlich vorhanden sind, wäre es leicht, die Bewohner vor Hunger zu schützen. Aber die unfähige und diebische russische Verwaltung kann und mag das nicht zuwege bringen. So ist denn die Bevölkerung, namentlich die mittleren und die unteren Schichten, der äußersten Not preisgegeben. Besonders schwer leiden die Juden. Handel und Gewerbe stocken vollkommen, die Wohnungen der Entflohenen wurden geplündert, die Geschäfte und Läden ausgeraubt. Die Lebensmittelpreise sind ungeheuer in die Höhe gegangen. Da griff die russische Verwaltung ein — und gründete einige Krippen für „russische" Kinder. Wer sein Kind an der Krippe mit einem Löffel warmer Suppe und einer Krume Brot sättigen will, muss ein Zeugnis beibringen, dass das Kind orthodox getauft ist. Ist das nicht der Fall, so besorgt es der russische Pope, der stets zur Hand ist. Man sieht, Russland arbeitet, wie das Sprichwort sagt, mit beiden Fäusten, die eine ist offen, die andere geballt. Dadurch wird auf die Ruthenen in Lemberg ein Hungerzwang ausgeübt, dass sie in den Schoss der orthodoxen Kirche „zurückkehren". Da die Ruthenen aber nur 14 Prozent der Lemberger Bevölkerung bilden, so kommt diese Wohltätigkeit sehr billig zu stehen. Mitte Januar, als die Not in Ostgalizien am größten war, gingen dorthin aus Russland 20 Waggons Liebesgaben ab. Sie enthielten: einige Millionen russische Heiligenbilder, einige Millionen Bilder des Zaren und seiner Familie, sowie der berühmten Minister und „siegreichen" Heerführer, einige Waggons waren voll Messgewänder und Messgeräte für die anstelle der vertriebenen griechisch-katholischen im ganzen Lande einzusetzenden russisch-orthodoxen Geistlichen; einige Waggons waren voll von Gebetbüchern, andere von Fibeln und Lehrbüchern für die zu gründenden russischen Schulen. Das klassische Land des Analphabetentums versorgt uns mit Schulbüchern! Die Juden insbesondere konnten von dieser edlen Seelenspeise nicht satt werden.

Der Korrespondent des Petersburger Nowy Woschod hat Lemberg besucht und entwirft grauenvolle Bilder von dem Elend der dortigen Juden. Die Wohlfahrts- und Fürsorgeinstitute der jüdischen Gemeinde: Spital, 2 Waisenhäuser, Altersversorgungsanstalt, Siechenhaus, Armenhaus, Volksbank, ferner alle Wohltätigkeitsvereine, Schulen, Fröbelanstalten und Kinderhorte sind geschlossen. Die Gemeinde als solche hat zu existieren aufgehört. Nicht einmal die Gottesdienste können regelmäßig abgehalten werden, die russische Polizei duldet keine Ansammlungen. Von allen öffentlichen Institutionen der Gemeinde funktioniert nur noch — der Friedhof, in dem es sehr, sehr viel zu tun gibt. Unter den 60.000 Juden der Stadt wütet der Hunger und die Kälte. Jeden Morgen drängen sich vor den Türen der Synagogen Haufen von Frauen mit nackten hungernden Kindern. Viele haben vor Hunger und Leiden den Verstand verloren. In den Straßen irren Rudel von Wahnsinnigen herum. Der Korrespondent bot einem Greis, der ihn anbettelte, eine Geldmünze; der Arme warf sie weg und heulte: „gebt mir doch lieber ein Stück Brot!"

Einigermaßen wird die Not der Bevölkerung gelindert durch die aufopferungsvolle Tätigkeit des zweiten Bürgermeisters Dr. von Rutowski und des zweiten Präsidenten der jüdischen Gemeinde Dr. Diamant. Es sind über vierzig Speisehäuser für die ärmsten Kreise der Bevölkerung errichtet worden, darunter fünf jüdische, in denen für einen geringer Preis warmes Essen verabreicht wird.

Man sieht, das Morgenrot der von Mr. Israel Zangwill und Professor Richard Gottheil verheißenen neuen Epoche ist über uns schon hereingebrochen.

                                          **********************

Wie aber wird sich die Zukunft gestalten, wenn Russland die besetzten Gegenden behalten sollte?

Bisher endete die Macht des Zaren an den östlichen Grenzens Österreichs und Preußens. Westlich von diesen Grenzen fanden die Juden vor den Pogromen eine Zuflucht. Fortab wird sie die Knute bis in das Herz von Mitteleuropa verfolgen.

Wohin werden die russischen Juden sich künftighin vor Verfolgungen retten?

In Galizien aber wird die russische Regierung wahrscheinlich so gnädig sein, zunächst eine kurze Übergangszeit festzusetzen, damit die Juden sich den neuen Zuständen „anpassen" können. Sie werden mittlerweile ihren Grundbesitz aufzugeben haben *), dann wird man einen Ansiedlungsrayon abgrenzen, auf den sich ihr Wohnrecht beschränken wird. Aber auch innerhalb dieses werden sie nur in den Städten, nicht aber auf dem flachen Lande wohnen und ein Gewerbe oder Handel treiben dürfen. Die Juden von Lemberg und von Krakau z. B. werden Ausflüge in die nächst gelegene Umgebung oder gar nach Kurorten, wie Krynica oder Zakopane nicht machen dürfen. Zu den öffentlichen Volksschulen, (deren Zahl übrigens sicher auf das minimalste beschränkt werden wird), werden ihre Kinder gar keinen Zutritt haben, ihre eigenen Schulen werden sie nur unter sehr schwierigen Bedingungen oder überhaupt nicht eröffnen dürfen. Der Zutritt zu den Mittelschulen wird ihnen höchstens bis zu 10% freistehen, zu den Hochschulen nur bis drei oder fünf Prozent. Im Auslande aber werden sie als „Russen" überhaupt nicht mehr zugelassen werden. Bisher fanden in Galizien hunderte jüdischer Männer und Frauen ihren ehrenvollen Erwerb im Staats-, Landes- oder Gemeindedienst aller Art, im Verkehrswesen (Post, Eisenbahn usw.), bei der Finanzbehörde, im Schulwesen, in der Justiz. Später wird ein Jude nicht einmal Portier eines Amtsgebäudes, geschweige denn Universitätsprofessor oder Richter werden dürfen. Die meisten freien Berufe werden ihnen ganz oder zum größten Teil verwehrt sein. In die Handwerkerinnungen und Zünfte werden sie nicht aufgenommen werden können, daher wird ihnen die Ausübung der meisten Handwerke unendlich erschwert oder vollends unmöglich gemacht werden. Genossenschaften und Vereine zur wirtschaftlichen Selbsthilfe werden sie nicht gründen dürfen. Die Massen werden immer mehr ins Elend und ins Lumpenproletariat hinabgedrückt werden, wie es jetzt im russischen Ansiedlungsrayon systematisch geschieht. Nur einige Reiche werden, aber nicht ohne Hilfe von ausgiebiger Bestechung, ihren Reichtum behalten oder ihn noch vergrößern können.

*) Die Petersburger „Birschewija Wiedomosti" veröffentlichten jüngst einen vom „Generalgouverneur" von Galizien, Bobrinski, ausgearbeiteten Plan, wonach schon jetzt an die Liquidation des jüdischen Grundbesitzes in Galizien geschritten werden soll, da die Gesetzgebung in diesem Gebiet der echtrussischen angepasst werden müsse.


Die jüdischen Gemeinden in Galizien, die autonome Körperschaften bildeten, und sich eines gesetzlich gewährleisteten, hohen Ansehens erfreuten, werden zu tolerierten, vollkommen bedeutungslosen Vereinigungen herabsinken, über die die niedrigsten Polizeiorgane die Aufsicht führen werden. Das jüdische Vereins wesen wird aufhören. Dass es den Juden verboten sein wird, politische Vereine zu gründen, bedarf nicht erst der Erwähnung, aber auch die Lese-, Sport- und Turnvereine, die in den letzten Jahren eine so rege und segensreiche Tätigkeit entfaltet haben, die Zionistenverbände, die Schulvereine, welche zahlreiche hebräische Schulen im ganzen Lande unterhielten, werden verschwinden. Nur die Begräbnisbrüderschaften werden fortexistieren dürfen . . . Sollte eine Art Wahlrecht eingeführt werden, so werden die Juden zweifellos davon ganz ausgeschlossen oder es nur im allergeringsten Masse besitzen. Wahrscheinlich wird es von der Regierung, wie in Warschau, dazu missbraucht werden, um in perfider Weise die jüdischen und die christlichen Wähler gegeneinander aufzuhetzen und auszuspielen. Von der Verwaltung der von ihnen selber schön, reich und groß gemachten Städte werden die Juden ausgeschlossen sein; dass ein Jude je Bürgermeister werden könnte, ist undenkbar.

Der russischen Regierung zuzumuten, dass sie bei etwaiger Verteilung der Mittel zum Wiederaufbau des zerstörten Landes die Juden gleich den andern behandeln solle, wäre Wahnsinn. Wahrscheinlich wird sie sogar die internationale, besonders die amerikanische Hilfstätigkeit hindern, und die Juden auf jede Weise zu berauben suchen. Dafür aber werden wir Juden besonders sorgfältig behandelt werden durch die Schreckensherrschaft, welche ohne Zweifel errichtet werden wird, um die Gesinnung der Bevölkerung auszuspionieren, die — übrigens sehr mit Recht — verdächtig sein wird, der früheren Regierung anzuhängen und ihr im Herzen nachzutrauern. Die russische Zensur wird über unseren Geist wachen, wird uns vorschreiben, was wir denken, was wir lesen und was wir drucken dürfen. Die Ochrana wird durch ihre Spitzel und Spione dafür Sorge tragen, dass unsere Gesinnung vor dem Zaren und dem heiligen Synod stets Gefallen finde. Wir werden die Wonnen der Prügelstrafe zu kosten bekommen. Für die nächsten Jahre schon darf man sich auf einige niedliche Beilis-Prozesschen gefasst machen. Das Leben wird uns zur Hölle werden.

Und eine Zukunftshoffnung wird sich uns eröffnen; sie heißt: „Sibirien!"

Aber Mr. Zangwill in London belehrt uns, dass das jüdische Volk alle diese Schrecknisse und Leiden freudig auf sich nehmen müsse, denn alle diese Schrecknisse und Leiden dienen einem höheren Zweck. England braucht sie, um — — den deutschen Militarismus niederwerfen zu können! Die nächste Folge dieser Zustände aber wird sein, dass die gequälte und ausgesogene Bevölkerung, besonders die jüdische, aus den an Russland gefallenen Provinzen in großen Massen nach Amerika auswandern wird. Amerika muss mit einer gewaltig anschwellenden Emigration rechnen. Alle Prohibitivmaßregeln und Alien-Bills werden nichts nützen, denn es wird eine elementare Gewalt sein. Wenn die amerikanischen Juden sich vor schweren Angriffen auf ihre bürgerliche Gleichberechtigung und die Vereinigten Staaten von Nordamerika vor einer wirtschaftlichen Katastrophe schützen wollen, so ist es klar, was für einen Ausgang dieses Krieges man in Amerika wünschen muss!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden