Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.

Ein historischer Versuch
Autor: Mehring, Franz (1846-1919) Publizist und Politiker, Erscheinungsjahr: 1877

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sozialdemokratie, Politik, Sozialdemokraten, Kommunisten, Partei, Arbeiterverein, Arbeiterbewegung, Agitation, Debatten, Wahlrecht, Arbeiterpartei, Klassenkampf, Sozialisten, Revolution, Revolutionäre, Kapital, Werktätige, Kapitalisten, Gesellschaft, Klassen, Genossen
Die nachfolgende Darstellung bezweckt weder eine erschöpfende, noch eine kritische Geschichte des deutschen Sozialismus zu geben. Auch erhebt sie nicht den Anspruch, sein Entstehen und Wachsen im organischen Zusammenhang der europäischen Arbeiterbewegung zu schildern. Für Beides wäre heute kaum schon die Zeit, und zudem ließen sich diese Aufgaben schwer in dem engen Rahmen einer Schrift lösen, welche sich nicht sowohl an das Interesse fachwissenschaftlicher Kreise, als an die Teilnahme des gebildeten Publikums im Allgemeinen wendet. Es soll hier nur der äußere Verlauf der sozialistischen Parteiagitation in seinen charakteristischen Gestalten und Phasen geschildert werden, jene schwindelnde Jagd nach dem Glücke, die am 23. Mai 1863 zu Leipzig mit der bescheidenen Forderung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts begann und am 26. Mai 1875 zu Gotha mit der Proklamierung des blanken und baren Kommunismus theoretisch ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat. Das Ziel dieser Arbeit ist somit sehr bescheiden, aber es lohnt sich doch vielleicht, ihm nachzutrachten in Tagen, in welchen die Sozialdemokratie das dritte Schlagwort der öffentlichen Debatte ist, ohne dass kaum einer von je tausend Leuten, die es gebrauchen, genauer das Wesen kennt, welches der Name deckt.

Wie sehr dies zu beklagen sein mag, so ist es doch nur zu begreiflich für Den, der sich längere Zeit mit diesen Dingen beschäftigt hat. Auch der Politiker von Fach vermag nur mit Mühe einen halbwegs klaren Überblick über die Entwicklung der sozialistischen Arbeiterpartei zu gewinnen. Literarisch ist auf diesem Gebiete noch Wenig geleistet und das Wenige, wie beispielsweise die einschlägigen Kapitel in Dührings bekanntem Werke und des ultramontanen Dr. Jägers „Der moderne Sozialismus", ist nicht grade mustergültig. Viel höhere Ansprüche kann Rudolf Meyers „Emanzipationskampf des vierten Standes" erheben, eine Arbeit, die, wie immer man über die christlich-konservativ-sozialen Anschauungen des Verfassers denken mag, aufrichtigen Respekt verdient wegen des erstaunlichen Fleißes, mit welchem sie ein ungeheures Material sammelt. Leider beschränkt sich hierauf das unbestreitbare Verdienst des Herrn Meyer; die Klärung und Sichtung der mühsam aufgespeicherten Massen ist ihm nur unvollkommen gelungen. Namentlich wer sich über die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie aus seinem Werke unterrichten wollte, würde eine vollkommen falsche Vorstellung gewinnen. Herrn Meyer fehlt die intimere Kenntnis der Dinge; er zeichnet ein Bild von nur sehr rohen Umrissen und er vermeidet selbst nicht grobe Irrtümer. Indessen die Fehlgriffe und Unvollständigkeiten im Einzelnen mögen verzeihlich oder unvermeidlich sein bei der Natur des Stoffs; was aber den Werth des dickleibigen Sammelwerks auf die Bedeutung einer bloßen Tendenzschrift herabdrückt, sind die grotesk-riesigen Dimensionen, zu denen Herr Meyer die sozialistische Bewegung in Deutschland aufbauschen möchte. Wer ein wenig mit Personen und Verhältnissen vertraut ist, weiß oft nicht, ob er sich ärgern oder lachen soll, wenn Herr Meyer in jedem obskuren Agitator den providentiellen Mann des Jahrhunderts erblickt, der durch das läuternde Feuer seines Zornes die sündige Welt bekehren und bessern wird. Zu den beliebtesten und kühnsten Hyperbeln der sozialistischen Presse gehörte ehedem der geschmacklose Vergleich zwischen Jesus und Lassalle, aber wie zaghaft erscheint diese historische Parallele, wenn Herr Meyer durch die nüchterne Tatsache, dass die Herren Grottkau, Kapell, Zielowsky und wie sie sonst heißen mögen, heute mit Kelle und Pfriem arbeiten und morgen für zwei Thaler täglicher Diäten auf Agitation gehen, zu dem dithyrambischen Ausrufe begeistert wird: „Grade wie die Apostel! Ja, man lese nur die Apostelgeschichte, das gibt Gelegenheit zu interessanten Vergleichen." Neuerdings wird das Werk durch die ultramontane Presse eifrigst empfohlen, und zwar ihrerseits mit vollem Recht, denn Herr Meyer erklärt den katholischen Sozialismus für eine Erscheinung von großer Zukunft, und er hält sogar den Bischof von Mainz für einen ernsthaften Nationalökonomen. Auch nach dieser Richtung hin dürfte es zeitgemäß sein, einige einfache und nüchterne Glossen zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zu geben.

Unter den eben entwickelten Umständen bleibt die Hauptquelle für einen derartigen Zweck immer noch die Broschüren- und Zeitungs-Literatur der letzten zwölf Jahre. Aber während hier einerseits die Überfülle des Stoffes einen fatalen embarras de richesse verursacht, ist anderseits wieder in dem unendlichen Material kaum eine Zeile, die nicht von der Parteien Gunst oder Hass gefärbt und dadurch in ihrer tatsächlichen Richtigkeit mehr oder minder beeinträchtigt wäre. Bei der sozialistischen Tendenzliteratur selbst, der ausgedehntesten und, wenn mit kritischem Blicke gelesen, auch ergiebigsten Fundgrube, macht sich noch ein dritter Übelstand geltend, der völlige Mangel nämlich an historischem Sinn, der im Großen und Kleinen ein so charakteristisches Kennzeichen der Partei bildet. Eher noch kann man hoffen, in einem Frauenbriefe ein Datum zu treffen, als in einer sozialdemokratischen Broschüre. Die Agitationsschriften Lassalles, die glänzendsten und schärfsten Waffen der Partei, zum Teil wahre Damaszenerklingen, sind in einem Zustande der Verwahrlosung, welcher jeder Beschreibung spottet; selbst die Wohltat einer rein orthographischen Korrektur scheint ihnen bei den immer wiederholten Abdrücken nur in höchst oberflächlicher Weise zu Teil zu werden. An Berichten über die offiziellen Parteikongresse sind im Ganzen drei oder vier vorhanden, aber dieselben geben nur vage, verschwimmende Bilder von den Beschlüssen und Reden. Einige sichere Ausbeute gewähren die stenographischen Protokolle des Reichstags. Das Meiste und Wertvollste an aktenmäßigem Material zur Geschichte der Partei, leider aber auch durchweg in lückenhafter, wirr durcheinander gehäufter Form, enthalten Bernhard Beckers Veröffentlichungen über die Agitation Lassalles und sein Lebensende, so wie die von den Angeklagten herausgegebenen Berichte über den Braunschweiger und Leipziger Prozess, Alles in Allem bleibt der einzige Führer, welcher sicher durch dies Chaos von verstreuten Trümmern führt, die Erinnerung des Selbsterlebten.
            (weiter unter I. Erste Fortsetzung)

Mehring, Franz Erdmann (1846-1919) Publizist und Politiker, einer der bedeutendsten Historiker seiner Zeit, Sozialdemokrat, einige seiner Äußerungen zum Judentum werden als antisemitsch bewertet. (wikipedia)

Mehring, Franz Erdmann (1846-1919) Publizist und Politiker, einer der bedeutendsten Historiker seiner Zeit, Sozialdemokrat, einige seiner Äußerungen zum Judentum werden als antisemitsch bewertet. (wikipedia)

Lassalle, Ferdinand (1825-1864) Schriftsteller, sozialistischer Politiker, Arbeiterführer

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Bismarck-Bohlen, Friedrich Alexander Graf von (1818-1894) Preußischer General der Kavallerie

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Marx, Karl (1818-1883) Journalis, Politiker, gemeinsam mit Engels schuf er die theoretischen Grundlagen für Sozialismus und Kommunismus

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Liebknecht, Wilhelm (1826-1900) einer der Gründerväter der SPD

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Bebel, August (1840-1913) deutscher sozialistischer Politiker, einer der bedeutendsten Begründer der Sozialdemokratie

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