Fünfte Fortsetzung

Wenige Wochen nach Lassalles Tode betrat sein einstiger Freund und Lehrer wieder die politische Bühne, Karl Marx, der ihm so wenig vergleichbar ist an allseitig glänzenden Gaben des Geistes, an organisatorischem Talent, an politischem Scharfblicke, als er ihn überragt an eiserner Konsequenz der Lebensanschauung und nahezu unabsehbarem Umfange nationalökonomischen Wissens. Während der geistige Durchschnittsgehalt der sozialistischen Führer zweiten und dritten Ranges allem Anschein nach in Deutschland um Vieles geringer ist als beispielsweise in England und Frankreich, hat anderseits die sozialistische Bewegung keines europäischen Kulturlandes eine Gestalt hervorgebracht, welche sich an historischer Größe mit diesen beiden Deutschen vergleichen ließe. Sie haben manches Gemeinsame, in ihrem äußeren Lebensschicksal nicht minder, als in ihrem geistigen Wesen: die jüdische Abstammung, die glänzende oder doch behagliche Stellung im sozialen Leben, daneben den nimmer rastenden Ehrgeiz und eine immense Arbeitskraft. Aber darüber hinaus waren ihre Charaktere grundverschieden, ja sie mussten sich bis zu einem gewissen Grade abstoßen. Lassalle war eine Makkabäernatur, glühender Impulse fähig und einer nationalen Begeisterung von achtem Gehalte, während Marx immer berechnend, grübelnd, kalt nur in den eisigen Regionen eines abstrakten Kosmopolitismus Lebenslust geatmet hat. Beide haben viel gefehlt und viel gesündigt, aber Lassalle steht uns selbst in seinen Fehlern menschlich näher, wie Marx in seinen Vorzügen. Die hinreißende Leidenschaft Lassalles, selbst wo sie in demagogisches Treiben entartet, bleibt immer sympathischer als die sorgsam ausgeklügelten, giftig zugespitzten Antithesen in den öffentlichen Proklamationen von Marx; dort die Tatze des Löwen, hier das kalt funkelnde Auge der Schlange. Lassalle ist in seinen Kämpfen nur zu oft heftig, leidenschaftlich, rücksichtslos, ja selbst frech und roh gewesen, aber es war doch immer ein wilder Zorn, welcher den ganzen Mann fortriss, während die Polemik von Marx einen unsäglich keifenden, kleinlichen, versteckten, widerwärtigen Zug hat. Unter unseren hervorragenden Gelehrten ist schwerlich einer, bei dem großartige Kenntnisse so wenig sittigend auf den Charakter gewirkt hätten, wie bei Marx, während die versöhnende Weihe der Wissenschaft der Gestalt Lassalles, selbst in den trübsten Wirbeln seines Lebens, die menschliche Teilnahme auch seiner heftigsten Gegner sichert.
Karl Marx steht gegenwärtig etwa im sechzigsten Lebensjahre. Er ist der Sohn eines höheren Beamten und mit einer Schwester des ehemaligen Ministers v. Westfalen verheiratet. Diese äußeren Umstände, mehr noch sein eherner Fleiß und seine reiche Begabung eröffneten ihm eine weite Laufbahn im Staatsdienste, aber er zog es vor, sich umfassenden Privatstudien auf Philosophischem und volkswirtschaftlichem Gebiete zu widmen und gab sich dann, schon in jungen Jahren, mit rückhaltlosem Fanatismus dem Kampfe für die soziale Emanzipation des Proletariats hin, den er nunmehr seit einem Menschenalter ununterbrochen kämpft. Bereits im Anfange der vierziger Jahre lag er in rastloser Fehde mit den bestehenden Gewalten; von der Polizei des Kontinents gehetzt, wanderte er ruhelos hin und her zwischen Köln, Paris, Brüssel, London. In Paris redigierte er mit Arnold Ruge die „Deutsch-französischen Jahrbücher", mit Heinrich Heine den „Vorwärts"; 1848 nach Deutschland zurückgekehrt, gab er in Köln einige Monate lang mit Engels und Wolff die „Rheinische Zeitung" heraus, wohl die geistig bedeutendste publizistische Erscheinung des Revolutionsjahres. Bereits vorher hatte er, Ende 1847, gleichfalls in Gemeinschaft mit Engels, von London aus das „Manifest der kommunistischen Partei" veröffentlicht, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer, flämischer und dänischer Sprache über Europa verbreitet wurde. Es ist ein sehr merkwürdiges Aktenstück; der ganze Marx gibt sich in diesen Sätzen mit sprechender Deutlichkeit; Perspektiven von welthistorischer Weite, Gedanken von philosophischer Tiefe wechseln in buntem Wirrwarr mit kleinlichem Gezänk, mit den giftigen Phrasen einer gewissenlosen Demagogie. Und auch den Kommunismus von heute spiegelt die Proklamation mit großer Schärfe wieder, wenngleich man damals etwas offener und unverhüllter sprach. Leider ist sie zu ausführlich, um hier auch nur im Auszuge mitgeteilt zu werden; es seien nur einige prägnante Stellen herausgegriffen. Der unaufhörlich wiederkehrende Refrain ist das eherne Lohngesetz; so heißt es beispielsweise: „Die Kosten, die der Arbeiter verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Rasse bedarf." Als Forderungen, welche „für die fortgeschrittensten Länder ziemlich allgemein in Anwendung kommen können," werden etwa dieselben aufgezählt, welche das Gothaer Programm enthält; Einzelnes ist indes der zahmeren Zeit zum Opfer gefallen, wie der famose Satz: „Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen." Ganz modern klingen wieder Sätze, wie folgende: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Wo sie zur Herrschaft gekommen, hat sie alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose, „bare Zahlung." Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit "Einem Worte, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, "dürre Ausbeutung gesetzt etc." Und glaubt man nicht einen Demagogen allerniedrigsten Schlages zu hören, wenn Marx schreibt: „Unsere Bourgeois, nicht zufrieden damit, dass ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der offiziellen Prostitution gar nicht zu sprechen, finden ein Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen?" Das Manifest schließt dann: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen, Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern! Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" Einen praktischen Erfolg hat das Manifest selbst in jener erregten Zeit nicht gehabt.

Nach dem Scheitern der Bewegung von 1848 siedelte Marx wieder nach London über, wo er seither gelebt hat; den heimischen Boden hat er nur noch neuerdings bei flüchtigen Besuchen betreten. Anfangs der fünfziger Jahre war sein Name vielfach in den Kölner Kommunistenprozess unseligen Andenkens verflochten. In der englischen Hauptstadt sammelte sich ein kleiner Kreis bewundernder Jünger um ihn, Engels, Liebknecht, der Schneider Eccarius und Andere. Darüber hinaus schaffte ihm sein galliges Temperament unter den Emigranten viele Feinde; der Fluch der Heimatlosigkeit wirkte auf diesen Charakter doppelt verheerend; Besucher aus Deutschland haben oft den unerfreulichen Gegensatz seiner bissig-kleinen Natur zu dem milden, treuen Wesen eines Freiligrath und Kinkel geschildert. Mit Karl Vogt focht er eine grimmige Fehde aus; würdiger verwandte er seine geistige Kraft in dem vernichtenden Pamphlete: „Der 18. Brumaire," das er gegen den Staatsstreich Louis Napoleons schleuderte. Seine Haupttätigkeit widmete er der wissenschaftlichen Begründung der kommunistischen Theorie; er entwickelte dabei einen so bienenhaften Fleiß und eine so seltene Energie der Denkkraft, dass dieser seiner Tätigkeit auch die abgesagtesten Gegner ihrer, Resultate aufrichtigen Respekt nicht versagen können. 1859 erschien in Berlin bei Franz Duncker das Werk „Zur Kritik der politischen Ökonomie," welches Lassalle das beste wissenschaftliche Rüstzeug seiner Arbeiteragitation geliefert hat. Allerdings hatte es Marx nicht für diesen Zweck veröffentlicht. Es ist bereits hervorgehoben worden, dass er dem Beginnen seines jüngeren Freundes feindselig und misstrauisch zusah, und es braucht nicht erst ausführlich dargelegt zu werden, weshalb ihm die Bewegung, wie sie Lassalle einleitete, ihrem ganzen Wesen nach in tiefster Seele zuwider sein musste.


Es war denn auch keineswegs der Tod Lassalles, wenigstens nicht direkt, welcher Marx aus der einsamen Stille seines Arbeitszimmers in das laute Getümmel des politischen Marktes rief. Der Anstoß dazu kam überhaupt nicht von deutscher Seite. Napoleon III. hatte 1862 eine Anzahl französischer Arbeiter auf Staatskosten zur Londoner Weltausstellung geschickt; dort hatten dieselben in üblicher Weise mit englischen Arbeitern fraternisiert, und man hatte sich namentlich in der Phrase gefallen, dass die Interessen der Arbeiter aller Länder identisch seien. Vorläufig blieb die Phrase, was sie war und die Franzosen kehrten ruhig in ihre Heimat zurück. Kurze Zeit darauf brach der polnische Aufstand aus, und es ist bekannt, dass in England wie in Frankreich Deklamationen und Demonstrationen zu Gunsten der unglücklichen Nation an der Tagesordnung waren. Namentlich die Arbeiter beider Länder ergaben sich mit Leidenschaft diesem eben so edelmütigen, wie unfruchtbaren Beginnen; behufs besseren Zusammenwirkens wurden die alten Beziehungen von der Weltausstellung wieder angeknüpft; von hüben und drüben gingen Arbeiterdeputationen über den Kanal. Möglich, wie von mancher Seite behauptet worden ist, dass Napoleon dies Treiben begünstigte, um einen Druck auf die englische Regierung auszuüben. Man begnügte sich wieder nicht mit dem nächstliegenden Zweck, sondern kam von Neuem auf die internationale Solidarität der Arbeiterinteressen zurück. Schließlich entschieden sich die Londoner Arbeiter, eine Deputation an Lord Palmerston zu schicken, mit der Bitte um englische Intervention in Polen; sie forderten ihre Pariser Gesinnungsgenossen zu gemeinsamem Wirken auf. Es kam denn auch eine französische Arbeiterdeputation nach London, zu deren Empfang eine große Versammlung von Arbeitern aller Nationen am 28. September 1864 in St. Martins Hall stattfand. Professor Beesley präsidierte; unter den Anwesenden befanden sich Major Wolff, der Privatsekretär Mazzinis, und Karl Marx.

Dies Meeting hat in der polnischen Sache keinen irgend nennenswerten Erfolg erzielt, aber es hat sich doch ein unveräußerliches Anrecht auf einen Platz in der Geschichte erworben, denn es wurde die Geburtsstätte der „Internationalen Arbeiterassoziation." Man geriet bald wieder von dem eigentlichen Thema auf die allgemeinen Klagen über die üble Lage der Handarbeiter in allen europäischen Kulturländern und setzte endlich einen provisorischen Zentralrat nieder mit dem Auftrage, das Programm (die Inauguraladresse) und die provisorischen Statuten eines allgemeinen Arbeitervereins auszuarbeiten und demnächst einen internationalen Kongress zu berufen, dem Beides zur definitiven Genehmigung vorzulegen sei. In diesen Ausschuss wurde eine Reihe von englischen Arbeitern gewählt, unter denen der bekannte Odger der namhafteste war; ferner die Franzosen Le Lubez und Bosquet; die Italiener Wolff und Llama; der Pole Holthorp; der Schweizer Nusperli; endlich die Deutschen Marx und Eccarius. Unter diesen Männern war weitaus der Bedeutendste Karl Marx, und er stand nunmehr vor einer Aufgabe, wie sie für den Ehrgeiz eines Mannes, der sein Leben der Sache der Handarbeiter gewidmet hatte, nicht lockender gedacht werden konnte.

Vorerst freilich hatte er eine gefährliche Konkurrenz zu besiegen. Der Ausschuss konstituierte sich als Generalrat und bestimmte, dass der Präsident, Schatzmeister und Generalsekretär Engländer sein und jede Nation durch einen korrespondierenden Sekretär vertreten sein solle. Präsident wurde Odger, zu korrespondierenden Sekretären wählte man u. A. Major Wolff für Italien und Karl Marx für Deutschland. Als es nun aber zur Beratung der Prinzipien kam, verlangten die italienischen Mitglieder des Generalrats als begeisterte Anhänger Mazzinis, der damals namentlich seit dem Triumphzuge Garibaldis einer großen Popularität auch unter den englischen Arbeitern genoss, dass dieser große Agitator Inauguraladresse und Statuten ausarbeiten, das heißt mit anderen Worten das geistige Oberhaupt des neuen Bundes werden solle. Sie setzten auch ihren Willen durch. Mazzini legte seine Entwürfe vor, aber er ist bekanntlich niemals Sozialist gewesen; so beschränkte sich sein Programm fast nur auf politische Fragen und eiferte namentlich gegen den Klassenkampf, während seine Statuten in der streng zentralistischen Weise geheimer Gesellschaften abgefasst waren, wie sie dem alten Verschwörer am nächsten lag und am gewohntesten war. Beides passte dem Generalrat gleich wenig; Mazzini zog sich zürnend zurück und Karl Marx hatte gewonnenes Spiel. Seine Inauguraladresse mit dem Schlusswort von 1847: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" und seine Statuten wurden nunmehr einstimmig angenommen und erhielten 1866 auf dem Kongresse zu Genf endgültige Bestätigung.

Der geistige Inhalt dieser weitschichtigen Aktenstücke, der im Wesentlichen für die sozialistische Propaganda diesseits und jenseits des atlantischen Ozeans maßgebend geworden ist, lässt sich etwa in folgenden Sätzen zusammenfassen: Die Emanzipation der Arbeiterklasse muss durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden; der Kampf für sie ist kein Kampf für neue Klassenvorrechte, sondern für die Vernichtung aller Klassenherrschaft. Die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, d. h. der Quellen des Lebens, liegt der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Grunde, dem sozialen Elend, der geistigen Verkümmerung und der politischen Abhängigkeit. Die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse ist daher das große Ziel, dem jede politische Bewegung als Mittel dienen muss. Alle nach diesem Ziele strebenden Versuche sind bisher gescheitert aus Mangel an Einigung unter den verschiedenen Arbeitszweigen jedes Landes und unter den Arbeiterklassen der verschiedenen Länder. Die Emanzipation der Arbeiter ist weder eine lokale, noch eine nationale, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe; sie umfasst alle Länder, in denen die moderne Gesellschaft besteht; sie kann nur gelöst werden durch das planmäßige Zusammenwirken der Arbeiter aller dieser Länder.

Es war notwendig, diese Vorgänge etwas ausführlicher zu schildern, weil sie den allerwesentlichsten Rückschlag auf die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie gehabt haben; die Geschichte der internationalen Arbeiterassoziation in ihren einzelnen Verzweigungen zu verfolgen, ist selbstverständlich hier nicht der Ort; so weit ihre Entwicklung mit der deutschen Bewegung untrennbar verknüpft ist, wird weiterhin davon zu sprechen sein. Im Allgemeinen dürfte es heute auch noch selbst dem kundigsten Beobachter der Zeitereignisse schwer werden, die historische Bedeutung des großen Bundes in halbwegs sicheren Zügen zu zeichnen. Rudolf Meyer, der in seinem „Emanzipationskampf des vierten Standes" grade die unaufhörlich wechselnden Geschicke der Internationalen mit großem Fleiße und vieler Umsicht klarzustellen gesucht hat, kommt doch zu einem ganz falschen Resultate, wenn er von „der wirklich einzig dastehenden Großartigkeit dieses Geheimbundes" spricht. Freilich ist diese ja auch sonst weit verbreitete Überschätzung leicht zu erklären. Wenn sich eine geistige Strömung vor unseren Augen vollzieht, deren Ziel und Tragweile sich vorläufig nicht absehen lässt, dann suchen wir gern nach einem ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht, nach irgend einer Form, nach irgend einem Symbol, nach einem Gradmesser gleichsam, um das Steigen und Wachsen der Flut zu erkennen, und wir sind dann nur zu sehr geneigt, die Form für die Sache, das Symbol für das Wesen zu nehmen, das Thermometer für das Wetter verantwortlich zu machen. Was ist beispielsweise nicht Alles auf das Konto der Freimaurerei gebucht worden und wird noch gebucht! Ähnlich steht es mit der Internationalen. Sie ist bedeutend und einflussreich geworden durch die bloße Tatsache ihrer Existenz, dadurch, dass sie wie ein weitleuchtendes Hoffnungszeichen aufflammte und den Arbeiterbestrebungen in den verschiedensten Ländern einen ideellen Mittelpunkt gab, durch die Mittel der geistigen Propaganda, welche ihre Führer, vor Allem Karl Marx, aufzuwenden hatten. Aber als Bund, als praktische, für den augenblicklichen Kampf berechnete Organisation hat sie — von ihrer heutigen Verfassung ganz zu geschweigen — auch früher schwerlich kaum nennenswerte Erfolge aufzuweisen gehabt.

Man muss vor Allem die offiziellen Berichte des Generalrats mit der gehörigen Kritik lesen. Wenn man, wie Herr Meyer, arglos nachdruckt, dass die Internationale schon in dem Verwaltungsjahre 1866—1867 70.000 Lstrl. allein zur Unterstützung Strikender in Amerika verwandt hat, ja, dann kann man freilich zu gar seltsamen Schlüssen kommen. Herr Meyer scheint nicht den köstlichen Brief von Marx an Bracke zu kennen — er ist vom 24. März 1870 datiert und findet sich in den Akten des Leipziger Hochverratsprozesses —, in welchem der große Häuptling schreibt: „Ich bitte Sie, zu erwägen, dass der Bericht etc. (über den Stand der Bewegung in Deutschland) nicht für das Publikum geschrieben ist und daher die Tatsachen ohne Schminke, ganz sachgetreu darzulegen hat." Dies „daher" ist famos. Und unmittelbar nach diesem Satze heißt es weiter: „Aus dem letzten Briefe von Bonhorst weiß ich, dass die Finanzen der „Eisenacher" schlecht stehen. Zum Trost die Mitteilung, dass die Finanzen des Generalrats unter dem Nullpunkt sind, beständig wachsende, negative Größen." Das ist in der höchsten Blütezeit der Internationalen geschrieben am Vorabende der Kommune. Was übrigens diesen Aufstand anbetrifft, so hat er ja leider noch keinen halbwegs zuverlässigen und unparteiischen Geschichtsschreiber gefunden, aber so viel steht doch jetzt schon aktenmäßig fest, dass er in seinem Ursprunge keineswegs eine Machenschaft der Internationalen, sondern ein Kampf für die Dezentralisation eines bis zum Ersticken zusammengeschnürten Staatsorganismus, ein Kampf, wie es Fürst Bismarck einmal im Reichstage mit einem bezeichnenden Paradoxon ausdrückte, für die preußische Städteordnung war. Später sind allerdings Mitglieder der Internationalen in der Kommune zahlreich vertreten, wenn auch niemals in der Mehrheit gewesen; es war ein Zug berechnender Schlauheit, dass Karl Marx die ganze historische Verantwortlichkeit für die Kommune auf seine und seines Bundes Schultern nahm, als der erste Sturm des europäischen Zornes sie ihnen auflastete. In wie weit bei den spanischen Putschen die Hände der Internationalen tätig gewesen sind, bleibe dahingestellt; jedenfalls ist auch hier unsäglich viel gelogen und übertrieben worden; ein Hauptschürer war beispielsweise der damals schon gänzlich mit der Internationalen zerfallene Bakunin.

Wie aber immer sich dies Verhältnis für die übrigen Länder Europas gestalten mag, so viel ist heute schon mit aller Sicherheit zu konstatieren, dass die Wirksamkeit der Internationalen als einer agitatorisch und praktisch tätigen Organisation in Deutschland gleich Null zu erachten ist. Dies wenigstens haben die unglücklichen Prozesse in Braunschweig und Leipzig mit überzeugender Evidenz ergeben. Von den Führern abgesehen, sind die deutschen Sozialdemokraten nur zu einem verschwindenden Prozentsatze Mitglieder der Internationalen gewesen; auch die Herabsetzung der jährlichen Steuer von 10 auf 1 Sgr. hat daran nichts ändern können. Wer in den sozialistischen Blättern verfolgt hat, wie schwer die verhältnismäßig geringen Beitrüge selbst nur für die nationalen Organisationen beizutreiben sind, der wird auch nichts Verwunderliches darin finden, wenn die Arbeiter nicht einmal Pfennige für die Mitgliedschaft eines internationalen Bundes übrig haben, dessen Wesen und Zwecke ihnen doch mehr oder minder im Phrasennebel verschwinden. Es liegt mir die offizielle Mitgliederliste des Haager Kongresses von 1872 vor, des wichtigsten fast, den die Internationale je gehabt hat, des einzigen jedenfalls, dem Karl Marx selbst beiwohnte. Unter den 65 Namen der Deputierten finden sich 25 deutsche. Wenn man sie prüfend durchmustert, wird man recht lebhaft des Humbugs inne, der von Freunden und Gegnern mit dem Schreckgespenst der Internationalen getrieben worden ist. Da ist Vertreter der Sektion Berlin der Typograph Milke, einer der bescheidensten, stillsten, unbedeutendsten Menschen, welche je selbst im Berliner Vereinsleben aufgetaucht sind; da ist Vertreter der Sektion New-York ein blutjunger Knabe aus Schmiegel in Posen, jener Adolf Hepner, der im Leipziger Hochverratsprozesse eine so unglaublich lächerliche Rolle spielte; da ist endlich Vertreter von Zürich ein Berliner Lokalreporter, der sich Gott weiß wie ein Mandat verschafft hatte und mit dem rücksichtslosen Fanatismus semitischen Erwerbssinnes die innersten Eingeweide der internationalen Zukunftsrepublik auf den profanen Markt der Feudal- und Bourgeoispresse von der „Kreuzzeitung" bis zur „Vossischen Zeitung" schleppte. Da hört doch die letzte Spur von ernsthaftem Wesen auf.

Wenn aber einerseits die organisierende Wirksamkeit der Internationalen in Deutschland vielleicht geringer gewesen ist als sonst überall, so hat anderseits gewiss ihr vorhin charakterisierter geistiger Einfluss, die bloße Tatsache ihrer Existenz, die ideelle Propaganda, die von ihr ausging, auf die deutsche Sozialdemokratie eingreifender und umgestaltender gewirkt, als auf irgend eine andere nationale Arbeiterpartei. Uns Deutschen allzumal steckt nun einmal die unausrottbare Neigung zum Generalisieren, Theoretisieren, zur möglichst prinzipiellen, philosophischen, tiefsinnigen Auffassung aller Dinge im Blute, und was wollte das bescheidene Programm Lassalles besagen gegen die paradiesischen Zukunftsbilder der Internationalen! Dazu kam, dass das geistige Haupt des Generalrats ein geborener Deutscher war und in dem neben Schweitzer bedeutendsten Mitglieds des allgemeinen deutschen Arbeitervereins, in Wilhelm Liebknecht, einen enthusiastischen Anhänger und Jünger hatte. So war der unversöhnliche Zwiespalt in der mühsam von Lassalle geschaffenen Organisation von selbst da, und wenn der Teil der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, der hier noch zu schildern ist, von dem Tode Lassalles bis zum Gothaer Vereinigungskongresse mit einem Worte charakterisiert werden soll, so stellen sich diese inneren Zwiste eines Jahrzehnts, in wie wechselnde Phasen sie immer treten, doch im Großen und Ganzen dar als der langwierige Kampf und der endliche Sieg der Tendenzen des internationalen Kommunisten Marx gegen und über die Traditionen des nationalen Sozialisten Lassalle.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.