Venedig als Weltmacht und Weltstadt

Autor: Zwiedineck-Südenhorst, Hans von (1845-1906) österreichischer Historiker und Professor für Geschichte, Erscheinungsjahr: 1906
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Venedig, Italien, Reiseziel, Lagunenstadt, Kunstleben, Stadtgeschichte, Staatswesen, Architektur, Baugeschichte, Reisebeschreibung,
Einführung

Die Stadt Venedig wetteifert in bezug auf ihre Anziehungskraft noch heute mit allen Metropolen der Welt; selten führen Geschäfte und persönliche Verbindungen, selten führt der Trieb nach Unterhaltung und Vergnügen in die zur Fremdenherberge gewordene Lagunenstadt - sie wird von der größten Zahl aller Reisenden um ihrer Besonderheit willen ausgesucht, um eines ganz eigentümlichen Reizes willen, der noch das Staunen und die Bewunderung übertrifft, mit welcher uns der Anblick unzähliger, unergründlicher Kunstschätze erfüllt. Das Gefallen an dem tausendfältigen Spiele leuchtender Sonnenstrahlen aus breiten Wasserspiegeln, an dem Kontraste dunkelster Schatten in engen, von turmhohen Wänden umschlossenen Kanälen, das Entzücken über die zartesten und mächtigsten Formen der Paläste und Kirchen, über die satten Farben der Mosaiken und die Vielgestalt der Säulen und Bogen, der Tore und Hallen ist nicht der letzte und einzige Grund unserer Bewegung; stärker noch wirkt der Gedanke an die Kraft, die dies alles geschaffen, an das Leben, das sich in dieser schönen Umgebung entwickelt hat und das ein anderes gewesen sein muss, als das Leben von heute, das sich laut und geschwätzig, bunt und vergnüglich, aber arm an Inhalt und Bedeutung um uns abspielt.
Kein inneres Band verknüpft in Venedig Vergangenheit und Gegenwart, zweifelhaft scheint uns das Anrecht der modernen Bevölkerung, unter den Denkmalen entschwundener Geschlechter, von deren Macht und Betriebsamkeit sie kaum mehr eine Ahnung hat, einem kärglichen Verdienste nachzugehen. Von der Gesellschaft der Republik sind nur die kleinen Leute übriggeblieben, die Schiffer und Lastträger, die Glasarbeiter und Spitzenmacherinnen und all das genügsame, fröhliche Volk, das in der Calle und in den Sottoportici, im Laden und im Hausflur singend und schreiend sein Handwerk verrichtet, ihre Herren von einst aber sind verschollen und verkommen. Man hört und liest noch die Namen von alten Ämtern und Behörden, man sieht die Prunksitze der Senatoren und Ratsherren, man wandelt an den Gräbern von Dogen und Admiralen, Gesandten und Feldherrn vorüber - aber von dem alten Staatswesen ist kein Schatten mehr auf die Gegenwart gefallen.

Auch das Kunstleben Venedigs hat Unterbrechungen erfahren, der vollendete Geschmack der Renaissance-Gesellschaft hat sich verflüchtigt, Malerei und Kleinkunst haben sich zuzeiten weit von den schönen Vorbildern aus den Tagen des Einquecento entfernt; doch dies waren vorübergehende Verirrungen, die heute nur ihrer Seltenheit und Absonderlichkeit wegen noch bewerkt werden. Mit Unwiderstehlichkeit hat die alte Kunst ihre Herrschaft wieder angetreten und die Künstler und Kunstfreunde der Neuzeit in ihren Bannkreis gezogen. Tausend Fäden verbinden die Schöpfungen unserer Zeitgenossen mit den Werken der großen Meister, die Venedig geschmückt und durch ihre glänzende Tätigkeit verherrlicht haben. Von dem Staatswesen aber, in dessen Schutze und mit dessen Mitteln diese Meister ihre großartigsten Ideen verwirklichen durften, von den Einrichtungen und öffentlichen Unternehmungen, durch welche jener Reichtum und jene tiefgehende Geistesbildung begründet wurden, ohne die es kein stolzes Aufblühen der künstlerischen Kräfte geben kann, ist nichts übriggeblieben als die geschichtliche Überlieferung. Der einst lebensvolle Organismus ist gänzlich abgestorben, kein inneres Element desselben ist in die moderne Verwaltung übergegangen, nur örtliche Erinnerungen knüpfen an die republikanische Regierung an.

Das päpstliche Rom steht dem antiken Kaisertum näher, als die königliche Provinzstadt der Residenz der Signorie, und doch ist der Übergang vom Imperium zur Hierarchie nicht ohne Zwischenstufen und große Ereignisse erfolgt, während die Auflösung des großen Rates und die Abdankung des Dogen von der Einsetzung eines kaiserlich österreichischen Gouverneurs nur durch einige Monate getrennt waren und mit Ausnahme des feinfühligen Lodovico Manin nur wenige Venezianer von ihrer Staatsumwälzung erschüttert oder ernstlich erregt wurden. Das Lebenslicht der alten Republik hatte nur noch so schwächlich gebrannt, dass man in dem Morgenrot des neuen Jahrhunderts sein Erlöschen kaum wahrnahm, und welche Fülle von Glanz und leuchtendem Geiste war einst von ihm ausgegangen, wie aufmerksam hatte einst Europa jede Bewegung des Löwen von S. Marco verfolgt!

Es gehört zu den lehrreichsten und dankbarsten Aufgaben der Geschichte, die Schicksale solcher Staatskörper zu untersuchen, die sich vollständig ausgelebt haben, in denen bestimmt zu unterscheidende, staatsbildende Kräfte zu deutlich wahrnehmbarer Entwicklung und Blüte gelangt sind und bis zur völligen Erschöpfung gewirkt haben. Am schärfsten wird der organische Verlauf des geschichtlichen Lebens bei jenen künstlicheren politischen Gebilden zu erkennen sein, die nicht den Charakter des Volksstaates an sich tragen, indem sie entweder nur Bruchteile eines größeren Volkes in sich ausgenommen oder sich ans mehreren Volksmassen verschiedener Abstammung zusammengesetzt haben. Die Gesetze der Politik decken sich nicht immer mit jenen des Völkerlebens; die elementare Kraft einer im Kerne gesunden Nation kann über alle politischen Berechnungen triumphieren, wie bisweilen eine robuste Menschennatur über die Vorhersagungen ärztlicher Weisheit. Wenn hingegen ein künstlich ausgebautes Staatswesen, das aus anderen als allgemeinen Volksinteressen beruht, den verhängnisvollen hippokratischen Zug an sich trägt, dann vermag auch kein politischer Heilkünstler mehr sein Ende aufzuhalten.

Auch die Republik Venedig war kein Volksstaat, sie ist nicht aus dem Bedürfnisse einer großen Volksgemeinschaft nach territorialer Ausdehnung hervorgegangen, sondern entstand aus der Verbindung einer kleinen Anzahl von Gemeinden, die, von besonderen, eigentümlichen Vorzügen ihrer Wohnsitze begünstigt, ihre Selbständigkeit behaupten, Wohlstand und geistige Reise erwerben konnten, die endlich durch ihr inneres Wachstum und eine feste Gliederung die Eignung erhalten haben, andere Gemeinwesen, die lange Zeit gleichberechtigt neben ihr bestanden hatten, an sich zu schließen und ihrem politischen Gefüge einzuverleiben. Die Republik entwickelte sich zwar zum Teile aus dem Boden nationaler Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit, aber sie war nicht auf diesen beschränkt, ihr Bestand erfüllte keinen höheren nationalen Zweck und blieb unabhängig von den Schicksalen der übrigen italienischen Staaten. Auch ihre Auflösung steht in keinem notwendigen Zusammenhange mit nationalen Bestrebungen, sie ist nicht durch das Verlangen nach einer staatlichen Vereinigung des italienischen Volkes hervorgerufen worden, sondern ausschließlich dem Versiegen der eigenen staatserhaltenden Kraft zuzuschreiben, die nicht mehr ausreichte, einem rücksichtslosen Eingriff fremder Gewalten zu widerstehen.

Um so geheimnisvoller erscheint es uns, dass diese Kraft einst die Leistungsfähigkeit großer Völker übertraf, dass sie zur Schöpferin einer Weltmacht wurde, von welcher nicht nur wichtige Entscheidungen ausgingen, sondern auch weitausgreifende Kulturaufgaben gelöst wurden; um so anziehender wird die Untersuchung des Lebensprozesses dieses künstlichen Staatswesens, der sich einer mehr als tausendjährigen Dauer erfreute. Er äußerte sich in der Entstehung einer ganz eigenartigen, logisch aufgebauten Verfassung, die zu den geistreichsten Schöpfungen der Politik gezählt werden muss, in einer Verwaltung von seltener Zweckmäßigkeit, in einer wunderbaren Vielseitigkeit der politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Bildung, die in der Geschichte kaum irgendwo ihresgleichen findet. Die venezianische Diplomatie steht auf derselben Höhe der Vollendung wie die venezianische Baukunst und Malerei, die Denkmäler ihrer Tätigkeit sind ebenso lehrreich für die Kenntnis der weltgeschichtlichen Erscheinungen und ihrer inneren Beziehungen, als die Werke ihrer Architekten, Maler und Bildhauer für die Geschichte des künstlerischen Geschmackes und der Schönheitsideale. Die geistigen Anlagen einer bevorzugten Rasse haben sich in diesem Staate zu einer ungewöhnlichen Vollendung entfaltet und Jahrhunderte hindurch die Bewunderung der Welt auf sich gezogen; nach allseitiger Verwendung derselben trat jedoch eine Erschöpfung ein, die nicht ohne nachteiligen Einfluss auf die Regierung bleiben konnte. Die Republik wurde unfähig, ihr Gebiet zu schützen, sie beschränkte sich auf die Polizeifunktionen und beschloss ihr Dasein als eine von den Nachbarn geduldete, liebenswürdige, aber hinfällige Greisin. Ein einziger brutaler Schlag der armierten Sansculotten machte dem Leben der alten Aristokratin ein Ende, es erlosch ruhmlos, ohne Aufsehen, von Europa kaum beachtet.

Die Erinnerung an die ,,interessante Erscheinung“ wurde aber bald lebendig, ihre reiche, prächtige Hinterlassenschaft zog immer aufs neue die Blicke nicht nur der glücklichen Erben, sondern jener großen, aus allen Nationen sich bildenden Gemeinde auf sich, für die nichts Schönes und Erhabenes auf Erden vergeblich entstanden ist, für die keine Vergangenheit so weit zurückliegt, um sie von der Forschung nach unbekannten Zügen menschlichen Lebens und Schaffens auszuschließen, für die aus der Kenntnis des Gewesenen die Fähigkeit entsprießt, das Gewordene zu begreifen. Das nationale Leben des heutigen Italiens steht mit der venezianischen Geschichte freilich im allergeringsten Zusammenhange, die weisen des Maggior Consiglio müssen jede Verbindung mit den Wortführern des Monte Citorio ablehnen: das geistige Erbe Venedigs gehört einem viel weiteren Kreise, aus ihm kann jeder schöpfen, der sich durch das manchmal widerwärtige Gestrüppe von Erzählungen gleichgültiger Raub- und Rachezüge und ermüdender diplomatischer Kreuz und Querschliche seinen Pfad zu suchen versteht, bis er jene Aussichtspunkte gewinnt, von denen man das Antlitz der Menschheit zu überblicken vermag.

001 Bildnis der Catterina Cornaro. Gemälde von Tizian in der Uffizien-Galerie zu Florenz.

001 Bildnis der Catterina Cornaro. Gemälde von Tizian in der Uffizien-Galerie zu Florenz.

002 Basrelief von Antonio Lombardo, ausgeführt für Alfonso d’Este

002 Basrelief von Antonio Lombardo, ausgeführt für Alfonso d’Este

003 Seevenetien und seine Umgebung. 18. Jahrhundert

003 Seevenetien und seine Umgebung. 18. Jahrhundert

004 Prospekt von Venedig. Aus H. Schedls Weltchronik, 1493 (S. 69)

004 Prospekt von Venedig. Aus H. Schedls Weltchronik, 1493 (S. 69)

005 Prospekt von Venedig. Aus H. Schedls Weltchronik, 1493 (S. 69)

005 Prospekt von Venedig. Aus H. Schedls Weltchronik, 1493 (S. 69)

006 Torcello. Rückseite des Domes und Campanile

006 Torcello. Rückseite des Domes und Campanile

007 Grundriss des Markusplatzes für die Zeit von 829-1063 (Rekonstruktion von A. Pallanda)

007 Grundriss des Markusplatzes für die Zeit von 829-1063 (Rekonstruktion von A. Pallanda)

008 Vorderansicht der Markuskirche in ihrer ersten Anlage (Rekonstruktion von A. Pallanda)

008 Vorderansicht der Markuskirche in ihrer ersten Anlage (Rekonstruktion von A. Pallanda)

009 Faksimile einer alten Miniatur aus einem Codex der Bibliothek von S. Marco

009 Faksimile einer alten Miniatur aus einem Codex der Bibliothek von S. Marco

012 Die Dogenmütze (Corno oder beretta ducale), in ihren verschiedenen Formen

012 Die Dogenmütze (Corno oder beretta ducale), in ihren verschiedenen Formen

013 Platz und Basilika von S. Marco zu Venedig

013 Platz und Basilika von S. Marco zu Venedig

014 Hauptportal der Basilika von S. Marco (XII. Jahrhundert)

014 Hauptportal der Basilika von S. Marco (XII. Jahrhundert)

015 Innenansicht der Basilika von S. Marco (XII. Jahrhundert)

015 Innenansicht der Basilika von S. Marco (XII. Jahrhundert)