Siebente Fortsetzung

Frankreich und England haben Krieg gemacht, damit die russische „Kultur" sich über Galizien ergieße und die Galizier gezwungen werden, Russisch zu lernen. Man lernt gern, besonders, wenn es ohne Zwang geschieht, eine fremde Sprache. In Galizien lernt jeder halbwegs Gebildete aus ideellen und aus praktischen Gründen Deutsch, die Meisten beherrschen diese Sprache in Wort und Schrift wie eine Muttersprache. Die deutsche Sprache eröffnet ihnen den Zugang zu den höchsten Schätzen des Menschengeistes, zu allen Literaturen der alten und der neuen Zeit, deren Meisterwerke sämtlich in trefflichen deutschen Übersetzungen vorliegen. In allen Zweigen der Natur- und der Geisteswissenschaften sowie der Technik und der praktischen Fächer besitzt man hier ein schier unübersehbares Schrifttum. Für den Kaufmann und Reisenden, der mit Europa in Verbindung steht, ist Deutsch unentbehrlich. Diese Sprache ist für ganz Osteuropa die Weltsprache. Wenn die Panslawisten zusammen kommen, um über die Vernichtung des Deutschtums zu beraten, so verständigen sie sich untereinander nicht etwa auf Russisch, sondern auf Deutsch. Das Archiv für slawische Philologie, an dem die Slawisten der ganzen Welt mitarbeiten, erscheint in deutscher Sprache zu Berlin. Die besten Lehr- und Wörterbücher, sowie Literaturgeschichten aller slawischen Idiome sind in deutscher Sprache abgefasst. Trotz der Misshelligkeiten, die infolge der nationalen Kämpfe der letzten Jahrzehnte zwischen Polen und Deutschen entstanden sind und trotz der berechtigten Klagen der Polen über gewisse Maßregeln der preußischen Regierung fällt es bei uns keinem Kulturmenschen ein, den Einfluss der deutschen Kultur zu verkleinern. Den hundertsten Todestag Schillers, 1905, begingen die höchstgebildeten Kreise in Krakau durch eine Erinnerungsfeier, bei der der Präsident der Krakauer Akademie der Wissenschaften, Professor der polnischen Literaturgeschichte an der dortigen Universität, Graf Stanislaw Tarnowski, Spross eines der ältesten und angesehensten polnischen Hochadelsgeschlechter, die Gedenkrede hielt.

Russisch dagegen fiel bei uns keinem ein zu lernen, wenn er nicht etwa Slawist von Fach oder aber . . . Russophile von. Beruf war. Die Handelsbeziehungen zu Russland sind sehr gering und beschränken sich auf die westlichen und südlichen Gouvernements, es genügt hierfür also die Kenntnis des Ruthenischen und Polnischen vollkommen. Wissenschaft und Philosophie ist aus Russland nicht zu holen. Was dort an diesen Artikeln produziert wird, ist durchwegs deutschen oder westeuropäischen Ursprungs. Wenn ein russischer Gelehrter oder Denker Wertvolles zu verkünden hat, bedient er sich der deutschen Sprache. Die besten Erzeugnisse der russischen Poesie und Prosa waren bei uns auch ohne Kenntnis des Russischen wohl bekannt, fast ausnahmslos aus deutschen Übersetzungen. Wozu also die schwierige russische Sprache mit ihrem krausen Alphabet von 45 Buchstaben lernen! Das wäre müßige Zeitvergeudung. Wer Zeit und Talent zu Sprachstudien hatte, lernte gern Französisch, welches in den Oberschichten seit jeher als eine Art Luxus verbreitet war, und Englisch, welches in den letzten Jahren mehr und mehr an Bedeutung gewann. Zahlreiche französische und englische Lehrkräfte fanden denn auch bei uns ihr gutes Auskommen. Jetzt wird uns die russische Regierung das nutz- und zwecklose, aber schwierige und zeitraubende Studium des Russischen aufdrängen. So lange die Jugend die russische Schule besucht, wird sie es sich eintrichtern lassen, es aber später mit Wonne vergessen, und nur die paar Brocken behalten, die im Verkehr mit den russischen Behörden unbedingt notwendig sind. So geschieht es nämlich in Russisch-Polen bis auf den heutigen Tag, trotz der 140jährigen russischen Herrschaft.


Eine Sprache verbreitet sich nämlich außerhalb ihres natürlichen Gebietes nicht mit Hilfe von Polizeimaßnahmen. Das kann man höchstens in Ostasien den Jakuten und Tungusen gegenüber bewirken. Eine Nation muss zunächst hohe zivilisatorische und kulturelle Werte schaffen und in ihrer Sprache aufspeichern, wenn diese von anderen Kulturnationen willig aufgenommen und behalten werden soll. Das zu tun haben aber die Russen bisher verabsäumt. Nichtrussen lernten bisher Russisch nur dem Zwange gehorchend, und dieser Zwang macht die an sich schöne und klangvolle Sprache nur verhasst. Man verschwitzt das Erlernte, sobald nur der Zwang aufhört. Es ist bloß vergeudete Zeit und Kraft, die man auf irgendein nützliches, praktisches oder ideelles Studium besser hätte verwenden können.

Was nun Galizien anbetrifft, so wäre es selbstverständlich lächerlich, zu meinen, dass das Russische das Studium des Deutschen je verdrängen könnte. Deutsch ist eine Kultur- und wirtschaftliche Notwendigkeit für dieses Land. Schon die geographische Lage macht es seinen Bewohnern unmöglich, auf diese Sprache zu verzichten, ohne die Grundlage ihrer Wirtschaft und Bildung zu untergraben. Darum haben die gebildetsten und weitest blickenden Politiker im Lande, wie die von dem verstorbenen Grafen Adalbert Dzieduszycki geführte Partei der „Athenienser" stets eine intensive und ausgedehnte Pflege der deutschen Sprache in den Schulen gefordert. Französisch und Englisch dagegen sind bloß ein Luxus; und das Studium dieser beiden Sprachen allein wird dem aufgezwungenen Studium des Russischen weichen müssen. Es ist unmöglich, dass die Jugend allzu viel Zeit auf das formale, an sich unfruchtbare Sprachstudium wendet. Die russische Regierung wird wohl das Deutsche in allen Schulen verbieten, sie besitzt jedoch kein Mittel, den Eltern zu verwehren, ihre Kinder in einer beliebigen fremden Sprache unterrichten zu lassen, oder einem deren Selbststudium unmöglich zu machen. Die russische Sprache wird sich nur auf Kosten des Französischen und Englischen bei uns ausbreiten können. Diese beiden Sprachen werden ein weites Gebiet zugunsten des Russischen verlieren; und deswegen werden französische und englische Soldaten ihr Blut vergossen haben.

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Entsetzt und verständnislos stand die neutrale Welt von Anbeginn vor diesem Kriege und wusste nicht, seinen Sinn zu deuten. Man empfand das Bedürfnis, ihn zu rechtfertigen. Poincaré bezeichnete zuerst in seiner Proklamation die Deutschen als Barbaren und nun war der „sittliche" Vorwand gefunden. Frankreich und England, die von altersher Vertreter der Kultur sind, führen Krieg gegen die in Deutschland verkörperte „Barbarei", welche die ganze Welt mit dem deutschen „Militarismus" bedrohe. Das deutsche Volk seufze furchtbar unter besagtem Militarismus, und es werde den Entente-Mächten dankbar sein, wenn sie es befreien und ihm ermöglichen, wie in der guten alten Zeit wieder das Volk der Dichter und Denker zu werden. Zu keinem andern als zu diesem erhabenen Zweck habe Russland, im Bunde der Dritte, seine Kosaken, Baschkiren, Kirgisen und Tartaren aus Sibirien herbeigeführt, um die Ostprovinzen zu verwüsten. Diese Völkerschaften können nicht ruhen, solange nicht der deutsche Militarismus vernichtet ist und die russische „Kultur" dem deutschen Volke erlaubt, wieder das Volk der Dichter und Denker von ehemals zu werden, und der vollen persönlichen Freiheit — wie in Russland! — zu genießen. Seit mehr als 30 Jahren haben Tausende und Tausende von russischen Juden aus dem Bereich der russischen „Kultur" ihr nacktes Leben unter den Schutz des deutschen Militarismus und der deutschen Barbarei gerettet; hier durften sie unbehelligt wohnen wo sie wollten, durften ungehindert jegliches ehrliche Gewerbe ausüben, an den deutschen Hochschulen studieren. Unzählige amerikanische, aus Russland stammende Juden wären ohne diese deutsche „Barbarei" zugrunde gegangen und bewahren ihr darum eine tiefe Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Freilich verspürten die russischen Juden auch in Deutschland von Zeit zu Zeit den Segen der russischen „Kultur", denn diese russische Kultur entsandte ihre Spitzel nach Deutschland, wo sie eine lebhafte provokatorische — und Spionage-Tätigkeit entfalteten, die russischen Juden, insbesondere die Studenten, bei den deutschen Behörden denunzierten, dass sie von hier aus den Umsturz in Russland vorbereiteten und dadurch auch die bürgerliche Ordnung Deutschlands gefährdeten. Ausweisungen und Beschränkungen waren die Folge dieses Einflusses der russischen „Kultur". Wenn es dieser nun gelänge, den verruchten deutschen Militarismus zu vernichten und ihre eigene Herrschaft aufzurichten, so würden zunächst die russischen Juden die Wirkung dieses Wandels an ihrem eigenen Leibe kräftiglich zu spüren bekommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden