Achte Fortsetzung

Dieser deutsche „Militarismus" hat das Eigentümliche, dass nur diejenigen unter seinem Joche seufzen, die nie in Deutschland gelebt haben. Ich bin als junger Student hierher gekommen, ein Ausländer, ein polnischer Jude, und es war in der Zeit, da der Antisemitismus in seiner höchsten Kraft stand. Ich habe hier die Universitätsstudien absolviert, habe hier mit kurzen Unterbrechungen 20 Jahre gelebt, das Land nach verschiedenen Richtungen durchquert, in verschiedenen großen und kleinen Städten gewohnt, und hatte nicht einmal einen regelrechten Pass bei mir. Nicht ein einziges Mal wurde ich von irgend jemandem, sei es eine Behörde, sei es eine Privatperson, behelligt. Nie wurde ich in meinen Handlungen oder in meinem Willen irgendwie beschränkt. Nie wurde ich in der Äußerung meiner Meinung in Wort und Schrift, oder in einer sonstigen Betätigung gestört. Ich habe nie empfunden, dass ich Ausländer bin. Es ist mir einfach unbegreiflich, was man unter „deutschem Militarismus" versteht. Ich habe nur eine sehr stramme Ordnung und eine unbedingte Zuverlässigkeit der öffentlichen Funktionäre aller Arten und Grade, vom kleinsten Schutzmann bis hinauf zum Staatsminister, wahrgenommen. Diese Eigenschaften machen sich auch im Privatleben, namentlich im Verkehrswesen, im Handel und Wandel sehr bemerkbar. Dass aber Deutsche oder Nichtdeutsche darunter litten, konnte ich nie bemerken. Wenn das Militarismus ist, so möchte man nur wünschen, dass er sich in der ganzen Welt ausbreite. Namentlich den russischen Kulturträgern, seien es Staatsfunktionäre oder Publikum, wäre zu ihrem eigenen Heil ein gut Stück dieses Militarismus zu wünschen. Ich meine, nicht Militarismus, sondern Disziplin und Organisationsfähigkeit ist das, Eigenschaften, die in Amerika, dem demokratischsten Lande der Welt, besonders hochgeschätzt werden. In Deutschland gehorcht man sicher mehr und strammer als anderswo, aber man gehorcht willig und stolz, ohne Murren und ohne Unterwürfigkeit, weil der Gehorchende weiß, dass auch der Befehlende nur gehorcht, nämlich dem geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetz der inneren Disziplin, dem hier alle ohne Ausnahme unterliegen, und dass er selbst, der Gehorchende, ebenso zu befehlen berufen ist, wie der andere. Und wehe dem Befehlenden, wenn er seine Befugnisse überschreitet! Es ergeht ihm schlimmer, als dem, der den Gehorsam verweigert! Disziplin und Ordnung sind die wichtigsten Faktoren in der Ökonomie der menschlichen Kräfte, sie organisieren und beschleunigen den Fortschritt der Kultur. Das ist das Wesen des deutschen Militarismus, und die anderen Nationen täten vielleicht besser, sich ihn anzueignen, anstatt ihn zu bekritteln. Dass dieser Militarismus nur die Zuchtlosigkeit und die Zerfahrenheit hindert, keineswegs aber die Freiheit beeinträchtigt, beweist die deutsche Presse in Friedenszeiten, beweisen die Debatten in den Parlamenten und den Volksversammlungen. Was hier an scharfer und rücksichtsloser Kritik öffentlicher Institutionen, die Armee nicht ausgenommen, aller leitenden Persönlichkeiten, bis hinauf zum Kaiser, soweit sie sich nur in dezenten Formen hielt, vorgebracht werden durfte, ließ wahrlich kaum etwas zu wünschen übrig. Unter der Herrschaft der russischen „Kultur" würden die Kritiker für den tausendsten Teil hiervon nach Sibirien verbannt werden und dort verfaulen.

Eine solche Freiheit der Kritik ist aber nur möglich, wo der Militarismus, d. h. die strenge Selbstzucht waltet, der man getrost vieles erlauben kann, was sonst verboten werden müsste. Und dieser Freiheit der Kritik im Verein mit der militärischen Disziplin verdankt die deutsche Sozialdemokratie eine Stärke und Geschlossenheit, wie sie in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat, kraft deren sie der Kapitalistenklasse große Vorteile politischer und sozialer Natur abringen konnte. Die soziale Gesetzgebung in Deutschland (Arbeiterschutz, Sozialversicherung usw.), obgleich erst 25 Jahre alt, ist anerkanntermaßen die erste in der Welt, und Bismarck selber gestand ein, dass er ohne die Sozialdemokratie nicht vermocht hätte, sie durchzusetzen. Andererseits hat die Sozialdemokratie die deutschen Arbeitermassen zu geordnetem Kampfe, zum Zusammenhalten der Kräfte erzogen, sie von Anarchie, Syndikalismus und Sabotage ferngehalten und auf eine ungewöhnlich hohe Stufe geistiger Kultur erhoben. Dies alles ist eine Frucht des „Militarismus". Die deutschen Arbeiter scheinen diesen Militarismus in ihrer Partei nicht so drückend zu empfinden, da sie sich sonst gegen ihn aufgelehnt hätten und in ein Dutzend Parteien zerfallen wären, wie dies in Frankreich der Fall ist. In Deutschland ist es nie vorgekommen, dass bei großen Streiks Militär verwendet worden wäre; ich vermute, dass der Kaiser ein solches Ansinnen entschieden ablehnen würde, obwohl das im republikanischen Frankreich die Regel ist, so dass bei jedem größeren Streik Arbeiterblut fließt. Wer die deutschen Arbeiter bei einem großen Massenstreik beobachtet und die Ordnung, Ruhe und Pünktlichkeit gesehen hat, mit der z. B. die Auszahlung der Unterstützungsgelder an viele Tausende binnen wenigen Stunden ohne Lärm und Gedränge, ohne unnötige Zeit- und Kraftvergeudung erfolgt, wer gesehen hat, wie junge und alte Arbeiter ihren selbstgewählten Führern unbedingten Gehorsam leisten, obwohl diese mit keiner Waffe versehen sind, und nicht einmal die Stimme merklich erheben, der wird den „Militarismus" zu schätzen wissen. Er wird aber auch die großen Erfolge der Deutschen im internationalen Wettbewerb sowie ihre erstaunliche militärische Bereitschaft begreifen. Dieser „Militarismus" verwirklicht das Ideal der demokratischen Gleichheit in der besten Form.


                                                ***********************

Nun haben die Deutschen eine sehr scharfe und rücksichtslose Selbstkritik entwickelt. Ein kraftvoll vorwärts strebendes Volk begnügt sich natürlich nicht mit dem schon Erreichten und empfindet den Gegensatz zwischen dem Angestrebten und Bestehenden umso stärker. Wenn ein Außenstehender, aus feindlicher Gesinnung heraus, diese Kritik aufnimmt und breittritt, verfälscht er ihre Bedeutung. Ein Sohn kann vom Vater einen größeren Monatswechsel herausbekommen wollen, und im Streite ihn des Geizes beschuldigen; er kann eine größere Bewegungsfreiheit verlangen und den widerstrebenden Vater einen Tyrannen heißen. Kein Vernünftiger würde sich in einen solchen Familienstreit mischen, solche Vorwürfe wörtlich nehmen oder gar meinen, der Sohn wünsche seine Familie zu zerstören, um von dem väterlichen Geiz und der Tyrannei befreit zu werden. Die links stehenden Parteien in Deutschland mögen mit ihren Gegnern und der Regierung hadern und noch größere Freiheiten, noch weitergehende Reformen fordern. Sie tadeln in scharfen Worten in den Parlamenten, Volksversammlungen und Presse diese oder jene Einrichtung, sie sprechen dabei, wie unvermeidlich, von Militarismus, Absolutismus, persönlichem Regime, Klassenherrschaft und dergleichen. Wenn nun Außenstehende daraus schließen wollen, dass die Deutschen sich nach nichts so sehnen wie nach Engländern und Russen, die herkommen möchten, um sie vom Joche des Militarismus und der anderen Übel zu befreien, so ist das entweder Borniertheit oder Heuchelei oder aber beides zusammen.

Unter dieser verlogenen und nichtswürdigen Methode, die Selbstkritik eines Volkes zu seiner Verunglimpfung und Verleumdung zu missbrauchen, hat übrigens niemand mehr zu leiden als wir Juden. Unsere Propheten haben die Fehler und die Übeltaten ihres Volkes in zornigen Strafreden getadelt und es zur Umkehr und Besserung gemahnt. Jetzt werden unsere Feinde nicht müde, die Worte unserer Propheten gegen uns auszumünzen als Beweis für unsere Verderbtheit. „Wie wenig wert Ihr seid, das bezeugen ja Eure eigenen führenden Geister, die kein gutes Haar an Euch lassen!" Aber dicht neben den Strafreden und den scharfen Tadelworten stehen bei den Propheten Worte der Hoffnung und der Liebe, der Treue und des Trostes; nur übersehen und vergessen das unsere Feinde gern.

                                                *******************

Um zu beweisen, wie sehr der Militarismus den deutschen Geist durchdrungen hat, wird namentlich in der englischen Presse das Buch des preußischen Generals von Bernhardi immer wieder und wieder zitiert. Die englische Regierung hat hunderttausende von Exemplaren der Übersetzung dieses Buches in Amerika verbreitet und auch in der amerikanischen Presse werden vielfach Aussprüche dieses Militärs angeführt, welche von Kriegslust, von Freude an der Verteidigung des Vaterlandes, dem Niederringen des Gegners strotzen, und zur unablässigen Vergrößerung der Wehrmacht aufrufen. Der General von Bernhardi, in seinem Vaterlande nur einem kleinen Kreise von Fachmännern bekannt, ist im Ausland einer der meist gelesensten und berühmtesten deutschen Autoren geworden. Nun, ich meine, ein General soll doch nicht anders als vom kriegerischen Geiste durchdrungen sein. Es würde ihm wahrlich schlecht geziemen, gegen den Krieg zu eifern, die Verkleinerung der Armee zu begehren und seine Landsleute im Kampfe für das Vaterland zu entmutigen. Hat jemals ein amerikanischer General in diesem Geiste geschrieben oder gesprochen? Und dennoch wird keiner das amerikanische Volk als kriegslüstern bezeichnen.

Und wie steht es um den Militarismus in Frankreich?

In dem Kursus der Kriegsgeschichte, gelesen 1882 an der Pariser Ecole militaire supérieure, wurde folgendes vorgetragen:

„Wenn (also) der Krieg in Wirklichkeit auf dem Streben der Menschheit zu moralischem und materiellem Fortschritt beruht, so ist es sehr wichtig, dass jedes Geschlecht den stärkenden Einfluss des Krieges erfährt und die Traditionen direkt vom Vater auf den Sohn übergehen. Hieraus folgt, dass man wünschen muss, dass ein Krieg wenigstens alle zwanzig Jahre stattfinde. Die Interessen der Armee fallen in dieser Hinsicht mit denen des Volkes zusammen. Mehr als zwanzig Jahre hintereinander darf der Friede nicht andauern, und es ist zu wünschen, dass eine solche äußere Friedensdauer möglichst selten eintritt."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden