Fünfzehnte Fortsetzung

Ein großer Teil Belgiens ist von den Deutschen verwüstet worden. Dass es dazu kommen musste, ist sehr schmerzlich und tief zu bedauern. Aber die Deutschen besitzen die Kraft, die von ihnen geschlagenen Wunden zu heilen. Man darf ihnen schon den Willen und die Fähigkeit zutrauen, das Zerstörte wiederaufzubauen. Unter ihren Händen werden die verbrannten Städte und Dörfer aus der Asche wieder erstehen und der zerstampfte Boden sich mit grünenden Fluren bedecken. Wer aber wird aufbauen, was Russland zerstört hat? Das ganze Österreichisch und Russisch-Polen, ein Land zehnmal so groß wie Belgien, ist durch diesen zu Russlands Ruhm und zur Befriedigung seines Ehrgeizes angezettelten Krieg in eine Wüste und ein Leichenfeld verwandelt worden. Wird Russland je imstande sein, auch nur den zehnten Teil davon wiederherzustellen? Es war in Friedenszeiten ohnmächtig, das Land zu verwalten; es konnte nur hemmen und stören, seine ganze Regierungskunst bestand darin, die einzelnen Klassen und Nationalitäten gegeneinander auszuspielen und von allen Steuern an Blut und Gut herauszupressen. Alles was in Polen an Wohlstand vorhanden war, ist ohne den Beistand der Regierung, zu allermeist gegen ihren Willen und trotz der von ihr geschaffenen Hindernisse entstanden. In einigen Städten ist eine große Industrie erblüht, es gibt dort eine Anzahl enorm reicher Leute, aber die Zirkulation der Güter ist so schlecht, dass die kleineren Städte dicht daneben in einem Zustande verharren, als wären Eisenbahn und Telegraph nie erfunden worden. In industriereichen Städten, wie z. B. Lodz, gibt es keine Kanalisation, regelmäßige Straßenreinigung und entsprechende Beleuchtung haben erst die Deutschen bei ihrem Einrücken eingeführt. Die Wirtschaftspolitik der Regierung drückte die große Masse, insbesondere die jüdische, immer tiefer ins Elend herab. Wer kann von dieser Regierung erwarten, dass sie jemals das Unheil wieder gutmachen wird?!

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Zahlreiche edle Kunstwerke von unschätzbarem Werte sind bei den Kriegsoperationen der Deutschen in Flandern und Nordfrankreich mehr oder weniger stark beschädigt worden. Darob haben die Intellektuellen Europas mobil gemacht. Es regnete Proteste von Akademien, von Dichtern und Künstlern gegen die vandalischen Kultur- und Denkmalschänder, gegen die Hunnen und Barbaren, — und selbst die begreifliche Erregung und der Schmerz über den Verlust hoher Kunstschätze kann leider die Übereilung und die Oberflächlichkeit, mit der die Protestierenden verfahren sind, nicht entschuldigen. Zum mindesten hätten sie sich die Frage vorlegen müssen: „Wie ist es denkbar, dass die Deutschen, die selber eine so mächtige Kunsttradition entwickelt haben, die seit jeher der Erforschung und Erhaltung fremder Kunstdenkmäler so viel Kräfte widmeten, die die Ausgrabungen auf dem alten Boden von Italien, Hellas, Ägypten und Assyrien so mächtig gefördert haben, die daheim auf die Denkmalspflege so viel Sorgfalt verwenden — wie ist es denkbar, dass eben diese Deutschen Kirchen, Rathäuser, Museen und Bibliotheken aus purem Mutwillen oder Gemütsrohheit nicht schonten? Muss da nicht eine furchtbare Notwendigkeit gewaltet haben?"

Gewiss war nicht nur der deutsche Kaiser von dem tragischen Gefühl durchdrungen, dem er in der Depesche an den Präsidenten Wilson einen so erschütternden Ausdruck gegeben hat. Gerade unter den Deutschen finden sich die besten Kenner niederländischer und französischer Kunst, und unter den Soldaten, die die Mündung der Kanonen auf einen entzückenden schlanken Kirchturm zu richten hatten, befand sich mancher Professor, der über eben diesen Turm und seinen Erbauer und dessen Zeit vielleicht ein liebevolles, tiefgründiges Buch geschrieben hat. Auch manch einfacher Mann im deutschen Waffenrock betrachtete wohl mit „blutendem Herzen" das Bauwerk, das er bald in Trümmer legen sollte. Denn er kannte und liebte es aus einem der zahlreichen Illustrationswerke über Kunst, die auch im ärmsten deutschen Heim zu finden sind. Aber wir Juden haben eine alte Lehre, dass der Sabbat für den Menschen, nicht der Mensch für den Sabbat geschaffen sei. Zweimal kommt dieser Ausspruch im Talmud vor und er gehörte wohl zu den landläufigsten Sprüchen der Juden, so dass die Schriftsteller des Neuen Testaments ihn Jesu in den Mund legen konnten. Nun, die Kunst ist der große Sabbat des Menschengeschlechts. Sie gibt ihm den Vorgeschmack des überirdischen Lebens und haucht ihm die höhere, die Festtagsseele ein, wie wir Juden dies von unserem allwöchentlichen Sabbat sagen. Aber der Sabbat ist für den Menschen da, und nicht der Mensch für den Sabbat. Dieser, so heilig er ist, muss verletzt und entweiht werden, wenn ein Menschenleben auf dem Spiele steht. Wenn einer die sixtinische Madonna als Schild vorhält und einen Menschen töten will, so würde ich ein Narr und Verbrecher sein, wenn ich, aus ehrfürchtiger Liebe zu dem edlen Kunstwerk, den Mord geschehen ließe, um nur das Bild zu schonen. Wer auf Kirchtürmen Beobachtungsposten aufführt, wer Rathäuser als Deckung von Geschützstellungen benutzt, hat ihre religiöse und künstlerische Heiligkeit freventlich preisgegeben. Er und nicht sein Gegner, ist für deren Beschädigung verantwortlich. Die Zerstörung von Kunstwerken und alten Literaturdenkmälern kann eine tragische Notwendigkeit sein, der sich der Zerstörer „mit blutendem Herzen" fügt. Wie steht es aber um den Diebstahl von Kunst- und Literaturdenkmälern? Warum hat niemand in der Welt protestiert, dass die Russen in Galizien das systematische Bestehlen von Bildergalerien und Bibliotheken zum Prinzip gemacht haben? Ich rede hier nicht davon, dass die russischen Generale aus den Häusern der reichen städtischen Bürger und den Schlössern des Adels, wo sie sich einquartierten, die Bilder, Skulpturen, Kostbarkeiten und Bücher einpackten und in ganzen Waggonladungen nach Russland transportieren ließen? Das scheint so russischer Privatkriegsbrauch zu sein. Und würde es sich um Staatseigentum handeln, man könnte die Ausrede gebrauchen, der Staat, gegen den man Krieg führt, solle geschädigt werden. Was sagen aber die Engländer und Franzosen dazu, dass das Ossolinskische Museum in Lemberg seines Besitzes an Büchern, Kunstwerken und Münzen beraubt und diese ins Innere Russlands geschleppt wurden? Diese Schätze waren nicht Privateigentum, nicht Staatseigentum, sondern Kollektivbesitz der Bevölkerung von Lemberg und Umgegend. Das Ossolineum wurde vor einem Jahrhundert von einem Privatmanne gestiftet, zu seiner Verwaltung wurde ein Kuratorium eingesetzt, das den Behörden und der Öffentlichkeit alljährlich Rechenschaft von seinem Gebaren zu erstatten hatte. Die Bücher und Kunstsammlungen wurden eine segenspendende Kulturstätte für diese ganze, durch Jahrhunderte lange Kriege verheerte Gegend; tausende und abertausende junger Leute haben in den Lesehallen und Arbeitszimmern des Instituts ihre Wissbegierde befriedigt, zahlreiche Gelehrte haben hier Material zu bedeutenden Forschungen gesammelt, Künstler und Publikum Anregung zum Schaffen und Anleitung zum Genießen gefunden. Bürger aller Kategorien haben die Bücherbestände durch Schenkungen bereichert. Und nun kommt der Befreier aus dem Norden und schleppt alles in seine Höhle. Ich selber, Schreiber dieser Zeilen, habe über hundert Bücher der Ossolinskischen Bibliothek geschenkt. Wenn ich jetzt eines von ihnen lesen wollte, müsste ich nach Petersburg oder Moskau reisen. Und da mir als Juden auch in Friedenszeiten die Reise dorthin nicht erlaubt ist, so werde ich wohl für ewig darauf verzichten müssen, je eines meiner Bücher wieder zu sehen. Haben die Franzosen und Engländer über diesen von ihrem ehrenwerten Bundesgenossen mit dreister Stirn verübten zynischen Diebstahl an fremdem Kulturgut je sich aufgeregt? Oder darüber, dass die Bücher aus der großen Sammlung der Fürsten Czartoryski in Sieniawa jetzt auf den Karren der Büchertrödler in Petersburg und Kiew für ein paar Kopeken verkauft werden?

Graf Schack hat bekanntlich seine berühmte Galerie in München dem deutschen Kaiser vermacht. Der deutsche Kaiser aber wollte der Stadt München, die doch wahrlich an Kunstsammlungen allerersten Ranges nicht arm ist, diesen Schatz nicht entziehen, er beließ also die Schacksche Galerie in der bayrischen Hauptstadt. Ein wahrer Barbar!

Man darf es Maeterlinck nicht verargen, wenn er in der Klage über das Unglück seines Vaterlandes in herbem Schmerz heftige Ausdrücke gebraucht und ungerecht wird. Aber wenn Verhaeren aus Zorn über die „deutsche Barbarei" anfängt, für das „wunderbare Russland" zu schwärmen, von den Petersburgern entzückte und teilnehmende Händedrücke empfängt, und in ihren Augen mitleidsvolle Blicke für Belgien liest, so möchte er dieselben Petersburger doch einmal fragen: „Was hat Eure Regierung aus Polen und Galizien gemacht? Habt Ihr gegen die Bestehlung des Ossolineums in Lemberg protestiert? Habt Ihr wenigstens gegen das Vorschicken von 7.000 jüdischen Greisen, Kindern und Weibern vor Nadwórna in die feindliche Front Einspruch erhoben? So lange Ihr das nicht getan habt, weise ich Eure Teilnahme für Belgien zurück, sie befleckt mich!!"
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden