Sechzehnte Fortsetzung

Will man nicht in allzu ideale Sphären greifen, so befragt man über diesen Krieg den in England so hoch geschätzten gesunden Menschenverstand und Nützlichkeitssinn. Und dabei stellt sich heraus, dass England und Frankreich ein jämmerlich schlechtes Geschäft gemacht haben. Russland freilich muss man auch hier aus dem Spiel lassen. Das hatte nichts zu verlieren. Geld zum Kriege gab Frankreich her, den Schauplatz Polen, das Leben des Bürgers, richtiger des Untertanen — Bürger gibt es in Russland keine — schätzt der Zar nicht; die russische Kriegführung wüstet mit ihrem Menschenmaterial wohl noch schlimmer als mit ihrer Munition, letztere kostet ja immerhin Geld, Menschenleben nichts. In die gefährlichsten Positionen werden die Söhne der Fremdvölker vorgeschickt, von rückwärts mit Maschinengewehren angetrieben. Aber Frankreich? Hat es sich wirklich gelohnt, um so teures Geld die Kosaken zu dingen und die eigene Mannesjugend zur Schlachtbank zu führen, damit Englands momentaner Herzenswunsch erfüllt und Deutschland vernichtet werde? Seit der großen Niederlage hatte Frankreich seine Kräfte gar mächtig entwickelt. Die fünf Milliarden waren bald wieder eingebracht. Ein riesiges Kolonialreich wurde erworben, und zwar unter der Beihilfe Deutschlands; die Konkurrenz mit dem kräftigen und regsamen Nachbar gab Ansporn zu erhöhter Tätigkeit. Der Feind wurde einer der besten und coulantesten Kunden, Handel und Industrie wuchsen gewaltig, der Wohlstand nahm zu, auf keinem geistigen Gebiet ist Frankreich unter die frühere Höhe gesunken, in einzelnen schritt es sogar in der Welt voran, schwere innere Krisen wurden überwunden. Was fehlte dir denn, ma pauvre France? Hättest du doch lieber mit deinem Besieger ein Bündnis geschlossen! Ihr Beide im Verein hättet der Welt den Frieden aufgezwungen und eine lange Epoche gesegneter Kulturarbeit und veredelter Gesittung heraufgeführt, und kein Feind hätte je dann Deine schönen Gefilde zertreten! Aber deine falschen Propheten predigten dir: Revanche! Revanche! Revanche! Und spiegelten dir vor, Deutschlands Kaiser und Volk sännen nur darauf, bei Dir einzubrechen und dich vollends zu zerschmettern. Und sackten dabei patriotisch und befriedigt die Provisionen von den russischen Anleihen ein. Nagle sie an den Schandpfahl, ma belle France, knüpfe sie an den Galgen, Deine Rhetoren, Skribenten und Volksverweser! Einer war unter ihnen, der es ehrlich und gut mit dir meinte, ein lauterer und vornehmer Mann. Und den hat Dein „Freund" in letzter Stunde noch durch Mörderhand beseitigen lassen! Aber die Anderen? Wären sie wahre Patrioten gewesen und hätten dich aufrichtig geliebt, sie hätten dir einen anderen Weg gewiesen, deine Revanche zu nehmen. Wie, wenn du alle deine Kraft der inneren Arbeit gewidmet, wenn du mit fester Hand eine Reform deines Landerbrechts und mit entschlossenem Willen eine Verbesserung deiner verrotteten Sitten durchgeführt und dem langsamen aber sicheren Aussterben deiner Kinder vorgebeugt, eine Verjüngung deiner Rasse bewirkt hättest? Wäre das nicht eine edlere Rache gewesen, die auch den Feind zur Anerkennung gezwungen hätte? Wir Juden haben ein Sprichwort hausbackener Volksklugheit, das lautet: „Anstatt dem Feind Böses zu tun, tu' ich lieber mir Gutes." Ein merkwürdiger Feind ist das übrigens. Nie habe ich in Deutschland Gefühle des Hasses gegen Frankreich wahrgenommen, auch während dieses Krieges sind die Gebildeten und Maßgebenden Frankreich gegenüber von jenen Gefühlen beseelt, denen Goethe einen so schönen Ausdruck gegeben hat. Der vielen Beweise ritterlicher Höflichkeit und Rücksichtnahme nicht zu gedenken, die der Kaiser der Republik gegenüber walten ließ. Als z. B. im Jahre 1913 eine Kunstaustellung zur Erinnerung an die Befreiungskriege veranstaltet wurde, sprach der Kaiser den Wunsch aus, dass gewisse Werke Anton von Werners zurückgestellt werden sollen, um nicht die Gefühle der Franzosen zu verletzen, worauf der pikierte Hofmaler seine ganze Kollektion zurückzog. Auch jetzt habe ich keinen gefunden, der Frankreich hasste, aber viele, sehr viele, die eine aufrichtige Sympathie für Frankreich hegen und nun mit stillem Schmerz zusehen, wie dieser Gegner sich für Englands Geldinteressen verblutet. Man täusche sich ja nicht: Wie immer dieser Krieg ausgehen mag, Frankreich bekommt jetzt einen Aderlass, von dem es sich schwerlich je ganz erholen wird. Seine männliche Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter wird dezimiert, und das wird sich an der Population der nächsten paar Jahre bitter rächen. Die Deutschen haben vorgesorgt. Nach zehn Jahren werden die jetzt Zehnjährigen waffenfähig geworden sein und Deutschland wird eine neue Armee von derselben Größe wie heute ins Feld schicken können. Frankreich ist ein kinderarmes Land, seine Bevölkerung ist seit Jahrzehnten im Rückgang begriffen, die Zahl der Sterbefälle überwog längst die der Geburten. Seit der großen Revolution und Napoleon haben die inneren und äußeren Kriege Generationen nacheinander die kräftigste Jugend hinweggerafft und die Mannbarkeit der Nation bedenklich geschwächt. Frankreich ist das Land der einzigen Söhne. Tausende und Tausende französischer Familien, die jetzt einen Sohn im Kriege verloren haben, sind kinderlos geblieben, kein lebendiges Band fesselt sie mehr an Nation und Staat. Sie sind zusammengebrochen und verwaist, die Lust ist ihnen geraubt, weiterhin die Last der Arbeit und die Verantwortung für die Zukunft zu tragen. Die Trauer in Frankreich wird trostloser, hoffnungsloser und verzehrender sein als anderswo in der Welt. Dass dieser Zustand bald auf allen Gebieten im Leben der kommenden Generation seine lähmende Wirkung äußern wird, daran ist kein Zweifel.

So sehen nun alle Freunde Frankreichs mit tiefster Sorge zu, wie eine edle Kulturrasse sich einem fremden Götzen zuliebe selber zerfleischt, uneingedenk ihrer Pflichten der Zukunft des eigenen Vaterlandes und Europas gegenüber.


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Der ganze Groll und Zorn in Deutschland kehrt sich gegen England. Mit Recht! England allein ist es, das diesen Krieg führt. Es führt ihn gegen Russland durch Deutschland und Österreich-Ungarn, gegen Deutschland durch Frankreich und Russland, und gegen Frankreich wiederum durch Deutschland und Österreich-Ungarn. Es schwächt seine Feinde durch seine Freunde und seine Freunde durch seine Feinde. Und auch die Freunde sind im Grunde seine Feinde. Morgen schon kann es gegen sie rüsten. England befolgt nur seine traditionelle Politik, die Kontinentalmächte gegeneinander auszuspielen. Freilich, wenn es gelänge, Deutschland und Österreich-Ungarn zu zerbrechen, so müsste England sich beeilen, sie wieder aufzurichten, um einen Schutzdamm gegen den russischen Freund zu haben. Indessen ist es wahrscheinlich, dass die englischen Staatsmänner das größte Vertrauen in die vereinte Kraft ihrer Feinde setzen und sich im stillen sagen: Wir können dem Ausgang des Riesenkampfes mit der größten Seelenruhe entgegensehen, unser teurer Freund Russland wird nach getaner Arbeit mit ausgebrochenen Zähnen und blutigem Kopfe ganz zermalmt am Boden liegen, dann haben wir einige Jahrzehnte Ruhe vor ihm. Mittlerweile haben wir Deutschlands Handel und Industrie vernichtet, seine Flotte zerstört und sind den gefährlichsten Konkurrenten los, nachdem Frankreich von ihm zu unserm größten Nutzen den Stoß ins Herz bekommen hat und nun kraftlos dahin zu siechen beginnt.

So fein diese Pläne gesponnen scheinen, sie machen doch den Eindruck einer verzweifelten Politik, die in äußerster Verlegenheit zu den gefährlichsten Mitteln greift, um nur einer momentanen Not abzuhelfen, ohne sich viel um die Zukunft zu kümmern.

Adam Smith, der von seinen Landsleuten so hoch verehrt wird, nannte die Engländer „a nation of shopkeepers". Ich meine aber, dass ein weitschauender und tüchtiger Geschäftsmann jeden Tag zu Gott beten sollte: „gib mir einen tüchtigen und noblen Konkurrenten, der mich zur Anspornung aller Kräfte treibt und mich davor bewahrt, dass ich raste und roste." Denn erst im edlen Wettbewerb mit seinesgleichen bringt der Mensch das Beste, was in ihm liegt, heraus. Der Segen des freien Wettbewerbes wurde von niemanden so nachdrücklich gepriesen, wie von den englischen Nationalökonomen. Nur wer an sich selbst verzweifelt und die Hoffnung aufgegeben hat, mit sachlichen Waffen im Kampfe das Feld zu behaupten, greift zu Grausamkeit und Tücke, um den Nachbar, den er nicht besiegen kann, aus dem Wege zu räumen. Sollte Englands berühmter Gewerbefleiß schon die herannahende Altersschwäche und den beginnenden Verfall vorausspüren, dass es die Welt in Brand gesetzt hat, um seinen Nebenbuhler zu vernichten, anstatt sich mit ihm zu messen?

Es mag ja übrigens vorkommen, dass ein Geschäftsmann, dem es um nichts anderes zu tun ist, als greifbaren Profit einzuheimsen, den Konkurrenten zu vernichten strebt. Dann muss er aber die Kräfte des Gegners genau abschätzen. Kann er ihn nicht vernichten, so tut er am besten, sich mit ihm zu verständigen. Ist es aber möglich, Deutschland zu vernichten? Es war einem übermächtigen Gegner möglich, den winzigen Staat des winzigen Judenvolkes nach heroischer Gegenwehr zu zerstören, seinen Boden immer und immer wieder zu verwüsten, die Bewohner auszurotten und in die Gefangenschaft zu schleppen; das Volk konnte nicht vernichtet werden. Es hat alle seine Peiniger und Vernichter überlebt. Der durch Kämpfe nach außen und nach innen seit Jahrhunderten geschwächte und überdies verratene Polenstaat konnte von drei mächtigen Nachbarn zerrissen werden; aber die Nation blieb bestehen, die Polenfrage konnte nicht aus der Welt geschafft werden und ist heute lebendiger als je. Wie aber will man es anfangen, ein Volk von solcher Vitalität, wie das deutsche, welches mit 70 Millionen den mächtigsten Staat der Welt füllt und mit weiteren 12 bis 15 Millionen seine nächste Nachbarschaft in dichten Massen bewohnt und einige Millionen weiter ostwärts sitzen hat, zu vernichten? Angenommen, man könnte seinen Staat auflösen, — wo im Himmel und auf Erden ist die Macht, die es unternehmen könnte, dieses Volk auf die Dauer niederzuzwingen, nachdem es ein halbes Jahrhundert das Hochgefühl des Beisammenseins in einem geeinten Reich gekostet hat, das seit zwei Jahrhunderten sein sehnsüchtigster Traum gewesen war? Wenn alle Völker der Welt sich zu diesem Zwecke zusammenschlössen, sie würden sich in Ohnmacht verbluten, sie würden einen harten unbeugsamen Widerstand wecken und nichts ernten als unauslöschlichen Hass und ewige Kriege. Welch ein törichter Frevel, solches auch nur zu planen. „Germany must starve!" ist, von der Rohheit und Nichtswürdigkeit ganz zu schweigen, albernes und kindisches Gefasel.

Kann man nun dem Konkurrenten nicht den Garaus machen, gebietet dann nicht der einfachste Menschenverstand und der eigene Vorteil, sich mit ihm zu verständigen, ein Bündnis mit ihm zu schließen? Die nation trop fière brauchte es nicht unter ihrer Würde zu halten, die Freundschaft des jungen Recken zu erwerben, anstatt mit dem plumpen Koloss im Osten gegen ihn gemeinsame Sache zu machen. Man sagt uns, dass in den deutschen Kolonien Fremde weniger liberal behandelt worden seien als in den englischen. Es soll einem Nichtdeutschen schwieriger gewesen sein, dort Bankdirektor, Präsident einer Aktiengesellschaft und dergleichen zu werden als einem Nichtengländer in einer englischen Kolonie. Sollten das die Schwierigkeiten gewesen sein, die nicht anders als durch den ungeheuren Weltbrand überwunden werden konnten? Die Engländer kämpfen auch jetzt für das gleiche Recht Aller in der Welt gegen die Engherzigkeit der Deutschen, belehrt man uns. Aber unter zehntausend Menschen gibt es kaum einen, der ein unabweisbares Bedürfnis hat, in einer deutschen Kolonie Direktor einer Aktiengesellschaft oder einer Bank zu werden, und auch diese wenigen hätten wahrscheinlich gern auf die Befriedigung ihrer Gelüste verzichtet, wenn sie damit die Vermeidung dieses Krieges erkauft hätten. Im übrigen entspringt die Weitherzigkeit der Engländer doch nicht purer Menschenliebe allein, sondern liegt wohl ein wenig auch in ihrem Interesse. Sollten nun die Deutschen so dumm sein, und gegen ihr eigenes Interesse ein fremdenfeindliches Regime für die Dauer etablieren? Rekriminationen und Misshelligkeiten sind übrigens doch dazu da, um auf Kongressen durch Verhandlungen geschlichtet und beseitigt zu werden. Wozu diese unzähligen Depeschen und Noten, die die Regierungen ewig miteinander wechseln, wenn solche geringfügigen Differenzen, wie sie im Privatleben eine einmalige offene Aussprache behebt, im Völkerleben verheerende Kriege entbrennen lassen? Ach, mit wie viel Papier und wie wenig Verstand wird doch die Welt regiert!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden