Erste Fortsetzung

Die deutsche Sozialdemokratie unterscheidet sich neben anderen Dingen auch darin von ihren Schwesterparteien in den europäischen Kulturstaaten, dass sie nicht durch generatio aequivoca, als Tochter einer allgemeinen Zeitströmung entstand, sondern durch den energischen Willen eines autokratischen Mannes aus einem noch sehr sterilen Boden emporgestampft wurde. Was an sozialistischen Gedanken und Theorien vor den sechziger Jahren in Deutschland sich regte, war zu lose flatterndes Gespinnst, als dass es zu dem festen Gewebe eines Parteiprogramms sich hätte verdichten können; das kommunistische Manifest, welches Marx und Engels am Vorabend der Februarrevolution von London aus erließen, blieb der Heerbefehl eines Generalstabes, der kaum über ein dürftiges Fähnlein internationaler Landsknechte gebot. Im großen Strom der Bewegung von 1848 schwammen die politischen und sozialen Elemente noch unterschiedslos durcheinander; zu den Wenigen, die schon in jener Zeit der Sphinx der europäischen Zukunft mit klarem Bewusstsein ins Auge zu blicken wagten, gehörte der damals dreiundzwanzigjährige Lassalle. Als er, angeklagt, in der Novemberkrise von 1848 die Bürgerwehr zum Widerstande gegen die Regierungsgewalt aufgefordert zu haben, am 3. Mai 1849 vor den Düsseldorfer Geschworenen stand, leitete er seine großartige Verteidigungsrede mit den Worten ein: „Ich werde Ihnen stets mit Freuden bekennen, dass ich meiner inneren Überzeugung nach ein entschiedener Anhänger der sozialdemokratischen Republik bin."

Der Lebenslauf Lassalles ist bekannt. Dagegen schwankt über seinen Charakter und sein Wesen das öffentliche Urteil noch immer von Extrem zu Extrem. Nur sind die Rollen zum Teil vertauscht; die Gegner seiner politisch-sozialen Anschauungen spenden ihm oft eine glühende Bewunderung, während in seiner eigenen Partei das Scherbengericht in vollem Gange ist, das noch persönlich zu erdulden ihm nur sein frühzeitiger Tod erspart hat. So häuft beispielsweise sein Nachfolger im Präsidium des allgemeinen deutschen Arbeitervereins, Bernhard Becker, schon seit Jahren Pamphlet auf Pamphlet, um nachzuweisen, dass Lassalle in den letzten Monaten seines Lebens den Übergang ins Lager der Reaktion geplant habe, während ihn anderseits der bekannte dänische Literarhistoriker Brandes zum Gegenstande eines Heroenkultus macht, der weit über das gerechte Maß hinausgreift. Ein völlig unbefangenes Urteil über Lassalle gebührt einer späteren Zeit; heute wird man ihm vielleicht am gerechtesten, wenn man ihn einen im eminentesten Sinne modernen Menschen nennt, in dessen geistiger Komplexion sich, getreu dem Charakter der Zeit, sehr glänzende Vorzüge mit sehr törichten Schwächen paarten und zwar so unlöslich paarten, dass in all seinem Handeln gemischte Beweggründe wirkten. Von seinem ersten Auftreten als Champion der Gräfin Hatzfeldt bis zu seiner letzten Rolle als Arbeiteragitator handelte er gewiss nie aus rein persönlichen, aber auch eben so gewiss nie aus rein idealen Motiven. Dies macht ein gerechtes Urteil über ihn so schwer. Sein profundes Wissen entwürdigte er nur zu oft zur Folie eines eleganten Komödiantentums; die stählerne Energie seines Willens verrannte sich nicht minder häufig in einen kindischen Eigensinn. Wie alle genialen Naturen hatte er ein Stück vom Faust und ein Stück vom Don Juan; darüber hinaus aber umwitterte sein Wesen ein Hauch historischer Luft; er war — mit Wallenstein zu sprechen — ein „Herrschtalent", das sich in elementarem Drang einen „Herrschplatz" zu erobern suchte; fieberhaft dürstete seine Seele nach Macht im großen Sinne des Wortes. Dieser Ehrgeiz, an sich nicht gemeiner Natur, wie oft er auch aus einzelnen Anlässen in weibische Eitelkeit entartete, verband sich mit einer nationalen Leidenschaft, die Lassalle in schöner Weise vor allen anderen Sozialisten auszeichnet; es war zu viel Farbe und Gestalt in seinem Charakter, als dass er je in der marklosen Verschwommenheit der internationalen Phrase hätte untergehen können; all sein politisches Denken und Tun war vom ersten bis zum letzten Momente auf den preußischen Staat bezogen. Ausbeiden Gesichtspunkten erklären sich die mannichfachen Schwankungen und Wandlungen seiner öffentlichen Laufbahn. Zu den steinernen Götzen der Demokratie, die nicht Hand noch Fuß regen und nur in feierlichen Fristen von den geweihten Lippen ein tönend Orakelwort fallen lassen, das bei Strafe der Acht und Aberacht für jeden Jünger ein unfehlbares Dogma sein muss, hat er nie gehört, wie denn die Gläubigen der stritten Observanz an ihm zu allen Zeiten einen bedenklichen Mangel an Rechtgläubigkeit herausgeschnüffelt haben.


Das erste urkundliche Urteil über den erst zwanzigjährigen Lassalle hat kein Geringerer gefällt als Heinrich Heine. Der kranke Dichter schreibt 1846 an seinen jungen Freund, den er seinen „teuersten Waffenbruder" zu nennen pflegte: „In Vergleichung mit Ihnen bin ich doch nur eine bescheidene Fliege", und an Varnhagen: „Herr Lassalle ist ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben; mit der größten Gelehrsamkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, mit der reichsten Begabnis der Darstellung verbindet er eine Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen setzen . . . Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen und Können, von Talent und Charakter für mich eine „freudige Erscheinung." Lassalle arbeitete damals in den Pariser Bibliotheken für sein großes Werk über die Philosophie Heraklits; als es der Vollendung nahe war, lernte er die Gräfin Hatzfeldt in Berlin kennen und warf sich mit vollem Ungestüm in den zwischen ihr und ihrem Gemahl schwebenden Ehescheidungsprozess, Er begleitete die Dame nach Düsseldorf und führte von dort aus nahezu zehn Jahre lang vor sechsunddreißig Gerichten ihre Sache mit Anspannung seiner ganzen Kraft. Noch vor der endgültigen gerichtlichen Entscheidung kam es zu einem Vergleich, welcher der Gräfin ein fürstliches Vermögen und Lassalle, der ohnehin wohlhabend war, ein völlig unabhängiges Leben sicherte. Er bezog von da ab ein Jahreseinkommen von fünftausend Thalern. Mit der Gräfin Hatzfeldt hat er bekanntlich bis zu seinem Tode in engsten Beziehungen gestanden. Welcher Art immer diese Beziehungen sein mochten, auf sein Leben sind sie von verhängnisvollem Einfluss gewesen. Sein Name war der Öffentlichkeit zuerst durch einen großartigen Skandal bekannt geworden; das heftete sich wie ein untilgbarer Fluch an seine Fersen und war nicht die letzte Ursache des Konflikts, in welchem er unterging. Zudem lieferte der fortwährende intime Verkehr mit der um ein Vierteljahrhundert älteren Dame, der einige male sogar zu skandalösen Auftritten an öffentlichen Orten führte, den bösen Mäulern immer neuen Stoff, Lassalle zwar ist auch in dieser Beziehung der Täter seiner Taten gewesen. Wie er vor den Kölner Geschworenen, angeklagt der moralischen Mitschuld an dem bekannten Kassettendiebstahl, das Eheunglück der Gräfin „ein individuelles Loos und Leiden" nannte, „das gleich einem Mikrokosmos das allgemeine Leiden, die zu Grabe keuchende Misère und Unterdrückung in sich abspiegele", so verglich er noch kurz vor seinem Tode in einem Briefe an Huber sein Eingreifen in jenen Ehescheidungsprozess mit einem Mikrokosmos seines ganzen Lebens, mit dessen moralischer Berechtigung er stehe und falle. Gleichviel, ob er so sprach aus Eigensinn oder Überzeugung, kompetente und wohlwollende Urteiler dachten anders, mindestens über die späteren Phasen des Verhältnisses, und jedenfalls hat es die Laufbahn Lassalles in eine falsche und unheilvolle Richtung gebracht. Am wenigsten sind die in die Öffentlichkeit gekommenen Bruchstücke seines Briefwechsels mit der Gräfin geeignet, diese Ansicht umzustoßen; der quälende und widerwärtige Eindruck, den sie auf jedes gesunde Gefühl machen müssen, obgleich oder vielleicht auch grade weil sie die Formen eines rein freundschaftlichen Verkehrs innehalten, hat in unserer gesamten Literatur etwa nur in Pücklers Briefwechsel mit seiner Frau seines Gleichen.

Es war noch unter dem Ministerium Manteuffel, als Lassalle nach Beendigung des Hatzfeldtschen Prozesses von Düsseldorf nach Berlin übersiedelte, um sich fortan gänzlich dem öffentlichen Leben in Literatur und Politik zu widmen. Von 1848 her politisch anrüchig, schlich er sich, als Fuhrmann verkleidet, in die preußische Hauptstadt; schließlich konnte ihm nur die Verwendung Humboldts, der ihn aufs Wärmste protegierte und „das Wunderkind" zu nennen pflegte, den Aufenthalt sichern. Unter solchen Umständen durfte von Beteiligung am politischen Leben noch nicht die Rede sein. So gab denn Lassalle zunächst (1857, Bessersche Verlagsbuchhandlung) sein großes Werk über Heraklit heraus, das ihn mit einem Schlage unter die ersten Gelehrten Deutschlands stellte. Aber der laute Beifall in den engen Kreisen der wissenschaftlichen Welt war für seinen dürstenden Tatendrang, was ein Tropfen Wassers auf einen heißen Stein ist. War ihm der Schauplatz des wirklichen Lebens verschlossen, so wollte er wenigstens in der Schattenwelt der Bühne herrschen; er reichte ein historisches Drama, „Franz von Sickingen", unter fremdem Namen bei der Intendanz der königlichen Schauspiele ein. Selten hat ein hochbegabter Schriftsteller einen gröberen, aber auch charakteristischeren Missgriff getan. Schon in Düsseldorf hatte Lassalle umfassende Vorstudien für ein wissenschaftliches Werk über die Reformationszeit gemacht; einzig und allein sein unbezwinglicher Ehrgeiz bewog ihn, die reichen Früchte mühseliger Arbeiten in eine Form zu gießen, die seinen Namen am schnellsten und weitesten durch Deutschland zu tragen versprach. Denn Alles, was den Dichter und nun gar den dramatischen Dichter im engeren Sinne macht, fehlte Lassalle in erschreckendem Maße; er wusste nichts von den Lebensbedingungen der Bühne und seine Metrik ist von einer unerträglichen Geschmacklosigkeit und Holprigkeit. Dabei aber ist der „Sickingen" von einer hinreißenden, nationalen Leidenschaft getragen und reich an fruchtbaren, tiefen Gedanken, von denen es immer zu bedauern bleibt, dass sie unter einer so stachligen Form begraben sind. Die Intendanz lehnte die Aufführung ab; der Vorwurf persönlicher und politischer Rancune ist ihr deshalb nicht erspart geblieben; die neuerdings auf einer Berliner und Hamburger Bühne erfolgte Aufführung des Stückes hat schlagend bewiesen, dass ihr damit Unrecht geschah.

Im Herbste 1858 fiel das Ministerium Manteuffel; der Frühling 1859 brachte den italienischen Krieg. Neues Leben erwachte auch auf politischem Gebiete und Lassalle warf seine Schrift: „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens. Eine Stimme aus der Demokratie" in die Bewegung der Geister. Hier tritt der Parteimann völlig zurück hinter den Patrioten; Lassalle fordert, dass Preußen die damalige Krise zu einer auswärtigen Politik in energischem und großem Stile benutzen und den Hebel zur Einigung Deutschlands in der Befreiung Schleswig-Holsteins vom dänischen Joche ansetzen solle. Einige der besten Gedanken jener Politik, welche ein halbes Jahrzehnt später Herr v. Bismarck inaugurierte, sind in der kleinen Broschüre entwickelt; man liest sie heute mit gar seltsamen Gedanken. So schreibt Lassalle: „Jetzt wäre der Moment, während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht, für die Erhöhung Preußens in der deutschen Achtung zu sorgen. Jetzt wäre der Augenblick da, diese schwer blutenden Wunden zu heilen. Möge die preußische Regierung sich davon durchdringen: die Sterne winken günstig! . . . Die Sympathie für Schleswig-Holstein, der Drang nach einer nationalen Stellung in der jetzigen Krise, der Durst nach nationaler Größe überhaupt, der Hass gegen Napoleon, die heiße, fiebernde Sehnsucht nach nationaler Einheit, alle diese Flammen würden zu einem Feuer zusammenschlagen, welches, sein Hindernis selbst in seine Nahrung verwandelnd, mit jedem Widerstande nur wüchse, den man ihm entgegenstellte. . . Und möge die preußische Regierung dessen gewiss sein: in diesem Kriege, der ebensowohl ein Lebensinteresse des deutschen Volkes als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und zittert." Solche Worte tragen den Akzent einer echten Überzeugung; dem heutigen Kommunismus müssen sie freilich wie unverfälschtes Sanskrit klingen.

Die Hoffnungen, welche Lassalle auf den italienischen Krieg setzte, erfüllten sich bekanntlich nicht. Er zog sich wieder in die Stille seines Studierzimmers zurück und arbeitete während der Herrschaft der neuen Ära an seinem bedeutendsten Werke, dem „System der erworbenen Rechte", das 1861 bei Brockhaus in Leipzig erschien. Inzwischen hatte sich der Streit um die Armeereorganisation zum Verfassungskonflikt zugespitzt; die altliberale Partei trat den Vordergrund der parlamentarischen Bühne an die neugeschaffene Fortschrittspartei ab. Lassalle winkten neue Sterne. Im Winter 1861—1862 gab er in Gemeinschaft mit Lothar Bucher das bekannte Pamphlet gegen Julian Schmidt heraus, das den Literarhistoriker bekämpfte, aber in Wahrheit den Chefredakteur der „Berliner Allgemeinen Zeitung", den hervorragendsten Vertreter der altliberalen Publizistik, treffen sollte. Mit den namhaften Führern der Fortschrittspartei, mit Duncker, Ziegler und Anderen, stand Lassalle in nahem Verkehr; auch mit den Leitern des Nationalvereins hatte er Fühlung. Dennoch wollten sich seine ehrgeizigen Träume nicht verwirklichen; er fand nicht die Berücksichtigung, welche er erwartete und bei der Unzahl von Mittelmäßigkeiten, die in der damaligen Fortschrittspartei das große Wort führten, auch wohl beanspruchen durfte. War's, weil man seinen ungestümen Ehrgeiz fürchtete, war's, weil man an seinem Verhältnisse zur Gräfin Hatzfeldt Anstoß nahm, man wählte ihn in kein Komitee, man gab ihm kein Mandat für die Kammer. Das waren tödliche Kränkungen für eine Natur, wie Lassalle war. Dazu kam eine weitgehende Meinungsdifferenz zwischen ihm und der Fortschrittspartei über die siegreiche Austragung des Verfassungskonfliktes. So bestimmten auch hier persönliche und prinzipielle Motive seine Geschicke. Was er nicht durch die Fortschrittspartei erreichen konnte, wollte er gegen sie erkämpfen. Er resolvierte sich kurz und trug den Krieg, ein einzelner Mann gegen die mächtigste Partei des Landes, Frühjahr 1862 in die Berliner Bezirksvereine.

Die Taktik war richtig, aber Lassalle war nicht der richtige Mann, sie durchzuführen. Der Berliner Fortschrittsphilister ist ein gar eigengeartetes (griechisch); beschränkt und eingebildet, anspruchsvoll und unwissend, hat er eine unverwüstliche Vorliebe für die ödeste Mittelmäßigkeit, und ein Feuergeist, wie Lassalle, blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Der erste Vortrag, den Lassalle „über Verfassungswesen" in einer Reihe von Bezirksvereinen hielt, hielt sich noch ganz in den Grenzen philosophischer Theorie. Verfassungsfragen sind Machtfragen; nicht nach dem geschriebenen Rechte eines Blattes Papier, sondern durch die tatsächliche Wucht der gegenseitigen Machtverhältnisse werden innere Konflikte entschieden. Die Redner des Herrenhauses jubelten über den unerwarteten Bundesgenossen; die „Kreuzzeitung" schrieb schmunzelnd von einem „seiner Zeit vielgenannten, revolutionären Juden, der den Nagel auf den Kopf getroffen und noch lange nicht alles gesagt habe, was er wisse und denke"; die fortschrittliche Presse erhob sich einmütig gegen den neuen Gegner. Der Streit verschärfte sich, und in einem neuen Vortrage: „Was nun?" zog Lassalle die praktische Nutzanwendung aus seiner Verfassungstheorie. Er entwickelte, dass alle organisierte Macht des Staates, das Heer, das Beamtentum etc. in den Händen der Regierung sei; die Volksvertretung habe nur ein Mittel, ihr Recht durchzusetzen, aber dies Mittel sei auf die Dauer unwiderstehlich. Sie solle aussprechen das, was sei, d. h. durch einmütigen Austritt aus der Kammer unter der feierlichen Erklärung, nicht eher wieder zusammenzutreten, ehe die Regierung den Nachweis geliefert habe, dass die nicht bewilligten Ausgaben für das Heer eingestellt seien, die Arbeiten der Volksvertretung suspendieren und so den Scheinkonstitutionalismus zerstören, welcher für die Regierung eben so nützlich, als für das Volk schädlich sei. Bei etwaigen Neuwahlen solle die neugewählte Kammer sofort denselben Weg einschlagen; so werde auf die Regierung das Odium eines absoluten Regiments gewälzt, unter welchem sie auf die Dauer zusammen brechen müsse, sowohl in Rücksicht auf die politischen Konstellationen der europäischen Lage, als auch auf die Anschauungen und Stimmungen des eigenen Volkes. Die Fortschrittspartei behielt auch jetzt taube Ohren; ein einziges Mitglied, Martiny aus Kaukehmen, stellte in der Fraktion einen Antrag im Sinne Lassalles; er blieb völlig isoliert und schied mit einer motivierten Erklärung aus dem Landtage aus. Um so heftiger ging die fortschrittliche Presse gegen Lassalle vor. Sie nannte ihn einen Anhänger der Bismarck’schen Theorie von der Macht, die dem Rechte vorgehe, und als er eine berichtigende Erklärung an die „Reform" und „Vossische Zeitung" einsandte, verweigerten beide Blätter die Aufnahme. Er gab nunmehr die Berichtigung als selbstständiges Schriftchen „Macht und Recht" heraus; er brach damit definitiv mit der Fortschrittspartei und bekannte sich in vorläufig noch sehr unbestimmten Ausdrücken als Anhänger der „alten, wahren Demokratie."

Diese Kämpfe zogen sich hin vom Frühjahr 1862 bis Frühjahr 1863. Je mehr Lassalle die Hoffnung entschwand, die Fortschrittspartei zu seinen Ideen zu bekehren, je stärker tauchten die alten Erinnerungen von 48 auf, je vertrauter wurde ihm der Gedanke, den Arbeiterstand als organisierte Partei in die Verfassungskämpfe einzuführen. Schon sehr bald nach seinem ersten Vortrag über Verfassungswesen hatte er im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt einen weiteren Vortrag „über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes" gehalten, in welchem er an der Hand historisch-philosophischer Entwicklung darzulegen versuchte, dass wie die Revolution von 1789 den dritten, so die Revolution von 1848 den vierten Stand zur herrschenden Rolle im Staatenleben berufen habe. Obgleich sich auch dieser Vortrag noch in den Schranken reiner Theorie hielt, wurde er doch sofort nach der Drucklegung polizeilich konfisziert und der Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht machte dem Verfasser auf Grund der bekannten Hass- und Verachtungsparagraphen des preußischen Strafgesetzbuches den Prozess. Am 16. Januar 1863 wurde Lassalle in der Tat zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, aber er bewies in der überaus stürmisch verlaufenden Sitzung, dass er, wenn er auch kein dramatischer Dichter war, so doch glänzende Heldenrollen spielen könne. Selten mag sich vor preußischen Gerichtshöfen eine gleich dramatisch bewegte Verhandlung abgerollt haben. In seiner Verteidigungsrede — später gedruckt unter dem Titel „Die Wissenschaft und die Arbeiter" — entwickelte Lassalle den Gedanken, dass aus dem Bündnisse zwischen der höchsten geistigen Elite der Wissenschaft und dem gesunden, tiefen, noch durch keine falsche und halbe Bildung angekränkelten Verstande der großen Arbeitermasse der Nation eine neue Blüte des Volkslebens emporwachsen müsse und werde. Noch aber erklärte er, dass er gegenüber der Reaktion Schulter an Schulter mit der Fortschrittspartei stehe.

Einen Monat später, Mitte Februar, veröffentlichte er das oben erwähnte Schriftchen „Macht und Recht", und noch war kaum die Druckerschwärze trocken, als ein Schreiben aus Leipzig an ihn einlief, das ihn Hals über Kopf in die Arbeiteragitation warf.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.