Achtzehnte Fortsetzung

Frankreich und England sind in der glücklichen Lage, ihren östlichen Freund nur von der Ferne lieben zu müssen. Keine Erweiterung seines Machtbereichs bedroht sie mit seiner Nachbarschaft. Würden sie Gefahr laufen, eigene, von Franzosen oder Engländern bewohnte Gebietsteile an ihn verlieren zu müssen, sie würden sich hüten, seine Machtgelüste zu kitzeln. Nur auf Kosten der Zentralmächte sind sie für ihn großmütig. Auch kennt man in Frankreich und England Russland nur sehr oberflächlich. In Paris sah man die Großfürsten und die reichen Russen, die äußerlich französisch poliert waren und mit Goldstücken um sich warfen; oder die Flotte kam zu Besuch, Offiziere und Mannschaften waren herausgeputzt, gewaschen und — nicht besoffen. Literaten bereisten Russland, hielten in den Großstädten vielbesuchte Vorträge, wurden von der Gesellschaft gefeiert und schickten entzückte Feuilletons an die Pariser Boulevardblätter. Die ernsten Bücher über Russland, welche vormals von Franzosen und Engländern auf Grund eingehender Studien geschrieben wurde, waren im großen Publikum wenig bekannt. In neuerer Zeit wurde ein beträchtlicher Teil des französischen Geldes dazu verwendet, eine eigene russenfreundliche Literatur in französischer und englischer Sprache zu schaffen, welche die Zustände in rosigsten Farben schilderte. Eine populäre Presse arbeitete in dem selben Sinne eifrig. So ist es möglich geworden, dass französische Arbeiter von ihren betörten Führern aufs Schlachtfeld gehetzt wurden, damit Russlands Zar Bauern und Juden ins Joch nehmen könne, — ohne dass man in Paris das Widernatürliche dieses Geschehens verspürte. Vielleicht erleben wir es noch, dass Franzosen und Engländer gegen die jetzt so grimmig befehdeten Österreicher und Deutschen Klage erheben, dass sie, die Russland aus nächster Nachbarschaft kennen, die Welt über das wahre Wesen des Zarismus nicht genug aufgeklärt haben; dann hätten sie wohl dies perverse Bündnis verhütet, das für die beiden „größten demokratischen Mächte Europas" eine ewige Schmach bleiben wird. Und noch einen Vorwurf könnte man gegen die Zentralmächte erheben: Österreich-Ungarn und Deutschland haben wiederholt Gelegenheit gehabt, Russland im Rücken zu überfallen und es zu zertrümmern. Das war insbesondere 1878 und zuletzt während des russisch-japanischen Krieges und dann während der Revolution der Fall. Sodann im Jahre 1908, als die serbische Kriese akut wurde, Russland aber völlig ungerüstet war, keine Artillerie besaß und auch pekuniär ganz unvorbereitet dastand. Die Verhältnisse lagen damals so, dass Russland in einem Feldzuge von einem halben Jahre völlig hätte zu Boden geworfen werden können. Damals war der Zeitpunkt, Russland in seine natürlichen ethnographischen Grenzen zurückzuweisen, die südlichen und westlichen Provinzen von ihm loszulösen. Ein Quell ewiger Beunruhigung und steter Bedrohung von Europa wäre verstopft, das jetzige Völkermorden vermieden worden. Aber wer wird es wagen, die beiden Monarchen zu tadeln, weil sie es mit ihrer Ritterlichkeit und ihrem Gewissen unvereinbar hielten, einen Präventivkrieg zu fuhren, einen Nachbarstaat in seiner Not anzugreifen, mit dem sie bisher in tiefstem Frieden gelebt hatten! Nun haben sie den Lohn dafür. Sie hielten die russische Regierung, was Ehrgefühl und vornehme Gesinnung anbetrifft, für ihres gleichen. Sie haben sich geirrt, und Russland hat der Welt eine furchtbare Lehre der Treulosigkeit und der arglistigen Undankbarkeit gegeben. Aber Russland darf nicht der Lehrmeister der Menschheit sein.


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Will man wissen, wie die Welt aussehen würde, wenn es Russland gelänge, seine Grenzen bis Berlin und Potsdam vorzuschieben, den ganzen östlichen Teil Preußens und Österreichs unter seine Botmäßigkeit zu bringen und die Oberherrschaft in Europa an sich zu reißen, so braucht man nur Ostgalizien und insbesondere Lemberg zu betrachten, welches die Russen bereits als sicheren Besitz ansehen, und wo sie ihre sogenannte Verwaltung und Herrschaft für die Dauer eingerichtet haben.

Den amerikanischen Juden, insbesonders der älteren Generation, ist Galizien kein leerer Name. Abgesehen von jenen, die aus dem Lande stammen und in der alten Heimat noch ihre Verwandten haben, ist ein sehr großer Teil von ihnen, aus Russland kommend, durch Galizien gegangen. In diesem Lande haben sie bei längerem oder kürzerem Aufenthalt Schutz, liebevolle Aufnahme und Gastfreundschaft gefunden. Nicht nur bei ihren Glaubensgenossen, was ja selbstverständlich ist, sondern auch bei der christlichen Bevölkerung. Die österreichischen Behörden behandelten sie auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers Franz Josef freundlich und wohlwollend. In den ersten Pogromen 1881/82 war die Grenzstadt Brody und deren Umgebung monatelang in ein förmliches Lager verwandelt, wo die Flüchtlinge vorläufig Obdach fanden und verpflegt wurden. In jeder Gemeinde hatten sich Komitees gebildet, welche Spenden sammelten. Der Kaiser Franz Josef eröffnete die Spendenliste mit einer auch für eine kaiserliche Schatulle bedeutenden Summe. Kein Jude im Lande war so arm, dass er nicht sein Scherflein beigesteuert hätte. Aber auch die christliche, namentlich die polnische Bevölkerung blieb nicht zurück. Die Edelleute und Großgrundbesitzer, sogar die Bauern gaben Lebensmittel, die Burger spendeten Kleidungsstücke. Die jüdischen Gemeinden besteuerten sich freiwillig und auch die Städte gaben manchmal namhafte Summen her. Seit damals wiederholte sich das oft und oft, bald waren größere, bald kleinere Pogrome ausgebrochen und ihre Opfer erblickten wir bald in Galizien. Aber auch in scheinbar ruhigen Zeiten herrschte in Russland der still schleichende Pogrom und unaufhörlich rieselte ein Strom von russischjüdischen Auswanderern durch unser Land. Seit Oktober 1905 erneuerten sich die bekannten Schrecken in erhöhtem Maßstabe. In allen Grenzstädten entstanden sofort Komitees aus der Intelligenz der Bewohner ohne Unterschied der Konfession, die die heranströmenden Flüchtlinge in Empfang nahmen und ihnen den ersten Schutz gewährten. In Czernowitz, Lemberg und Krakau sowie in allen größeren Gemeinden traten sofort die Hilfskomitees für die Ankömmlinge in Tätigkeit. Alle Schichten der Bevölkerung wetteiferten in der Opferfreudigkeit, um den Vertriebenen das Los zu erleichtern. Die jüdischen Arbeiter in den Fabriken und Werkstätten versagten sich monatelang das Frühstück und führten es in die Heimstätten ab, wo die armen Auswanderer Unterkunft gefunden hatten. Viele von diesen fanden in der Bukowina und Galizien lohnende Arbeit, siedelten sich hier dauernd an und konnten nach kurzer Zeit das österreichische Bürgerrecht erwerben. Wie oft habe ich russische Juden gesehen, die ihren Augen nicht trauten, als sie die Freiheit und die Sicherheit bemerkten, deren sich in unserem Lande alle Bürger erfreuten, und die Gleichheit, welche die Juden genossen. Schon dass diese von den Beamten nicht anders behandelt wurden als andere Bürger, dass keiner es gewagt hätte, sie anzuschreien, zu beschimpfen oder gar zu schlagen, dass sie überall wohnen und ihrem Gewerbe ungehindert nachgehen konnten, ihre Kinder in alle Schulen schicken durften, erregte ihr Staunen. Dass Juden hohe Stellungen in der Armee, in der Beamtenhierarchie bekleideten, Universitätsprofessoren, Oberlandesgerichtsräte, Steuerinspektoren und dergleichen waren, oder dass in Lemberg und in Krakau ein Jude Vizebürgermeister war, dass an der Spitze einiger der größten, schönsten und bestverwalteten Städte des Landes Juden als Bürgermeister standen und sich der größten Hochachtung und Anerkennung auch der christlichen Bevölkerung erfreuten, dass Juden als Präsidenten von Handels- und Advokatenkammern fungierten, erschien ihnen ganz unbegreiflich. Und wie ein Märchen klang es in ihren Ohren, dass unser Kaiser bei seinen Besuchen in Galizien die Rabbiner und Vertreter der jüdischen Gemeinden in besonderer Audienz empfing, sie zu seiner Tafel lud, die Synagogen besuchte und bei der Begrüßung und zum Abschied die Thorarolle küsste. Sie segneten den Kaiser und priesen das Land, in dem „messianische Zustände" herrschten.

Galizien arbeitete sich mit großer Anstrengung aus der Armut und Verwahrlosung immer mehr empor. Die Landwirtschaft wurde immer intensiver betrieben, Handel und Industrie nahmen einen Aufschwung. Immer mehr Fabriken und Werkstätten wurden, trotz künstlicher Hindernisse von außen, begründet, höhere und niedere Schulen aller Art wurden eröffnet, Volkshochschulen verbreiteten Wissen unter den ärmeren Schichten, die Arbeiterbevölkerung nahm in immer höherem Masse am öffentlichen Leben teil, eine große Anzahl Bildungs- und Wohlfahrtsvereine erzog die Massen zum Denken und zur sozialen Betätigung. Man durfte hoffen, dass das Land bald mit den westlichen Provinzen würde wetteifern können. Die Juden durften sich mit Stolz und Genugtuung sagen, dass sie mit ihrer Arbeit, ihrer Tüchtigkeit, ihrem Fleiß an dem Aufschwung des Landes redlich mitarbeiteten. Das wurde auch allenthalben, selbst von den geschworenen Judenfeinden, deren es übrigens im Lande verhältnismäßig nur sehr wenige gab, zugestanden.

Das ist nun alles vorbei.

Das Land ist verödet, Hunderte von Städten und Tausende von Dörfern sind einfach vom Erdboden verschwunden, in anderen sind tausende von Häusern und Hütten verlassen und öde. Nur ausgehungerte Hunde irren umher und scharren halbvergrabene Tier- und Menschenleichen aus, Krähen und Raben kreisen in der Luft. Die Menschen sind erschlagen oder geflüchtet und irren in der Fremde umher. Ein Teil hat sich nach den westlichen Provinzen, besonders nach Wien, geflüchtet; dort ertragen sie bitterste Not, leiden Hunger und Kälte, hausen in Holzbaracken, die leichten Kleider, die sie retten konnten, fallen ihnen in Fetzen vom Leibe. Leute, die vor einem halben Jahre noch reich waren, und Armen Unterkunft unter ihrem Dach und Nahrung an ihrem Tisch gewähren konnten, nähren sich jetzt von kärglichen Almosen. Tausende Familien sind in alle Windrichtungen zersprengt, Mütter suchen ihre Kinder, Brüder ihre Schwestern, und alle sehen bangen Herzens einer noch grauenvolleren Zukunft entgegen. Und alle verzehren sich in Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Und alle fragen sich: was haben wir Frankreich, was haben wir England je Böses zugefügt, dass ersteres mit seinem Golde, letzteres mit seiner diplomatischen Tücke Russland nach Galizien geführt hat, damit es uns das Land verwüste und solch unbeschreiblichen Jammer über uns bringe?!?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden