Dreizehnte Fortsetzung

Aus der Rede des Abgeordneten Milnes sei folgender Satz angeführt:

„Es ist kein Zweifel: kein natürliches Recht ist durch die Maßregeln verletzt worden, die wir ergreifen mussten, um unsere eigene Rettung zu sichern. Die schädlichste aller Auffassungen der Moral ist jene, die fordert, eine Möglichkeit der Selbsterhaltung ungenützt zu lassen."


(„He maintained that no law of nature could be violated by the measures taken by us to ensure our own safety. It was the most flagitious of all descriptions of morality tliat would allow the opportunity of self-preservation to pass by unimproved.") (S. 296.)

Und der große Lord Palmerston Hess sich folgendermaßen vernehmen:

„Ein sehr ehrenwerter Gentleman hat hier viel von Völkerrecht, von Gerechtigkeit und Politik gesprochen. Ich bin ebenso geneigt und entschlossen wie irgend jemand sonst, diesen höheren Mächten den Zoll meiner Achtung zu entrichten und ihre Hochhaltung zu empfehlen, so lange es die Umstände erlauben. Allein es kommt vor, dass Mancher viel von diesen Sachen redet, ohne viel davon zu verstehen; daraus folgt ein unrichtiger Gebrauch der Ausdrücke und eine Verwechslung der Begriffe. Im gegenwärtigen Falle bin ich erfreut, bemerken zu können, dass wir diese Mächte nicht ohne Notwendigkeit abgeschafft haben. Anders ausgedrückt: dass wir sie in der eigentlichen Bedeutung des Naturrechts angewendet haben, welche die Selbsterhaltung gebietet und befiehlt."

(„Much had been said by a right honourable gentleman on the law of nations, on right and policy; he was as ready and willing as any man to pay his tribute of respect to them and to recommend their application, whenever circumstances would permit it; he was afraid, however, that although much talked of, they were little understood; the consequence of which was, that many persons abused the terms and tock one for the other. In the present instance he was glad to observe, that we did not suspend them without necessity, or in other words, that we used them in conformity to the law of nature, which dictated and commanded self-preservation.") (S. 300).

Es möge noch folgendes Pröbchen angeführt werden: Ein Abgeordneter, namens Lushington, sagte:

„Das oberste Gesetz des Naturrechts, die Grundlage allen Völkerrechts, ist die Selbsterhaltung. Auf die Kenntnis der Natur des Menschen muss sich die Wissenschaft von seinen Pflichten gründen. Wenn er eine mächtige Gefahr auftauchen sieht, und sein Verstand ihm die Mittel, diese Gefahr abzuwehren, eingibt, so muss er den sophistischen Schwätzer mit Verachtung zurückweisen, der ihm einreden will, dass .es seine moralische Pflicht gegen andere sei, ruhig zu warten, bis die Gefahr über sein törichtes Haupt hereinbricht, damit er dem Gegenstand, von dem ihm die Gefahr droht, nur ja keinen Schaden zufüge. Auf diesen allgemeinen Grundsatz des Naturrechts gestützt, behaupte ich, dass unsere Expedition gegen Kopenhagen sittlich gerechtfertigt, jedenfalls aber notwendig war."

(„The first law of nature, the foundation of the law of nations, is the preservation of man. It is on the knowledge of his nature, that the science of his duty must be founded. When the feelings point out to him a mighty danger and his reason suggests the means of avoiding it, he must despise the sophistical trifler, who teils him, it is a moral duty he owes to others to wait tili the danger break upon his foolish head, lest he should hurt the meditated instrument of his destruction. Upon this general principle of the law of nature and of nations I maintain the morality and certainly the necessity of the expedition against Copenhagen.") (S. 308).

Die Sache endigte damit, dass der Antrag der Opposition mit 253 gegen 108 Stimmen abgelehnt und der Regierung somit völliges Vertrauen votiert wurde. Das englische Parlament hat damit der Welt eine denkwürdige Lektion im Völkerrecht gegeben. Gibt es einen Menschen in der Welt, der glaubt, dass das heutige Unterhaus in einer ähnlichen Frage zu einem anderen Resultat kommen würde?

Zum Überfluss haben die Deutschen in Brüssel ein Schriftstück entdeckt, in welchem von einer „Convention" zwischen der belgischen und der englischen Militärbehörde die Rede ist. Von belgischer Seite wird versichert, dass das Wort „conversation" zu lesen sei und nur eine „unverbindliche Besprechung" betreffe, die mit England als einer der Garantiemächte geführt wurde, zu dem Zweck, die Neutralität Belgiens um so besser zu gewährleisten. Aber den Deutschen kann man es nicht verargen, wenn sie sich wundern, warum denn eine solche „conversation" zufällig nur mit England und nicht auch mit Deutschland geführt worden ist! Durften Kaiser und Kanzler die Verantwortung auf sich nehmen, ehe sie sich's versahen ein englisches Heer im Rücken zu haben, um dafür das Lob zu ernten, dass sie genau nach den Vorschriften des Völkerrechts gehandelt haben, ohne um Haaresbreite von der Ansicht Samuels von Pufendorf abzuweichen, und dafür von den Engländern düpiert worden sind? „Ich brach die Neutralität, bevor die Neutralität mich brach!" Als der Reichskanzler zum englischen Botschafter sagte: „Wegen eines Fetzens Papier wollen Sie mir den Krieg erklären?" antwortete der Botschafter Großbritanniens mit unvergleichlicher Majestät: „Auf diesem Fetzen Papier steht die Unterschrift Englands!" Nun, es gibt noch einen anderen Fetzen Papier, auf dem die Unterschrift Englands steht! Das ist der Berliner Vertrag von 1878. Auf diesem Fetzen Papier steht geschrieben, dass Rumänien verpflichtet sei, seinen Juden alle Bürgerrechte zu gewähren, und England hat bis heute noch nicht einen Finger gerührt, um die Heiligkeit dieses Fetzens Papier zu schützen!

