Elfte Fortsetzung

1870 wirkte genau umgekehrt wie 1866 auf die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. Während damals die innere Staatsumwälzung allen Hass und alle Zwietracht bis in ihre Grundtiefen aufgewühlt hatte, schmolz jetzt die äußere Gefahr Aller Herzen zusammen in dem einen gemeinsamen Gefühle der Vaterlandsliebe. Keine Partei, wie schroff sie immer dem Bestehenden in Staat und Gesellschaft gegenübertrat, konnte sich dieser elementaren Strömung entziehen. Die sozialistische Propaganda war vollkommen lahm gelegt und in die organisierten Reihen der Partei riss die nationale Begeisterung breite und tiefe Lücken.

Schweitzer und sein Verein taten das Klügste, was sich unter diesen Umständen überhaupt tun ließ; sie schwammen mit dem gewaltigen Strome, worauf sie ohnehin die Traditionen Lassalles hinwiesen. Anders die kommunistische Fraktion. In ihr kam es zunächst zu einem heftigen Zwiespalts, der ihre kaum gesicherte Existenz aufs Neue in Frage zu stellen drohte. Bebel und Liebknecht enthielten sich der Abstimmung, als im norddeutschen Reichstage die Kriegsanleihe bewilligt wurde; sie gaben ein schriftliches Votum zu Protokoll, worin sie ausführten, dass eine Bewilligung der Geldmittel ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet habe, eine Verweigerung aber als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefasst werden könnte. Mit dieser Haltung war der Braunschweig-Wolfenbütteler Ausschuss, dessen Mandat vom Stuttgarter Kongresse auf ein Jahr verlängert worden war, keineswegs einverstanden. Bracke sprach die sehr verständige Ansicht aus, dass, wenn sich die sozialdemokratische Agitation der nationalen Bewegung entgegenstemme, sie vollends werde von derselben verschlungen worden; er erließ mit seinen Kollegen vom Ausschuss am 24. Juli ein Manifest an die Partei, das an sich confuse, doch an vielen Stellen patriotische Hingebung atmet. Natürlich reizte das Liebknechts höchsten Zorn, und er beschwerte sich bei Geib, dem Vorsitzenden der Kontrollkommission, dem gegenüber sich Bracke wiederum recht verständig verteidigte. Er schrieb: „Ist das Übermaß von Nationalgefühl, wie das Übermaß von Partikularismus zu tadeln, so ist's ein Gleiches mit dem Übermaße von Kosmopolitismus. Alle drei Dinge sind berechtigt, und es muss eben die nötige Harmonie zwischen ihnen hergestellt werden . . . Bebel und Liebknecht haben uns die Herzen entfremdet. Fährt Liebknecht in dieser Weise fort, so haben wir am Ende des Krieges noch ein Dutzend eingefleischter Sozialrepublikaner und ein Anzahl Sachsen, die ihres Partikularismus wegen die internationale, fern liegende Idee weit lieber haben, als die nahe liegende, ihnen aber von 1866 her ihres schwarz-weißen Gewandes wegen widerlich gewordene nationale." Eine Prophezeiung, die im Großen und Ganzen durchaus eingetroffen ist.


Es gelang der Kontrollkommission nicht, die Differenz zwischen dem Parteiausschuss und dem Parteiorgane beizulegen; im Gegenteil gewann dieselbe bis zum Tage von Sedan bedenklich an Schärfe. Dabei zeigte sich, dass die Diktatur Liebknecht faktisch kaum minder vorhanden war, wie die Diktatur Schweitzer; nicht die höheren Instanzen, sondern der „Volksstaat" bestimmte die Richtung der Parteipolitik; am 1. September schrieb Bracke resigniert an Geib von der „Monarchie Liebknecht und den Strohpuppen", welche die Ausschussmitglieder darstellten. Man hatte sich schließlich geinigt, Marx zum Schiedsrichter aufzurufen; der nahm selbstverständlich die Partei Liebknechts und erklärte sich in einem fulminanten Schreiben für den Frieden mit Frankreich und gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen. Er riet zu großartigen Arbeiterversammlungen, die in diesem Sinne Resolutionen fassen sollten; „ich fürchte," schrieb er, „die Sch und N werden ihr tolles Spiel ungehindert treiben, wenn die deutsche Arbeiterkasse nicht on masse ihre Stimme erhebt." Gleichzeitig mit diesem Briefe kamen die Nachrichten von Sedan, von der Proklamierung der Republik in Paris nach Deutschland, und Brackes enthusiastisches Gemüt hatte nun ein gleißenderes Spielzeug, als die ernste Sorge war, welche bei dieser neuen Wendung der Dinge alle patriotischen Herzen bewegte. Am 5. September erließ der Ausschuss ein neues, weitschweifiges Manifest, in welchem er zu Massenkundgebungen des Volkes „für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik und gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen" aufforderte; ein großer Teil des Marxschen Briefes war dem Aufrufe eingeflochten. Liebknecht schrieb versöhnt aus Leipzig: „In der Hauptsache ist der Nagel auf den Kopf getroffen. Hurrah!" Bedenklicher äußerte sich Karl Hirsch in Crimmitschau: „Ich bin mit dem Grundgedanken eures Manifestes nicht einverstanden. Ihr steckt die rote Fahne heraus; man wird uns totschlagen wie tolle Hunde, und man wird dazu noch Recht haben, wenn wir so ungeschickt vorgehen. Im besten Falle steckt man uns unter dem Beifalle von ganz Deutschland, incl. Elsaß und Lothringen, ins Loch bis nach dem Kriege und noch länger. — In dem Manifeste stecken gern fünf bis zehn Jahre Spinnen. Die „Schurken und Narren" wagt entweder ganz auszusprechen oder streicht die Anfangsbuchstaben." Der Warner wurde als „Angstmichel" verlacht.

Wenige Tage später, am 9. September, früh Morgens, wurden auf Befehl des Generalgouverneurs der Küstenlande, Vogel v. Falkenstein, die Mitglieder des Ausschusses verhaftet, Bracke, v. Bonhorst in Braunschweig, Spier in Wolfenbüttel, daneben noch einige Unbedeutendere. Sie wurden in Ketten nach der Beste Boyen in Lützen abgeführt und dort vorläufig interniert, während in ihrer Heimat der Prozess wegen Hochverrats gegen sie vorbereitet wurde. Als Bebel und Liebknecht aus eigener Machtvollkommenheit die Leitung der Partei auf die Kontrollkommission in Hamburg übertrugen, wurde auch Geib am 17. September verhaftet und nach Lützen abgeführt. Es bildete sich dann ein neuer, provisorischer Ausschuss in Dresden, wo er ungestört blieb. Mit den Sozialisten teilten bekanntlich einige Dänen und Hannoveraner, namentlich aber Johann Jacoby, die Lötzener Gefangenschaft. Die preußischen Staatsangehörigen unter ihnen wurden bereits am 24. Oktober durch eine königliche Kabinettsordre mit Rücksicht auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Freiheit gesetzt. Die Braunschweiger gelangten erst am 16. November in ihre Heimat, wo sie zunächst in, Untersuchungshaft wegen Hochverrats blieben.

Anfang Dezember trat der norddeutsche Reichstag zu seiner letzten Session zusammen behufs Bewilligung neuer Kriegsanleihen, vornehmlich behufs Beschlussfassung über die Versailler Verträge mir den süddeutschen Staaten. In beiden Punkten stimmten nunmehr sämtliche sozialdemokratische Abgeordneten, auch die Lassalleaner, mit Nein; die Phrase der „Republik" hatte es ihnen angetan, so wenig eine Republik Gambetta-Thiers mit ihren Idealen zu tun hat. Auch bei Annahme der Titel Kaiser und Reich waren sie die einzigen Opponenten. Kurz nach Schluss des Reichstages wurden Bebel und Liebknecht am 17. Dezember in Leipzig unter der Anklage des Hochverrats verhaftet, mit ihnen Adolf Hepner, der seit Kurzem als zweiter Redakteur des „Volksstaat" fungierte. Anfangs März, 1871 fanden dann die Wahlen zum ersten deutschen Reichstage statt; sie ergaben den völligen Niedergang der sozialdemokratischen Bewegung. Nur Bebel wurde in Glauchau gewählt mit etwa 7.000 gegen 4.000 Stimmen, welche Schulze-Delitzsch erhielt. Ende März wurden fast gleichzeitig die Braunschweiger und die Leipziger Gefangenen vorläufig aus der Untersuchungshaft entlassen; zur selben Zeit erklärte Schweitzer, dass er von der Leitung des allgemeinen deutschen Arbeitervereins zurückzutreten beabsichtige und nur noch bis zur Wahl eines neuen Präsidenten die Geschäfte fortführen werde. Am 30. April ließ er den „Sozialdemokrat" eingehen, einen Monat darauf auch den „Agitator."

Die militärischen, polizeilichen und strafrechtlichen Prozeduren gegen die Führer der Eisenacher Fraktion gehören zu den beklagenswertesten Ereignissen jener Zeit, beklagenswert nicht minder vom rechtlichen, wie vom politischen Standpunkte. Im Parlamente wurde gelegentlich die Lötzener Kettenaffaire das einzige „schwarze Blatt" in der Geschichte des glorreichen Krieges genannt; wenigstens die Lichtseite hat sie noch, dass alle verfassungstreuen Parteien in ihrer Verurteilung übereinstimmten. Es mag etwas von Treppenwitz darin sein, wenn man heute die bramarbasierenden Phrasen des Manifestes vom 5. September nur mit Heiterkeit lesen kann; damals mochten die „Narren und Schurken," mit welchen Karl Marx die ungeheure Mehrheit des deutschen Volkes in der größten Krisis seiner Geschichte regalierte, Ekel und Verachtung erzeugen, aber über die absolute Ungefährlichkeit des widrigen Geschwätzes konnten am wenigsten Behörden im Zweifel sein, die aus der beschlagnahmten Korrespondenz ersehen mussten, wie sehr die Partei zu kämpfen hatte, um nicht von der Hochflut der nationalen Bewegung völlig verschlungen zu werden. Ganz und gar nicht ist die Sachlage dadurch gebessert worden, dass den Braunschweiger, wie den Leipziger Verhaftungen gerichtliche Prozeduren gefolgt sind. Im ersteren Falle schrumpfte die Verfolgung wegen Hochverrats zusammen auf eine Anklage wegen Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, und diese endete schließlich — und zwar nur auf Grund eines veralteten Gesetzes des Herzogtums Braunschweig — mit einer Verurteilung wegen Teilnahme an einem gesetzwidrigen Vereine, die in so fern wirkungslos war, als die drei resp. zwei Monate Gefängnis, zu denen das Obergericht zu Wolfenbüttel Bracke, v. Bonhorst und Spier verurteilte, als durch die Untersuchungshaft verbüßt betrachtet wurden. Im anderen Falle haben Leipziger Geschworene im Frühjahr 1872 bekanntlich Bebel und Liebknecht der Vorbereitung des Hochverrats für schuldig erkannt, Hepner freigesprochen, und die beiden Ersten sind zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, allein es ist eben so bekannt, dass dieser Prozess nicht grade zu einem besonderen Ruhmesdenkmal deutscher Rechtspflege geworden ist, und als' ein Musterbeispiel für die Zuständigkeit der Schwurgerichte für Presse- und politische Anklagen lässt er sich nicht eben verwerten. Es kann auch gar nicht bestritten werden, dass sich die Angeklagten in beiden Fällen geschickt, mutig und würdig benahmen, mit alleiniger Ausnahme Hepners, der wie ein dummer Junge halluzinierte. Alles in Allem bleibt es ein arger Missgriff, dass man Liebknecht und Genossen als Märtyrer einen Teil der Partie wiedergewinnen ließ, welche sie als Parteiführer so vollkommen verloren hatten.

Wie tief die Aktien der Bewegung standen, zeigt am besten der Umstand, dass selbst Schweitzer, der noch nie verzweifelt hatte, jetzt die Flinte ins Korn warf. Allerdings sind die näheren Motive seines Rücktritts, wie bereits erwähnt, nicht völlig aufgeklärt. Immerhin stand es mit seiner Fraktion nicht so schlimm, wie mit der anderen; der allgemeine deutsche Arbeiterverein bildete trotz alledem noch eine respektable Organisation. Schweitzer selbst hat sich zu Verschiedenen verschieden ausgesprochen. Am wahrscheinlichsten ist, dass ihm, um einen trivialen, aber bezeichnenden Ausdruck zu gebrauchen, die ganze Geschichte zu langweilig geworden war, um sie nochmals von vorn anzufangen. Mit dem Besitze der Alleinherrschaft waren die spannenden Nervenaufregungen verschwunden, die mit dem Ringen nach derselben verknüpft waren; auch der edlere Kampf mit ebenbürtigen oder überlegenen Gegnern war Schweitzer durch seine Wahlniederlage in Elberfeld-Barmen verschlossen. Endlich mochte er als der weltmännische Skeptiker, der er war, vorhersehen, dass ihn über kurz oder lang doch das Schicksal der „Verräter" ereilen würde; zu Rudolf Meyer har er geäußert, dass auf treue Anhänglichkeit einer Partei von Arbeitern an ihre Führer nicht zu rechnen sei. Darin liegt eine unbestreitbare Wahrheit. Lassalle, Marx, Schweitzer haben sie mehr oder minder erfahren; selbst Liebknecht, der in Bezug auf interesselose und opfervolle Hingabe an die Sache über jenen Dreien steht, fängt an, sie zu erproben. Als ihm auf dem letzten Parteikongresse in Gotha das Jahresgehalt von tausend Thalern, das er als Redakteur des „Volksstaat" und der „Neuen Welt" bezog, ohne jeden Grund um ein Fünftel gekürzt wurde und er sich schweigend fügte, deduzierte ein Biedermann, dass er bisher zu viel erhalten haben müsse, da er sonst doch Protestieren würde! Ein anderer verlangte, dass Liebknecht aus der Redaktion des Parteiorgans hinausgeschafft würde, man dürfe keinen Personenkultus treiben. Es ist der gerechte Fluch Derer, welche den Neid der Masse aufregen, dass sie selbst als die ersten Opfer dieses Neides fallen.

An Schweitzers Stelle wurde Hasenclever zum Präsidenten des allgemeinen deutschen Arbeitervereins gewählt; er ist es dann bis zur formellen Auflösung geblieben. Faktisch hat die Geschichte des Vereins mit Schweitzers Rücktritt ein Ende; was noch folgt, ist nur noch sein allmähliches Aufgehen in die kommunistische Agitation. Es zeigte sich nunmehr unwiderleglich, dass die Arbeiterbewegung, welche Lassalle ins Leben rief, mehr als allem Anderen der genialen Laune eines seltenen Geistes ihren Ursprung verdankte; sie war gediehen und gewachsen, weil sich nach Lassalles Tode in Schweitzer ein. Mann gefunden hatte, der fähig war, die Gedanken des Meisters zu verstehen und seine Pläne fortzuführen, aber sie musste unrettbar in die völlige Negation des Kommunismus verfallen, sobald kein überlegener Geist an ihrer Spitze stand, der die besonderen Bedingungen ihrer Existenz mit den wechselnden Forderungen der politischen Lage in Einklang zu bringen wusste. Auch dies hat sich fort und fort als ein schlimmster Fluch der sozialdemokratischen Bewegung gezeigt, dass, wer den Instinkt der Massen zur Begehrlichkeit aufreizt, immer größere Opfer dem Löwen hinwerfen muss, der einmal Blut geleckt hat. Schon Lassalle wurde von den Geistern, die er erweckt hatte, weiter fortgerissen, als ursprünglich seine Absicht war; auch Schweitzer wurde namentlich durch die Konkurrenz von Liebknecht gezwungen, seine Forderungen immer höher und höher zu spannen; noch in den letzten Tagen seines Regimes kokettierte er mit der Pariser Kommune nicht minder, wie nur immer die Kommunisten selbst. Unter Hasenclever war nun gar kein Halten mehr. Hasenclever selbst ist durchaus bescheiden und einfach, gutherzig und wacker, eine biedere Natur, welcher die hohlen Theaterphrasen gar nicht zu Gesichte stehen, ein preußischer Landwehrmann, der, als er im Reichstage die Mittel zur Fortführung des Krieges gegen Frankreich verweigert hatte, im Belagerungsheere vor Paris seine Pflichten als braver Soldat ohne Tadel erfüllte. Aber seine geistige Begabung ist gering, und zum Erben Lassalles und Schweitzers fehlte ihm nicht weniger denn Alles. Auch seine rechte Hand Hasselmann bot nach dieser Richtung hin keinerlei Ersatz; an diesem Charakter hat sich der verwirrende und verwüstende Einfluss des agitatorischen Treibens am schrecklichsten gezeigt. Aus dem frischen und kecken Knaben, der sich an Schweitzer anschloss, war im Laufe weniger Jahre eine der traurigsten Karikaturen unseres öffentlichen Lebens geworden, ein wüster Geselle, der nach außen und innen ein förmliches Studium aus der Unreinlichkeit machte. Der Mangel an Selbstachtung, den er in all' seinem Hantieren zur Schau trug, konnte ihm natürlich selbst unter fanatisierten Arbeitern keine Autorität verschaffen.

Von der Niederlage, welche ihre Bestrebungen durch den deutschfranzösischen Krieg erlitten hatten, suchten sich beide Fraktionen zunächst durch eine unmäßige Glorifikation der Pariser Commune zu erholen. Ihre Blätter erklärten es für „naive Unverschämtheit," als einige gutmütige Gegner sie aufforderten, die Taten der Communards formell zu desavouieren. Bebel trug bekanntlich diese Dithyramben bis auf die Tribüne des Reichstages. Wenn sie durch dies hochtrabende Gebaren die Schwäche ihrer Position zu verdecken suchten, so hatten sie wenigstens für die Arbeiter nicht ganz unrichtig gerechnet; die Bewegung sing schon im Jahre 1871 sich wieder langsam zu heben an. Als die kommunistische Fraktion am 12. August ihren Kongress in Dresden abhielt, musterte sie etwa 6.000 Mitglieder, um die Hälfte weniger als im Vorjahre, aber an sich doch keine verächtliche Zahl! Um dieselbe Zeit gründete sie eine Reihe von Lokalblättern in Hamburg, Dresden, Braunschweig, Chemnitz; von diesen bestehen noch der „Braunschweiger Volksfreund" und die „Chemnitzer Freie Presse." Es war von Anfang an ein Hauptbestreben dieser Fraktion, sich an möglichst vielen Orten durch die Presse anzusiedeln, während der allgemeine deutsche Arbeiterverein auch in dieser Beziehung an der zentralistischen Organisation festhielt; er begnügte sich, mit dem Amtsantritte Hasenclevers am 1. Juli 1871 den „Neuen Sozialdemokrat" ins Leben zu rufen und hat dann bis zu seinem Ende kein weiteres Organ gegründet.

Das Jahr 1872 bildet wieder einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Bewegung. Selbstverständlich hätte alle eifrigste Agitation der Führer doch nicht ausgereicht, die schweren Schläge wett zu machen, welche die Partei betroffen hatten; es war nicht die Kunst der Steuerleute, sondern eine gewaltige Springflut von unten her, die das Wrack vom Strande hob und wieder auf hohe See führte. Die Schwindelperiode mit ihren hohen Arbeitslöhnen und erfolgreichen Strikes, der Krach mit seinem Gefolge von Elend und Hunger, beide haben gleich erfolgreich Rekruten für die Socialdemokratie geworben; der Rausch wie der Katzenjammer sind gleich taugliche Geburtshelfer für eine Weltanschauung, die von Extrem zu Extrem taumelt. Durch einen merkwürdigen Zufall traten, während die Zustände für die wirksame Ausbreitung der Parteigrundsätze sorgten, die geistig führenden Personen ganz oder teilweise zurück. Schweitzer schied freiwillig; Bebel und Liebknecht wurden im Frühjahr 1872 durch das Urteil im Leipziger Hochverratsprozesse auf zwei Jahre ihrer wühlenden Tätigkeit entzogen; Karl Hirsch, nächst ihnen der Bedeutendste, ging als Korrespondent mehrerer „Bourgeoisblätter" nach Paris. Marx endlich erlebte im Herbst desselben Jahres das Herzeleid, dass ihm das Werk seines Lebens unter den Händen zerbrach. Mit seiner geheimen Diktatur ging es nicht anders, als mit der offenen Lassalles und Schweitzers; die Geister, welche systematisch zur Desorganisation erzogen wurden, ertrugen die föderalistischen Formen der internationalen Organisation auf die Dauer so wenig, als sie die Zentralistische Form der nationalen Organisation ertragen mochten. Die Internationale hatte wegen des Krieges 1870 und 1871 keine Kongresse abgehalten; erst am 5. September 1872 traten ihre Delegierten wieder im Haag zusammen. Hier kam die lange gärende Erbitterung über die Alleinherrschaft von Marx zur offenen Empörung. Er selbst war zugegen. Die Föderation des Jura beantragte Abschaffung des Generalrats und Unterdrückung aller Autorität in der Internationalen; ihr standen zur Seite die Mehrzahl der französischen, italienischen, belgischen und spanischen Delegierten. Englische Arbeiter waren fast gar nicht vertreten; ihr gesunder, praktischer Sinn hatte sich längst von dem phantastischen Treiben abgewandt; Marx behauptete keck, die Odger, Bradlaugh und Genossen hätten sich dem Ministerium verkauft. Um so zahlreicher waren deutsche Sozialdemokraten da, 25 unter 65 Delegierten; sie erwiesen sich als die treuesten Knappen von Marx. Einer von jenen Leuten, die Schweitzer wegen seiner Diktatur nicht genug verdächtigen und verleumden konnten, rief emphatisch: „Wir Deutsche sind autoritäre Sozialisten. Wir halten für notwendig, dass die Autorität des Charakters und des Geistes auch in der Gesellschaft respektiert werden muss. Sie wollen den fest organisierten Apparat der Reaktion stürzen und dekretieren zu diesem Zwecke die Anarchie in Ihren eigenen Reihen." Durchs ein schlaues Manöver gewann Marx eine Art von Pyrrhussieg. Er ließ den Generalrat nach New-York verlegen und aus einigen Nullen zusammensetzen; alle Berichte, Beschlüsse etc. sollten in beglaubigter Abschrift an ihn nach London gesandt werden. 26 Delegierte, vornämlich Deutsche, stimmten dafür, 23 dagegen, die Übrigen enthielten sich der Abstimmung, Damit war die Diktatur von Marx allerdings noch schrankenloser gemacht, aber die Minderheit durchschaute den Coup und schied aus, um eine neue Internationale zu gründen. Je schmählicher diese Niederlage war, mit um so größeren Worten schloss Marx den Kongress. Er sagte: „Wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England, Holland, wo die Arbeiter zu ihrem Ziele kommen können durch friedliche Mittel. Wenn dies wahr ist, so müssen wir anerkennen, dass in den meisten Ländern des Kontinents die Gewalt der Hebel unserer Revolution sein muss; an die Gewalt wird man appellieren müssen, um die Herrschaft der Arbeiter zu etablieren. . . Was mich anlangt, so werde ich an meiner Aufgabe fortarbeiten; ich werde mich nicht von der Internationalen zurückziehen, und der Rest meines Lebens wird, wie meine vergangene Arbeitszeit, dem Triumphe der sozialen Ideen geweiht bleiben, die, wir sind dessen sicher, eines Tages die Herrschaft des Proletariats herbeiführen werden." Abgesehen von diesen tönenden Redensarten, war das, was die Internationale noch an wirklicher Macht besessen hatte, mit dieser Spaltung zerstört.

Während aber der internationale Bund der Sozialdemokratie auseinanderbarst, bereitete sich allmählich die Vereinigung der beiden Fraktionen vor, in welche sie auf deutscher Erde gespalten war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.