Dritte Fortsetzung

Nun wurde uns gleich nach Ausbruch des Krieges von Frankreich und England her verkündet, dass Russland auf einmal sich geändert habe, von Grund aus und radikal geändert! Vom Reiche der Knute, des Galgens, der Peter-Pauls-Festung und Sibiriens, vom Reiche der Pogrome und des Ansiedlungsrayons, der Ochrana und der Bestechung sei es im Handumdrehen ein Paradies, ein Dorado der Freiheit und des Völkerglücks geworden, würdig und berufen, jene Völker, welche unter dem Joche der beiden Barbarenstaaten — Österreich-Ungarn und Deutschland — schmachten, aus der Knechtschaft zu befreien. Hervorragende französische Schriftsteller und Gelehrte feierten den Zaren als den Vorkämpfer für Recht, Freiheit und Humanität. Nikolaus II. erschien als ein Mitschöpfer der Menschenrechte, ein Mitarbeiter von Mirabeau und Sieyes, ein Fortsetzer der französischen Revolution, ein Vollender der Enzyklopädisten. Was war geschehen? Hatte der Zar seinem Lande eine wirkliche Konstitution gegeben? Die vergewaltigten Rechte Finnlands und Polens wiederhergestellt? Hatte er die Tausende politischer Gefangenen, welche in den Kasematten und in den sibirischen Bergwerken verfaulen, in Freiheit gesetzt? Nein! Er hat nur versprochen; und nicht einmal „Er", sondern der Oberbefehlshaber seiner Armee, Nikolaus Nikolajewitsch. „Er" selber kann nämlich nur gewähren, versprechen lässt „Er" durch seine Vertreter (das hat die Bequemlichkeit, dass das Versprechen für „Ihn" nicht bindend ist). Also Nikolai Nikolajewitsch hat den Polen für den Fall seines Sieges die Wiedervereinigung unter russischer Knute — pardon, Szepter, und die Verleihung einer Autonomie versprochen. Nikolai Nikolajewitsch hat sich schon einmal nicht mit einem Versprechen begnügt, sondern eine Tat vollführt, eine Heldentat. Das war am 22. Januar 1905, als der Priester Gapon Scharen der Petersburger Arbeiterbevölkerung vor das Winterpalais führte, um dem Zaren ein Gesuch zu überreichen. Das wurde als strafbare Auflehnung betrachtet (obwohl bekannt war, dass Gapon ein von der Polizei gemieteter Provokateur war). Der Befehl wurde gegeben, auf die Menge zu schießen, und bald rötete sich der Schnee vom Blute der Greise, Frauen und Kinder, einige tausend Opfer blieben auf dem Platz. Der aber den Befehl erteilte, war kein anderer, als der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch.

Heute zieht er hinaus, um die Völker Mitteleuropas zu „befreien", und es gibt gewiss keinen Würdigeren als ihn, um den Polen die Erfüllung ihrer Hoffnungen zu verbürgen.


Den Juden aber hat nicht einmal Nikolaus Nikolajewitsch, sondern nur Mr. Zangwill in London etwas versprochen. Ihm hat Sir E. Grey in einer stillen, unbewachten Stunde die Zusage ins Ohr geraunt, er werde einmal nach dem Siege bei seinen russischen Kollegen für eine bessere Behandlung der Juden eintreten. Daraufhin fühlt Mr. Zangwill in sich den Beruf, Schulter an Schulter mit Nikolaus Nikolajewitsch die deutschen Barbaren und Hunnen zu bekämpfen, — offenbar um die deutschen Juden vom Joche Deutschlands zu befreien. Er gibt sich der Hoffnung hin, dass England dermaleinst Russland zivilisieren werde, nachdem es mit der Niederwerfung des deutschen Militarismus fertig geworden sein wird. Dieser Krieg, versichert Mr. Zangwill, sei der Beginn einer neuen besseren Epoche in der Geschichte der Juden. Und der Professor Richard Gottheil verkündet, Russland werde aus dem Kriege moralisch und politisch verjüngt hervorgehen; sein Bündnis mit den beiden größten demokratischen Mächten der Welt werde es veranlassen, den wahren nationalen und idealen Wert der Juden ans Tageslicht zu fördern; der Zar werde den Juden alle Bürgerrechte erteilen.

Das ist alles sehr schön und stellt dem gläubigen Gemüt und dem guten Herzen des Professors das beste Zeugnis aus. Aber der Krieg dauert nun schon neun Monate, und von der moralischen und politischen Umgestaltung Russlands sollten sich doch mindestens die Anfänge zeigen. Wenn der Zar den Juden nach dem Kriege alle Bürgerrechte zu gewähren entschlossen ist, darf man wohl die sehr naheliegende Frage stellen, warum denn die zarische Regierung den Juden als Vorschuss nicht jetzt gleich wenigstens die Abstellung der drückendsten Maßregeln und das Aufhören der Pogrome gewährt hat? Muss man bis ans Ende des Krieges warten, um den in Russisch-Polen hausenden Kosaken zu verbieten, jüdische Greise zu hängen, Kinder zu morden, Frauen zu schänden, jüdische Habe zu plündern und zu verbrennen, ganze Gemeinden auszurotten, wie es schlimmer in den schönsten Tagen des Friedens nicht geschah, wenn die Regierung es mal für nötig hielt, „zum Wohle des Staates" einen frischen fröhlichen Pogrom zu veranstalten?

Sehen wir zu, wie es in Wirklichkeit ist.

350.000 jüdische Soldaten stehen im russischen Heere. Eine Anzahl von ihnen hatte Wohnrecht außerhalb des Ansiedlungsrayons, z. B. Petersburg, Kiew, Moskau, zum Teil wurde ihnen dieses Recht gewährt, weil sie den russisch-japanischen Feldzug mitgemacht und sich ausgezeichnet hatten. Sobald aber die Soldaten zu den Fahnen gerufen wurden, erhielten ihre Frauen und Kinder von der Polizei den Befehl, ihren Wohnort zu verlassen und nach dem Ansiedlungsrayon zurückzukehren. Das Wohnrecht steht nämlich nur dem Familienoberhaupt zu, und diesem zuliebe gemessen es auch die Familienmitglieder. Wenn nun das Familienoberhaupt ins Feld zieht, um für den Zaren gegen die verruchten Barbaren von Europa, die Deutschen und Österreicher zu kämpfen, so übt es ja sein Wohnrecht außerhalb des Ansiedlungsrayons nicht aus. Die strenge Logik verbietet also der Frau und den Kindern, derweil in ihrem bisherigen Wohnort zu verbleiben, auch wenn die Eltern der Frau dort wohnen dürfen; denn durch die Ehe hat die Frau die Vorrechte des Vaters eingebüßt und genießt nur noch die des Mannes, welche nun aber erloschen sind.

Ein jüdischer Soldat wird verwundet. Man bringt ihn in ein Lazarett nach Moskau oder Kiew, wo er als gesunder Mensch kein Wohnrecht hat. Seine Frau, seine Mutter oder seine Tochter möchten ihn besuchen. Sie dürfen es nicht, denn sie haben in der Stadt, wo ihr Mann oder Sohn oder Vater schwer verwundet darniederliegt, kein Aufenthaltsrecht.

Ein jüdischer Soldat wird verwundet, man muss ihm ein Bein oder einen Arm amputieren. Er wird nach Kiew oder Moskau in ein Lazarett gebracht. Nach der Operation ist er untauglich und kann, genesen, nicht mehr zur Front zurückkehren. Nun hat er kein Aufenthaltsrecht in Kiew oder Moskau und wird unverzüglich aus diesen Städten, wo er ein Bein oder einen Arm für den Zaren gelassen hat, ausgewiesen. (Solche Fälle sind zu hunderten notiert worden.)

Zu den russischen Universitäten werden nur 3 oder 5% jüdischer Studenten zugelassen. Wer über diese Norm hinaus studieren will, muss zu den Hunnen und Barbaren, nach Deutschland und Österreich, gehen. Tausende von jüdischen Ärzten, die in Russland ihre Studien nicht machen durften und an deutschen oder österreichischen Universitäten ausgebildet worden sind, dienen jetzt in der russischen Armee und verbinden und kurieren die verwundeten russischen Soldaten. Aber als nach Ausbruch des Krieges den jüdischen Studenten aus Russland der Aufenthalt in Deutschland und Österreich-Ungarn unmöglich wurde, und sie, in ihr Vaterland zurückgekehrt, den Minister für Volksaufklärung baten, sie ausnahmsweise zu den Studien oder wenigstens zu den Prüfungen zuzulassen, wurde ihre Bitte abgewiesen.

Sogar Söhnen von Ärzten, die in Militärlazaretten dienen, wurde der Zutritt zur Universität verweigert.

In die russischen Mittelschulen werden jüdische Schüler nur bis zu 10% aufgenommen. Die Väter halfen sich meist durch kostspieligen Privatunterricht, durch Unterbringung der Kinder im Ausland oder in entlegenen Städten. Viele Väter, die jetzt zu den Fahnen gerufen wurden, waren außerstande, sich diesen Luxus fernerhin zu leisten, ihre daheimgebliebenen Kinder brauchten eine Aufsicht. Sie baten um Aufnahme ihrer Kinder außerhalb der Norm. Alle diese Bitten wurden abgewiesen.

Vielfach haben die Behörden öffentliche Ermahnungen erlassen, die Juden sollten sie mit derartigen Bitten weiterhin nicht behelligen, da alle Bemühungen doch vergebens wären; in Bezug auf die Juden werde alles beim alten bleiben.

Einem dänischen Journalisten sagte der Minister Goremykin, er verstehe nicht, weswegen man jetzt erwarte, dass ein neuer Kurs gegen die Juden eingeschlagen würde. Dass die Juden im Heere gleich anderen Russen ihre Pflicht tun, sei doch kein Grund, sie besser als vorher zu behandeln; täten sie ihre Pflicht nicht, so würden sie einfach erschossen werden . . . Ein Europäer könnte indessen der Meinung sein, dass Bürgern gegenüber, die ihre Pflicht tun, auch die Regierung die ihrige zu tun hätte. Sonst müsste sie eben erschossen werden — — wenn sie überhaupt einen Schuss Pulver wert ist.

Vor der letzten Dumasession sprachen zwei jüdische Abgeordnete beim Ministerpräsidenten vor und baten ihn, das Schicksal der Juden zu erleichtern. Der Minister antwortete, er sei zu seinem Bedauern ganz außerstande, jetzt für die Juden auch nur das Geringste zu tun. Der Minister scheint sich streng an die Worte der Herren Zangwill und Gottheil zu halten. Er muss darauf warten, bis Russland von England zivilisiert wird, und diese Arbeit kann erst nach Friedensschluss beginnen. Vorher kann nichts geschehen, nicht einmal die Abstellung der systematischen Pogrome.

Aus dem Kriegsgebiet in Russisch-Polen flohen die Einwohner massenhaft nach den östlichen Gouvernements. Aus Warschau allein sind mehrere tausend Polen mit dem Fürsten Radziwill nach Moskau geflohen. Wenn aber die Juden die östlichen Grenzen des Ansiedlungsrayons zu überschreiten wagten, wurden sie erbarmungslos ins Kriegsgebiet zurückgetrieben. In vielen Ortschaften war es den Schalterbeamten verboten, an Juden Eisenbahnbillets zu verkaufen.

Es wird jetzt in Russland die Aufhebung oder Milderung des Passzwanges geplant. Die Regierung hat bekannt gemacht, dass diese Erleichterungen für die Juden nicht gelten werden.

In Petersburg beriet vor einiger Zeit ein Komitee von Finanzmännern über einen Plan zur Hebung der russischen Kurorte, um die russischen Kurbedürftigen vom Besuche des Auslandes abzuhalten. Der anwesende Regierungsvertreter wurde gefragt, ob er versichern könne, dass nach dem Kriege den russischen Juden der Besuch der russischen Kurorte, die mit Ausnahme von zweien oder dreien alle außerhalb des Ansiedlungsrayons gelegen sind, gestattet werden würde; solches läge nämlich im Interesse der Kurorte selber, da 90% der russischen Besucher ausländischer Kurorte russische Juden sind. Der Regierungsvertreter bedauerte, keinerlei sichere Zusagen darüber machen zu können.

Seitdem infolge der Pogrome die Emigration der Juden aus Russland große Dimensionen angenommen hat, wurde ein Gesetz erlassen, wonach die Familie eines militärpflichtigen Emigranten zur Strafe für dessen „Desertion" 300 Rubel zu zahlen habe; diese Summe wurde unbarmherzig auch von den entferntesten Verwandten, auch wenn sie noch so arm waren, auch wenn sie den „Deserteur" nie im Leben gesehen hatten, eingetrieben. Diese Strafsteuer wird jetzt auch von den Verwandten derer, die im feindlichen Ausland zurückgehalten werden, erhoben. Dafür hat der Zar in Moskau den Rabbiner Masé in Audienz empfangen und sich von ihm mehrere tausend Rubel für die Armee schenken lassen. Er hat ihn auch mit einer Ansprache beehrt.

Herz, was willst du noch mehr?
Man sieht, das Morgenrot der neuen Aera, welche Mr. Zangwill geweissagt, ist schon herrlich aufgegangen.

Die von Professor Gottheil angekündigte moralische und politische Verjüngung Russlands hat begonnen, und wenn das so weiter fortgeht, werden die Juden Russlands bis zum Friedensschluss noch schöne Früchte ernten können.

Ah, beinahe hätte ich’s vergessen und mich einer großen Ungerechtigkeit schuldig gemacht: es ist nämlich angeordnet worden, dass bis auf weiteres die Austreibung der Juden aus ihren bisherigen Wohnsitzen zu unterbleiben habe!

Zum besseren Verständnis dieser menschenfreundlichen Maßregel (zu der die deutschen Hunnen und Barbaren gar nicht imstande wären, sich aufzuschwingen) sei folgendes bemerkt:

Auch innerhalb des Ansiedlungsrayons dürfen Juden nur in Städten und Flecken, nicht aber auf dem flachen Lande wohnen. Nun war es bisher üblich, dass von Zeit zu Zeit eine Anzahl Städtchen, wo die Juden seit jeher unangefochten wohnten, kurzerhand als Dörfer erklärt wurden. Dadurch verloren die Juden über Nacht das Wohnrecht daselbst, und mussten zum Wanderstab greifen. Das war ein beliebtes Mittel in den Händen der Bureaukratie, die Juden aus ganzen Gegenden zu vertreiben. Die Vertriebenen wandten sich meist nach dem Königreich Polen. Jetzt halten die Deutschen und Österreicher den weitaus größten Teil dieses Gebiets besetzt. Die russische Regierung ist barmherzig und hat bis auf weiteres die Austreibung von Juden sistiert!

Der Einfluss der beiden größten demokratischen Mächte Westeuropas auf Russland fängt in der Tat an, sich geltend zu machen!

Betont muss werden, dass einige gerecht denkende Männer in Russland in letzter Zeit wiederholt ihre Stimme zugunsten der Juden erhoben haben. So der Präsident der Petersburger Stadtduma Graf Tolstoi, der durch Umfrage bei den Militärbehörden feststellte, dass die Zahl der jüdischen Soldaten im Heere den auf ihren Anteil an der Bevölkerungsziffer entfallenden Prozentsatz noch etwas übersteigt, dass also die Behauptung, die Juden genügten ihrer Militärpflicht nicht, durchaus unbegründet ist. Der Moskauer Universitätsprofessor Fürst Eugen Trubetzkoi forderte die Aufhebung der Prozentnorm für die Mittelschüler und mindestens die provisorische Zulassung der aus dem Ausland ausgewiesenen Universitätshörer. Das Gleiche tat der Moskauer Großkaufmann Schachow. Industrieverbände und wirtschaftliche Gesellschaften haben wiederholt Abschaffung oder Milderung der Judengesetze gefordert, und zwar im Interesse der ökonomischen Entwicklung des Landes. Aber diese Stimmen sind ganz ungehört verhallt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden