Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen

Autor: Grässe, Johann Georg Theodor Dr. (1814-1885) deutscher Bibliograph, Sagenforscher und Literaturhistoriker, Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sagen, Sagenschatz, Sachsen, Überlieferungen
Zum ersten Male in der ursprünglichen Form aus Chroniken, mündlichen und schriftlichen Überlieferungen und anderen Quellen gesammelt und herausgegeben.

Es ward von unseren Vätern mit Treue uns vermacht
Die Sage, wie die Väter sie ihnen überbracht,
Wir werden unsern Kindern vererben sie aufs neu,
Es wechseln die Geschlechter, die Sagen bleiben sich treu.


Adelbert von Chamisso (1781-1838)
Als im Jahre 1817 die Gebrüder Grimm dem deutschen Volte ihre Sammlung deutscher Sagen überlieferten, da leiteten sie dieselben mit den Worten ein: „Es wird dem Menschen von Heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlandes überschreitet, wo ihn jener verlässt. Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte, welche neben einander stehen und uns nach einander die Vorzeit als einen frischen und belebenden Geist nahe zu bringen streben.“ Der allgemeine Beifall, mit dem das deutsche Volk diese erste ungeschmückte Sammlung vaterländischer Sagen begrüßte, zeigt am Besten, wie wahr jene Worte waren, aber erst lange nachher (1835) führte Jacob Grimm durch seine Deutsche Mythologie den Beweis, wie ohne eine möglichst vollständige Zusammenstellung der in den verschiedenen Teilen unseres großen Gesamtvaterlandes noch bewahrten Lokalsagen ein vollständiges System der altgermanischen Religion nicht aufgestellt werden könne, weil erst durch die von ihm und seinem Bruder gegebene Anregung zur vaterländischen Sagenforschung auch von anderer Seite her Material zu jenem klassischen Werke herbeigeschafft ward, welches wir eben erst wieder in einer viel vermehrten und verbesserten Ausgabe (d. h. als Abdruck der zweiten von 1844) vor uns liegen haben. Ist aber der rein wissenschaftliche Nutzen, welchen die Sagenforschung, insofern jeder Sage ein wirkliches Faktum zum Grunde liegt, dem Altertumsforscher und Historiker gewährt, an sich schon Grund genug, warum dieselbe nach besten Kräften gepflegt werden muss, so wird sich auch noch eine so zu sagen moralische Notwendigkeit zu ihrer Empfehlung herausstellen, insofern die Sage unbezweifelt als Nährerin und Pflegerin der Vaterlandsliebe betrachtet werden darf.

Darum hat man auch den früher so verschrieenen Vater der Bayrschen Geschichte, Aventinus, erst in neuerer Zeit so hoch schätzen gelernt, weil er fast der einzige Geschichtsschreiber der drei letzten Jahrhunderte ist, der seine Quellen nicht bloß in trockenen Urkunden und Jahrbüchern, sondern auch in den mündlichen Überlieferungen der Nation suchte, während ein späteres Geschlecht dieselben vornehm verachtete und dadurch die Geschichtsschreibung ihrer romantischen Arabesken beraubte. Denn diesen Namen verdienen unsere Sagen, da in ihnen ein ganzer Schatz frischer Volkspoesie verborgen liegt, und seitdem die moderne Aufklärung, das nüchterne Prinzip der Negation, dem Volke seine Wunder- und Märchenwelt geraubt hat, seitdem mit den alten Volksbüchern auch der alte Aberglaube vertrieben wurde, ist die alte Gemütlichkeit, Treue und Glaube im Volke um Vieles seltner geworden. Der modernen Bildungsperiode aber, die über Alles Auskunft zu geben sich vermisst, die das Gräschen wachsen hört, die das gemütvolle Leben deutscher Vorzeit verhöhnt, ist gleichwohl Eins nicht möglich, sie kann keine echten Volksagen erfinden, denn es mangelt ihr die wahre Poesie. Doch das deutsche Volk hat sich nicht so leicht seine Sagen nehmen lassen, es hängt so fest an ihnen wie an der Scholle, worauf es geboren ist, und darum haben sich auch noch so zahlreiche Reste alter Gebräuche, Sitten und romantischer Traditionen erhalten, dass wir fast von den meisten deutschen Ländern mehr oder weniger vollständige Sagensammlungen vor uns haben. Es kann hier nicht der Ort sein, ein vollständiges Verzeichnis; dieser in neuerer Zeit täglich zusehends anwachsenden Literatur zu geben, ich beschränke mich nur darauf, zu bemerken, außer den Gebrüdern Grimm neuerdings Bechstein die bedeutendsten Sagen unseres gemeinsamen Vaterlandes zusammenzustellen suchte, während speziell den Sagenschatz von Thüringen und Franken der letztgenannte Gelehrte, den rheinischen Simrock, den elsassischen Stöber, den niederländischen und niederdeutschen Wolf, Schwartz und die Gebrüder Colshorn, den schleswig-holstein’schen Müllenhoff, den preußischen Tettau und Temme, den märkischen Temme und Kuhn, den schwäbischen Schwab und Meyer, den badischen Schnetzler und Baader, den bayrschen Panzer und Schöppner, den des Harzes Pröhle etc. mit großem Fleiße zusammentrugen und so die Strebepfeiler des einstigen Rundbaues deutscher Sagenvergleichung aufführten. Freilich fehlt zur Vollendung desselben noch mancher Stein, weil, abgesehen davon, dass einige neuerlich angelegte Sammlungen, wie z. B. die über Luxemburger, Mecklenburger, Anhaltiner etc. Sagen durch Beimischung fremder Zutaten verballhornt wurden, ganze Staaten, wie z. B. Österreich, Sachsen etc. bis jetzt noch fast gar nicht vertreten sind, allein die Gründung eines förmlichen Organs für unsere Wissenschaft durch J. W. Wolfs treffliche Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde (Göttingen 1853) hat diesem Studium einen neuen Impuls gegeben, der hoffentlich bald die bisher noch fühlbaren Lücken auszufüllen streben wird.

Darum übergebe ich denn auch hiermit dem deutschen und vorzugsweise dem sächsischen Volke einen kleinen Beitrag zur Vervollständigung des großen Zyklus seiner Nationalsagen, indem ich, was ich seit langer Zeit, freilich anfangs zu einem andern Zwecke (zur allgemeinen Sagenvergleichung), über die Sagen des Königreichs Sachsen zusammengebracht habe, veröffentliche. Ich kann sagen, dass meine Arbeit, so mangelhaft sie auch vielleicht sein mag, jedenfalls der erste Versuch ist, die sächsischen Sagen in ihrer ursprünglichen Form, so wie dieselben in Chroniken und Zeitbüchern, sowie in andern Werken und im Munde des Volks erhalten sind, wiederzugeben. Darum vermeide ich es auch, hier weitläufiger von den von mir benutzten Quellen zu sprechen, da dieselben bei jeder einzelnen Sage angegeben sind, nur das will ich erwähnen, dass wesentliche Vorarbeiten nicht existieren, denn die Werke von W. Ziehnert (Sachsens Volkssagen. Annaberg 1838 — 39. III. 8. 1851. 8.) und Ad. Segnitz (Sagen, Legenden, Mährchen und Erzählungen aus der Geschichte des sächsischen Volkes. Meißen 1839—54. II. 8,) können, weil sie in gebundener Rede abgefasst sind, nicht als solche betrachtet werden, wären sie selbst, was eben ihrer Form wegen nicht möglich war, vollständig. Außerdem hat sich besonders Ziehnert vielfacher, unverzeihlicher Abweichungen und Veränderungen der einzelnen Sagenstoffe schuldig gemacht, was bei Segnitz, der sich einer möglichst treuen Auffassung derselben befliß, nicht der Fall ist. Indes gilt von der poetischen Behandlungsweise der Volkssagen das Urteil, welches Grimm, Deutsche Mythologie (II. Ausg.) S. XII. über die Behandlung der Sagenstoffe in folgenden Worten gefällt hat: „Die Volkssage will aber mit keuscher Hand gelesen und gebrochen sein. Wer sie hart angreift, dem wird sie die Blätter krümmen und ihren eigensten Duft vorenthalten. In ihr steckt ein solcher Fund reicher Entfaltung und Blüte, dass er auch unvollständig mitgeteilt in seinem natürlichen Schmuck genug tut, aber durch fremden Zusatz gestört und beeinträchtigt wäre. Wer diesen wagen wollte, müsste, um keine Blöße zu geben, in die Unschuld der ganzen Volkspoesie eingeweiht sein, wieder ein Wort zu ersinnen ausginge, in alle Sprachgeheimnisse etc.“ Übrigens haben beide Herren Verfasser ihre Aufgabe von ihrem Gesichtspunkte aus glücklich gelöst, und die von ihnen gewählte Form hat neuerlich noch an Schöppner (Bayrisches Sagenbuch I. S. XI.) einen warmen Verteidiger gefunden, allein jedenfalls habe ich mit ihnen, da sie über dem einen ganz andern Zweck verfolgen, durchaus keine Vergleichung zu scheuen und bemerke nur noch, dass mir des Herrn Rentamtmann Dr. Preusker treffliche Blicke in die vaterländische Vorzeit (Leipz. 1841. III. 8.) von besonderem Nutzen gewesen sind, wie denn auch die Sammlung Lauscher Volkssagen von Gräve (Bautzen 1839. III Hefte. 8.) stets eine der Hauptquellen für diesen Teil Sachsens bleiben wird, während wiederum Hager in seinen Voigtländischen Sagen (1839 — 40. II Hefte. 8.) seine Stoffe poetisch behandelt und darum für die kritische Benutzung fast unbrauchbar gemacht hat. Sonst hat Herr Dr. Wilhelm Schäfer hierselbst, durch seine Forschungen über sächsische Geschichte rühmlichst bekannt, die Güte gehabt, mich mit verschiedenen schätzbaren Notizen zu unterstützen, wofür ich ihm hiermit pflichtschuldigst danke. Zu bedauern ist es, dass der bekannte Dresdner Geistliche Hilscher, der zu Anfange des vorigen Jahrhunderts verschiedene Monographien über hier einschlagende Gegenstande veröffentlichte, aus übel angebrachter Aufklärungswut Vieles, was er wusste und seitdem verloren gegangen ist, ganz verschwieg, und das, was er mitteilte, aus Zelotismus verdrehte und verdarb. Was endlich die Einrichtung meines Werkes selbst anlangt, so habe ich gewissermaßen als Einleitung des Ganzen einige sich an den Namen der Sachsen knüpfende Sagen vorausgeschickt, die zwar speziell nicht auf das heutige Königreich Sachsen Bezug haben, aber doch nicht füglich wegzulassen sind, schon weil sie ein treues Bild des alten naiven deutschen Chronikenstils geben; auf diese habe ich einige das sächsische Fürstenhaus betreffende Traditionen folgen lassen und dann die übrigen Sagen, nach den Kreisdirektionen geordnet, hinzugefügt; am Schlüsse des Werkes weiden einige Anmerkungen verschiedene Stellen im Texte erläutern, und hoffe ich, dass die geehrten Leser, wenn sie berücksichtigen, wie viele Bücher durchgelesen werden mussten, ehe gegenwärtiges Wert entstehen konnte, etwa noch geladene Lücken nachsichtig beurteilen werden.

Dresden, den 25. November 1854.