Wer aber ist mit bösem Beispiel vorangegangen, wer hat der Welt gezeigt, dass das von den deutschen Barbaren seit dem 17. Jahrhundert ausgebaute Völkerrecht der Macht zu weichen habe? England! und wer hat jetzt durch seine Ränke und Schliche Deutschland vor die tragische Wahl gestellt, entweder das Völkerrecht zu verletzen oder sich eine heillose Niederlage zu holen und zum Schaden auch noch den Spott zu ernten? England!

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Gewiss ist das Schicksal Belgiens unsagbar tragisch, es gehört zu den schrecklichsten Schrecken dieses Krieges und wird noch nach Jahrhunderten die Menschen erschauern machen. Es ist das Schicksal, von welchem schon oft ein kleines und schwaches Land zwischen großen und mächtigen Nachbarn betroffen wurde. So schauerlich die Verwüstungen sind, die der Krieg in meinem eigenen Vaterlande Galizien und Russisch-Polen angerichtet hat, mir will das Herz brechen, wenn ich an die schönen Städte und Weiler Belgiens denke, die zerstört, an die blühenden Fluren, die zertreten, an die Werkstätten emsiger, gesegneter Arbeit, die verbrannt und zerschossen worden sind. Und wäre nicht der Jammer und das Elend meines eigenen Volkes so abgrundtief, ich wäre der erste, die Juden in der ganzen Welt aufzufordern, den Belgiern Hilfe zu bringen. Mich als Juden ergreift das Unglück um so schwerer, als es mich an das Verhängnis erinnert, von dem meine Vorfahren in Palästina wiederholt ereilt wurden. Aber wer hat das heraufbeschworen, wer anders als die belgische Regierung, die der furchtbaren Aufgabe nicht gewachsen war, die Neutralität eines kleinen Landes mitten zwischen rivalisierenden Großmächten zu wahren; von dem Glanz Englands sich blenden ließ und in seine Netze ging; vielleicht auch von der Sprachverwandtschaft mit Frankreich angezogen, den Lockungen nicht widerstehen konnte, gegen die Deutschen Partei zu ergreifen? Die Vermutung liegt nahe, dass schon König Leopold, dieser König unter den Jobbern und Jobber unter den Königen, die Intrige eingefädelt hat. Sein unglücklicher Nachfolger, dem kein Mensch in der Welt Hochachtung und tiefstes Mitgefühl versagen wird, war wohl zu schwach, um gegen den Willen seiner Minister die auswärtige Politik seines Landes in ein gesundes Fahrwasser zu lenken. Belgien hat jedenfalls sein Schicksal nicht verdient. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, zu behaupten, das Land erleide jetzt gerechte Strafe für die Kongogräuel. Diese waren das Werk König Leopolds und seines Stabes allein, und ihretwegen haben sich die Belgier mit ihrem König entzweit. Ebenso unstatthaft ist es, aus dem Verhalten der Bevölkerung den ausgewiesenen Österreichern gegenüber, oder aus den blutigen Untaten der Franktireurs Schlüsse auf einen bösartigen Charakter der Belgier zu ziehen. Das Verhalten den Österreichern gegenüber war gewiss sehr tadelnswert, um so mehr, als die Ausgewiesenen fast durchweg Galizier waren, und Belgien aus dem galizischen Petroleumgebiet Millionen gezogen hat, und zahlreiche Belgier und Franzosen in Galizien unbehelligt lebten, während die Galizier in Antwerpen z. B. von Publikum und Behörden drangsaliert und brutal behandelt worden sind. (Es sind indessen auch Fälle bekannt geworden, wo einzelne Belgier ausgewiesenen Nachbarn gegenüber sich sehr vornehm und liebevoll benommen haben.) Man muss aber folgendes bedenken: das Volk hatte von den Machenschaften seiner Regierung keine Ahnung und sah in der Invasion der Deutschen einen schmählichen Neutralitätsbruch und eine Vergewaltigung durch die Übermacht. Eine im Solde Frankreichs und Englands stehende Presse hatte ja seit Jahren die Stimmung geschickt vorbereitet. Was Wunder, dass die Bevölkerung in ohnmächtiger Wut und Erbitterung sich zu unbesonnenem Handeln hinreißen ließ? Solche in äußerster psychischer Erregung begangenen Handlungen sind aber nicht kennzeichnend für das innere Wesen einer Bevölkerung. Die Belgier haben übrigens ihre Unbesonnenheit so schwer gebüßt, dass es ein Frevel ist, sie auch noch zu schmähen. Sie sind ungewöhnlich tüchtig, hochbegabt, arbeitsam, friedliebend, gastfreundlich, lebensfroh und verdienen die wärmste Sympathie. Sie haben zur europäischen Geschichte einige der schönsten Blätter beigesteuert. Beide das Land bewohnende Stämme haben auf allen Gebieten geistiger und materieller Arbeit mehrere bedeutende Männer hervorgebracht. Schade nur, dass ihre Regierung nicht eine aufrichtigere und dem westlichen Nachbar gegenüber festere Politik geführt hat. Zur Entschuldigung darf man aber auf das böse Beispiel Frankreichs hinweisen, welches, obschon ungleich widerstandsfähiger, sich ja ebenfalls von England ins Schlepptau nehmen ließ.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden