Der Große Rat

Zwischen den Dogen und das Volk hatte sich der Große Rat eingeschoben, der sich allmählich zur souveränen Regierungsversammlung emporschwang. In den ersten Jahrhunderten des Dogats fühlten die wohlhabenden zugewanderten Familien sich mächtig genug, um das niedere Volk, die Nachkommen der altvenezianischen Fischer, vollständig zu beherrschen, die Stimme des Volkes war ihre Stimme. Der natürliche Verlauf jeder Verfassungsentwicklung führt aber dahin, dass sozial zusammengesetzte Körperschaften nach Trennung und Unterscheidung verlangen, dass eine Sonderung der Rechte vor genommen und von den Stärkeren, durch Besitz und Energie Ausgezeichneten, eine große Zahl von Rechten beansprucht wird. Die Unterdrückten sind selbstverständlich die Verbündeten der Dynasten, deren Interesse dem der Vornehmen gerade entgegengesetzt ist. Das Streben der Dogenfamilien nach Aufrichtung einer dynastischen Herrschaft konnte nur in jener sich stetig vermehrenden Volksmenge Unterstützung finden, die sich infolge der veränderten Lebensverhältnisse und des immer fühlbarer werdenden Reichtums von den Vermögenden getrennt und zurückgesetzt sah. Diese Menge musste der politischen Rechte verlustig werden, wenn die Freiheit und Unabhängigkeit Seevenetiens erhalten werden sollte. Denn diese beruhte auf dem freiwilligen Zusammenwirken der an der Existenz des Staates am meisten beteiligten Bürger. Ein erbliches Herzogtum hätte seine Stütze notwendig in irgendeinem Lehensverbande suchen müssen, es durfte nie die gesamte Kraft des Staates in Bewegung setzen, weil vor der selben die dynastische Macht immer noch zu schwach erschienen wäre. Die Furcht vor den politischen Nebenbuhlern hat so viele Fürstenhäuser zu Verrätern an dem eigenen Volke gemacht. In der ungemein kritischen Epoche, in welcher sich die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in einer politischen Gemeinschaft vollzieht, entscheidet häufig die Organisation und durch diese die höhere Einsicht. So in Venedig.

Durch die Einsetzung des großen Rates wurde auch die Stellung jener Körperschaft verändert, mit der sich die Dogen bereits umgeben hatten, um Staatsangelegenheiten mit ihr zu beraten. Sie führte den Namen der Pregadi (Pregati, Gebetenen) weil sie vom Dogen zur Versammlung gebenten wurden. Ihre Zahl war bis dahin nicht beschränkt gewesen, ihre Bestimmung ging dahin, dem Dogen einen Rückhalt für seine Regierungshandlungen zu gewähren und seine Autorität zu verstärken. Seit 1229 war aber auch die Einsetzung der Pregadi dem großen Rate übertragen, wodurch dieselben in einem ständigen Ausschuss des letzteren umgestaltet wurden. Aus den Pregadi entwickelte sich der Senat, indem ihren 60 Mitgliedern noch eine Verstärkung, die Zonta, hinzugefügt und zu deren Beratungen die Quarantia, der peinliche Gerichtshof von 40 Mitgliedern, berufen wurde. Zum Senate wurde auch der Doge und seine engeren Räte gezählt, ihm gehörten später die Häupter der meisten Behörden an, deren Stellung ihnen einen Anspruch auf Berufung zu den Pregadis gewährte (Magistrati sotto Pregadi), ferner die Personen, welche Gesandschaftsposten oder Verwaltungsstellen in den Provinzen versehen hatten, so dass die Zahl der Senatsmitglieder bis auf 300 stieg. Der Senat vereinigte allmählich den größten Teil der Exekutive in seiner Hand, er verhandelte über die inneren und äußeren Angelegenheiten, die nicht an den Großen Rat geleitet werden mussten, und stellte darüber Dekrete aus, beschloss über Krieg und Frieden, verwaltete die Staataeinnahmen und das Münzwesen, durfte jedoch keine neuen Steuern einführen, er machte Anleihen und gebot über die Truppen. Die leitung des Senates und die Ausführung seiner Beschlüsse oblag der Signorie, die aus dem Dogen, seinen sechs oberen Räte (Consiglieri die supra) waren die sechs Bezirke der Stadt vertreten, durch die drei Capi superiori die richterlichen Kreise mit ihren ausgedehnten Kenntnissen der persönlichen Verhältnisse aller Mitbürger. Die Serenissima Signoria, früher Minor Consiglio genannt, nahm in allen Versammlungen des Großen Rates und des Senates eine erhöhte Estrade ein, auf welcher später auch noch die Überwachungskommissionen der Avvogadori del Commun und die drei Häupter des Rates der Zehn Platz nehmen durften. Die Dogengewalt ging im Laufe der Zeit gauz und gar in die Befugnisse der Signorie über und erhob sich nur dann über dieselbe, wenn sie von einer hervorragenden, geistig bedeutenden Persönlichkeit getragen wurde. Die Signorie war die Inkarnation des Misstrauens der Aristokratie gegen den Dogen, der nichts anderes als der äußere Repräsentant der Souveränität sein sollte, die aber tatsächlich von der Signorie ausgeübt wurde. Bei öffentlichen Veranstaltungen konnte der Doge niemals anders als in Begleitung der Signorie erscheinen, die jede seiner Handlungen, auch die privater Natur, zu überwachen hatte. Von der Signorie wurden alle an den Dogen gerichteten Depeschen und Briefe eröffnet, alle Gnadensachen gingen durch ihre Hand und durften nicht vor den Senat gebracht werden, bevor sie nicht in der Signorie einer Vorberatung unterzogen worden waren. Die Mitglieder wechselten nach Amtsperioden von acht Monaten, wurden jedoch schon einen Monat vor ihrem Amtsantritte in Eid genommen und von ihren Vorgängern in den Geschäften unterrichtet. Sie waren in Permanenz, präsidierten als Regierungsmitglieder allen Ratsversammlungen, hatten die Pflicht, alle in denselben gestellten Interpellationen zu beantworten, und nahmen bei Debatten das letzte Wort für sich in Anspruch.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt