Seevenetien unter byzantinischer Hoheit

Die Geschichte des Staates Venedig beginnt nicht an jenen Örtlichkeiten, an denen später seine gesamte geistliche und politische Tätigkeit vereinigt wurde, nicht in der Umgebung von S. Marco oder am Rialto; sie entbehrt in ihren Anfängen eines städtischen Zentrums; denn sie muss an die Gründung von mehreren Gemeinwesen kleinsten Umfanges anknüpfen, die zwar durch dieselben Ereignisse veranlasst worden sind, aber doch nicht einem bestimmten, einheitlichen Plane entsprachen. Zu diesen Gründungen führten die Einfälle fremder, gewalttätiger Völkerschaften in das östliche Oberitalien, das dem aus den Donauländern kommenden Stoße, mit dem die Völkerwanderung begann, zunächst ausgesetzt war. Die Bewohner des festländischen Venetiens suchten sich vor den Gewalttaten der Goten, gegen welche sie das weströmische Kaisertum nicht mehr zu schüren vermochte, zu retten, indem sie mit ihrer Habe an die adriatische Küste zogen, wo zwischen den zahlreichen, seichten Meeresarmen viele wohnliche Inseln lagen, die zu längerem Aufenthalte Gelegenheit boten. Dort wohnten Fischer von tüchtigem Wesen, gewohnt, mit den Elementen zu kämpfen und sich durch harte Arbeit spärliche Nahrung zu erwerben, doch ohne politische Organisation, ohne höhere Kultur, ohne Wohlstand. Sie waren desselben Stammes wie jene vielleicht dem illyrischen Stamme angehörenden Veneter, welche den Kern der Bevölkerung der transpadanischen Städte zwischen den Alpen, dem Meere und der Etsch ausgemacht hatten, aber sie waren ein einfaches, armes Seevolk geblieben, während jene schon seit Jahrhunderten römische Bürger geworden waren und das Recht und die Sitte der Herren Italiens angenommen hatten. Eine Verschmelzung der beiden Elemente, die seitdem im seeländischen Venetien zusammen wohnten, hat niemals vollständig stattgefunden; die Familien aus Aquileja, Padua, Oderzo, Altino und anderen mit römischem Komfort ausgestatteten Gemeinwesen, die reichen Kapitalisten und Gewerbetreibenden, durch deren Hände seit Jahrhunderten aller Geschäftsverkehr gegangen war, bildeten den rauen Fischern gegenüber, deren Beschäftigung ihnen niemals einen nennenswerten Überschuss erbringen konnte, immer eine höhere soziale Klasse. Sie waren zwar genötigt, manches von den Lebensgewohnheiten ihrer neuen Gemeindegenossen anzunehmen, sich körperlich dem neuen Berufe anzupassen und mit eigener Hand für ihre Sicherheit zu sorgen, dies veränderte aber die Stellung der Zugewanderten im wesentlichen nicht; sie blieben die Vornehmen, die wirtschaftlich Kräftigen und bemächtigten sich selbstverständlich auch der Leitung der Verwaltung in jenen Städten, die allmählich an Stelle der früheren Fischerdörfer entstanden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt