Dritte Fortsetzung

Lassalles „Heerschau" über die rheinischen Arbeiter, mit welcher er seine Rückkehr aus den heimischen Boden feierte, fällt in die letzten Tage des Septembers 1863: er wollte die erlesene Garde seiner Anhänger mustern und neue Rekruten werben: die blitzende Waffe, welche er sich zu diesem Zwecke schmiedete, war die Rede: „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag. Drei Symptome des öffentlichen Geistes." In dieser Kundgebung gipfelte die agitatorische Kraft Lassalles, aber es war der Gipfel, hinter welchem der Abgrund gähnt. Diese Beredsamkeit blendete mehr die Freunde, als dass sie die Gegner traf. Mitten durch das volle Pathos des Agitators klingt schon misstönend die hohle Phrase des Demagogen. Wohl wuchs mit der Zahl der Gegner die Kraft des einzelnen Mannes; wer ihren Spuren im Einzelnen folgt, wird vor diesem eminenten Können wachsende Bewunderung empfinden, aber die menschliche Sympathie mit dem Helden wird in demselben Grade schwinden. Lassalle fing an, kein Kampfmittel zu verschmähen; er, der noch vor wenigen Monaten auf Vahlteichs Vorschlag, die Zahl der Vereinsmitglieder in den offiziellen Mitteilungen auf zehntausend anzugeben, mit vornehmer Kürze erwidert hatte: „Lügen schickt sich für uns nicht": er, der in dem „Aussprechen dessen, was sei," das höchste politische Machtmittel erblickte, sprach jetzt nur zu oft Dinge aus, welche nicht waren. In der Heerschaurede kehrt er die schärfsten Waffen seiner Polemik gegen die deutsche Presse, und wer mag heute leugnen, dass ihm in mancher, in vieler Beziehung von den fortschrittlichen Organen bitterstes Unrecht getan worden ist! Aber wenn er mit schwindelndem Pathos den Arbeitern zuruft: „Halten Sie fest, mit glühender Seele fest an dem Losungsworte, das ich Ihnen zuschleudere: Hass und Verachtung, Tod und Untergang der heutigen Presse! So wahr Sie leidenschaftlich und gierig an meinen Lippen hängen, so wahr meine Seele in reinster Begeisterung zittert, indem sie in die Ihrige überströmt, so wahr durchzuckt mich die Gewissheit: der Augenblick wird kommen, wo wir den Blitz werfen, der diese Presse in ewige Nacht begräbt!" — wer kann auch nur an die subjektive Wahrheit dieser mühsam beim Lampenlicht gedrechselten Phrasen glauben, wenn er denselben Mund in demselben Momente schreiende Reklamen in der leichtfertigsten und unwahrsten Bedeutung des Wortes zu Gunsten einiger freundlich gesinnter Winkelblättchen, des Hamburger „Nordstern", des Frankfurter „Volksfreund", ausstoßen hört? Lassalle war schlechter geworden im Verlaufe des Kampfes; die sicherste Probe auf die Lauterkeit seiner Absichten ergab kein reines Fazit.

Mit dem Charakter des Agitators veränderte sich der Charakter der Agitation; die Massenbewegung wurde aus einem Zwecke zu einem Mittel. Nicht mehr soll sie durch die eigene Schwerkraft die bestehende Ordnung in Gesellschaft und Staat umwälzen; vielmehr sucht Lassalle seine Lieblingsphrase von dem „Hammer", den der Wille der Masse in der Hand des einen denkenden Führers bilde, zur Wahrheit zu machen; an der Spitze von Hunderttausenden will er als ebenbürtiger Faktor mit den herrschenden Gewalten verhandeln. Es beginnt das, was von Anhängern Lassalles noch häufiger als von Gegnern sein Bündnis oder doch sein Kokettieren mit der Reaktion und der Regierung genannt worden ist. In der Heerschaurede zeigen sich die ersten deutlichen Spuren. Hier verhöhnt Lassalle die Feste, mit welchen das Land nach der Vertagung des Landtags im Mai 1863 die Standhaftigkeit der Opposition gefeiert hatte; hier verhöhnt er die Presse, gegen welche das Ministerium Bismarck kurz vorher die Presseordonnanz gerichtet hatte! hier verhöhnt er den Frankfurter Abgeordnetentag, welcher zu dem österreichischen Bundesreformprojekte des Frankfurter Fürstentages keine absolut ablehnende Haltung eingenommen hatte, mit den Worten: „Die Fortschritts liebäugeln mit den Fürsten, um — Herrn v. Bismarck bange zu machen; sie hoffen ihn einzuschüchtern durch Kokettieren mit den deutschen Fürsten. Das sind die Mittel dieser Ärmsten! Und wenn wir Flintenschüsse mit Herrn v. Bismarck wechselten, so würde die Gerechtigkeit erfordern, noch während der Salven einzugestehen: er ist ein Mann, jene aber sind alte Weiber. Und noch niemals haben alte Weiber einen Mann eingeschüchtert, auch nicht, wenn sie nach anderen Seiten hin liebäugelten!" So Lassalles neue Taktik in der Theorie; ein äußerlicher Umstand gab ihm Anlass, sie auch sofort in der Praxis zu bewähren. Er hielt seine Rede am 20. September in Barmen, am 27. in Solingen, am 28. in Düsseldorf. Der Zulauf der rheinischen Arbeiter war groß; jubelnd empfingen sie den blassen, schlanken Gelehrten, der durch seine mannhafte Haltung von 1848 und der Manteuffel'schen Reaktionszeit her unter ihnen einer großen Popularität genoss, als den Bringer einer besseren Zukunft. Die lodernden Worte einer Rede, deren Wirkung kunstvoll auf eine heißblütige Arbeiterbevölkerung berechnet war, zündeten in den Köpfen; es kam zu raschen Ausbrüchen heißer Begeisterung und wilden Zornes; als sich in der Solinger Versammlung eine oppositionelle Minderheit durch Pfeifen und Zischen bemerklich machte, wurden die Ruhestörer tumultuarisch entfernt und es fielen bei der Gelegenheit einzelne Messerstiche. Eine halbe Stunde darauf erschien der Bürgermeister von Solingen in bewaffneter Begleitung und erklärte die Versammlung für aufgelöst. Vergebens protestierte Lassalle; er musste den Saal räumen und eilte an der Spitze seiner Anhänger auf das Telegraphenamt, wo er folgende Depesche aufgab: „Ministerpräsident v. Bismarck, Berlin. Fortschrittlicher Bürgermeister hat soeben an der Spitze von zehn mir Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst. Umsonst mich auf das Vereinsgesetz berufend protestiert. Mit Mühe das Volk — an Fünftausend in dem großen Saale der Schützenhalle, noch mehrere Tausend vor demselben — von Tätlichkeiten abgehalten. Von Gendarmen und Zehntausenden vom Volke, die mich arretiert glaubten, nach dem Telegraphenamte transportiert. Fahne der Elberfelder Arbeiter konfisziert. Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung. F. Lassalle." Das Telegramm blieb wirkungslos; überaus charakteristisch ist sein Wortlaut. Wie pointiert ist der Gegensatz des fortschrittlichen Bürgermeisters mit anderthalb Dutzend Polizisten, des sozialistischen Agitators mit Zehntausenden aus dem Volke; nicht weniger als dreimal kehrt das berauschende, tönende Schlagwort der „Tausende" in den paar Zeilen wieder.


Wenn die Solinger Depesche an sich nutzlos war, so schadete sie anderseits Lassalle in der öffentlichen Meinung unermesslich. Der Vorwurf, dass er ein Werkzeug der Reaktion sei, verzehnfachte sich; nicht zum wenigsten unter seinen eigenen Anhängern wurden die Köpfe geschüttelt und zusammengesteckt. Heute braucht die Behauptung, dass er heimliche Stipulationen mit der konservativen Partei oder der preußischen Regierung getroffen habe, nicht mehr ernsthaft genommen zu werden; die einfache Tatsache, dass die Staatsanwälte von Königsberg bis Düsseldorf ihn mit schweren Kriminalprozessen fast erdrückten, lässt es vielmehr nahezu unbegreiflich erscheinen, wie solche Einbildungen jemals auch nur in den aufgeregtesten Köpfen haben haften können. Die veränderte Taktik Lassalles erklärt sich leicht aus der tatsächlichen Lage der Dinge. Mit wie großem oder geringem Erfolge er sich das fatale Factum, dass seine Agitation in dem Sinne, in welchem er sie geplant hatte, schon nach einem Vierteljahre gescheitert sei, wegzuraisonnieren versuchen mochte, in Stunden ernsthaften Nachdenkens konnte er darüber nicht in Zweifel sein. Und dass er als Führer weniger hundert oder besten Falls weniger tausend Arbeiter keinen Faktor im öffentlichen Leben darstellen könne, dessen Bundesgenossenschaft zu wünschen und dessen Gegnerschaft zu fürchten sei, wusste ein Mann von seinem Verstande natürlich noch viel genauer. Statt dieser fehlgeschlagenen Hoffnungen winkte ihm aber die Erfüllung älterer Träume. Es ist keine Frage, dass Lassalle die Anfänge des Ministeriums Bismarck mit schärferem Blicke beobachtet hat, als die Mehrzahl der zeitgenössischen Politiker; nachdem die preußische Regierung „die föderalistische Intrige" des Frankfurter Fürstentages zum Scheitern gebracht hatte, sah Lassalle mit unbefangenerem und weiterem Blicke als die Fortschrittspartei voraus, was sich 1866 erfüllte. Der bevorstehende Nationalkrieg zur Einigung Deutschlands wurde von nun ab das A und O seiner Agitation; in allen seinen Reden und Schriften gab von Stund an dies Motiv den durchschlagenden Grundton. Treffend spiegelt sich der Umschwung seines Innern in zwei Aeußerungen, die er vor dem Berliner Kammergericht tat, im Mai 1863 erwartet er Alles von dem Staate, „dem uralten Vestafeuer aller Zivilisation," im März 1864 von einem „Königtum, das, gestützt auf den Knauf des Schwertes, noch aus seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht." Bei der letzteren Gelegenheit sprach er auch den innersten Gedanken seiner neuen Taktik in den Worten aus: „Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene Notwendigkeit gegründet sind. Und so verkündige ich Ihnen an diesem feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen, und Herr v. Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert!" Lassalle erwartete und sprach es unverhohlen aus, dass wenigstens in Preußen das Volk, unbekümmert um innere Konflikte, einer nationalen Politik in energischem und großem Stile jubelnd zustimmen würde; er hoffte, dass Herr v. Bismarck durch Verleihung des allgemeinen Wahlrechts den in der großen Masse der deutschen Nation unvertilgbar schlummernden Einheitsdrang gegen den dynastischen Widerstand der Fürsten und die parlamentarische Opposition der Fortschrittspartei aufrufen würde; in dieser Krisis gedachte er an der Spitze einer wenn nicht sehr zahlreichen, so doch entschlossenen, intelligenten, klarblickenden Arbeiterschaar ein entscheidendes Wort zu sprechen. Er kehrte den Vers Virgils um; nachdem es ihm misslungen war, den Acheron aufzustürmen, zählte er auf die Hilfe der Götter.

Während des Winters von 1863 auf 1864 vollzog sich der Umschwung seiner Agitation langsam, aber deutlich. Nebenumstände kamen hinzu, diesen Prozess zu fördern. Der im politischen Parteikampfe dreimal wahre Satz von den Gegensätzen, welche sich berühren, bewährte sich auch hier; Wagener führte im Abgeordnetenhause mit Vorliebe die neue Bewegung der Fortschrittspartei als Schreckgespenst vor, was auf Lassalles Eitelkeit einen unauslöschlichen, für Unbefangene nahezu komischen Eindruck machte. Er schreibt darüber an Vahlteich: „Eigentlich liegt, genau besehen, hierin ein so kolossaler Erfolg, wie ich ihn nimmer erwartet hätte. Was wollen die Fortschrittler machen, wenn uns die Konservativen so entgegenkommen?" Zu dieser Höhe der Begeisterung rissen den eitlen Mann kleine, maliziöse Scherze hin, wie sie die unberechtigte Eigentümlichkeit jeder parlamentarischen Debatte sind: auch sonst sorgte die beginnende Entartung des Agitators in den Demagogen dafür, dass die neue Taktik oft in unwürdigen, der Missdeutung fähigen Formen auftrat. Noch vor wenigen Monaten hatte sich Lassalle in seiner Leipziger Rede gerühmt, dass er seit fünfzehn Jahren in allen seinen Konflikten mit der Regierung stets eine durchaus stolze, ja schroffe revolutionäre Attitüde gewahrt habe; jetzt verhöhnte er die Opposition, aus deren Reihen er hervorgegangen war, um einer Regierung zu schmeicheln, die ihn verfolgte. Mit einem Anscheine von Recht begann sein Name typischen Klang zu gewinnen als eines Werkzeuges der Reaktion; seine glühendsten Anhänger fingen an, an ihm irre zu werden. Nach Art der Halbbildung versuchten sie, unfähig, die innere Entwicklung eines Charakters, wie Lassalle war, zu verstehen, das Rätsel durch äußere Beweggründe geheimnisvoller Natur zu lösen. Bernhard Becker erzählt, dass Lassalle durch seine Verbindung mit Boeckh, Förster, General Pfuel u. A. m. über die Pläne Bismarcks auf dem Laufenden erhalten worden sei; Vahlteich will gar wissen, dass
die zarten Hände der Gräfin Hatzfeld: die intimen Bande zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Arbeiterführer gewoben hätten. Heute sind diese Märchen auch für Ammenstuben überwundene Standpunkte. Lassalles Beziehungen zu den entgegengesetzten Polen der politischen Welt liegen klar vor. Er korrespondierte mit einigen konservativen Schriftstellern, mit Huber, mit Rodbertus, mit Ersterem mehr äußerlich und zufällig, denn der feinen milden Natur Hubers blieb der Name Hatzfeldt und was mit ihm zusammenhing, ein unüberwindlicher Stein des Anstoßes. Gelegentlich nahm Lassalle die Gefälligkeit Wageners in Anspruch, um eine Berichtigung in die Spalten der „Kreuzzeitung" zu lancieren; mit peinlicher Gewissenhaftigkeit sorgte er ferner dafür, dass alle seine Veröffentlichungen in die Hände des Ministerpräsidenten gelangten. Auch mag eine, oder die andere flüchtige Berührung zwischen den beiden Männern stattgefunden haben. So viel man weiß, hat Lassalle einmal Herrn v. Bismarck aufgesucht, um sich über die Konfiskation einer seiner Broschüren zu beschweren; einem on dit, zufolge sollen sie sich ein ander Mal auf der Leipziger Straße begegnet und plaudernd eine Weile neben einander gegangen sein. Der Erwähnung dieses Gerüchts fügt Bernhard Becker voll urkomischen Zornes hinzu: „Die Arbeiter wussten davon nichts." Geheimer ließen sich volksverräterische Zettelungen freilich nicht anspinnen, als auf dem Trottoir der belebtesten Straße Berlins.


Am 7. Oktober 1863 kehrte Lassalle von seiner rheinischen, Agitationsreise nach Berlin zurück. Er war mit seinen neuesten Erfolgen zufrieden. Zwar hatten sich nur etwa fünfhundert neue Mitglieder in die Listen des Vereins eingezeichnet, aber der Traum von den Zehntausenden war doch momentan eine greifbare Wirklichkeit gewesen. Er plante jetzt, was er in dem Bulletinstil, der ihm nachgrabe zur zweiten Natur geworden war, die Eroberung Berlins nannte. In der Hauptstadt hatte seine Lehre unter dem allmächtigen Einfluss der fortschrittlichen Presse so gut wie gar keinen Boden gefunden; er musterte in seiner nächsten Nähe nicht zwanzig Anhänger. Berauscht von seinen rheinischen Triumphen, beschloss er, den Stier bei den Hörnern zu packen. Persönlich erbitterte ihn die Perfidie, mit welcher ihm die „Reform" und die „Volkszeitung" nachsagten, nur der Schutz der Polizei habe ihn in Solingen vor der Wut der Arbeiter schützen können. An diese arge Entstellung der Wahrheit anknüpfend, veröffentlichte er seine „Ansprache an die Arbeiter Berlins", die er in sechszehntausend Exemplaren unentgeltlich verbreiten ließ. Er erörterte in dem Schriftchen nochmals in kurzen Zügen die Prinzipien seiner Agitation; dann benutzte er einen Korrespondenzartikel der Frankfurter „Süddeutschen Presse", der in etwas grellen Farben die Erfolge seiner rheinischen Heerschau schilderte, um zu beweisen, dass die Fortschrittler da, wo sie „unter sich" seien, die immensen Resultate seines Auftretens anerkennten; im Namen „vieler Tausende" ihrer Brüder forderte er die Berliner Arbeiter auf, sich ihm anzuschließen; er schließt begeistert: „Durch meinen Mund sprechen zu Euch Eure Brüder vom Rhein und vom Main, von der Elbe und der Nordsee! Die wichtigsten Centren Deutschlands sind gewonnen. Leipzig und die Fabrikgegenden Sachsens sind für uns. Hamburg und Frankfurt am Main marschieren unter unserer Fahne. Das preußische Rheinland geht bereits im vollen Sturmschritt voran. Mit Berlin wird die Bewegung unwiderstehlich!" Da ist nicht nur der Stil, da ist auch etwas von der Verlogenheit des Bulletins; wie kontrastiert mit diesen bombastischen Phrasen die deprimierte Stimmung Lassalles in den Briefen an seine Vertrauten! Im Übrigen erfüllten sich die Hoffnungen, welche er auf diese Ansprache setzte, in keiner Weise. Die Zahl der Berliner Vereinsmitglieder nahm kaum merkbar zu; einigen Trost mochte es gewähren, dass sich unter dem Zuwachs ein paar gebildete Männer befanden: zwei Ärzte, Dr. Eisner und Dr. Louis Neumann, der Buchhändler Reinhold Schlingmann, in dessen Verlag fortan Lassalles Schriften erschienen, endlich ein Student, der jetzt als ehrsamer Oberlehrer in einem märkischen Landstädtchen lebt. Um diese Zeit schloss sich auch Wilhelm Liebknecht an Lassalle an. Liebknecht, durch eine rege Beteiligung an den Badischen Aufständen von 1848 und 1849 politisch kompromittiert, hatte dreizehn Jahre als Verbannter in nahem Verkehre mit Engels und Marx zu London gelebt; Mitte 1862 kehrte er nach Deutschland zurück, um in Verbindung mit Braß und dem Novellendichter Schweichel ein republikanisches Organ in Berlin herauszugeben; es war die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung". Als Braß sehr bald in das Lager der Regierung übertrat, trennten sich Liebknecht und Schweichel von ihm, und Ersterer wurde, wenn auch erst nach misstrauischem Zögern, Mitglied des allgemeinen deutschen Arbeitervereins. Er war, wie er es noch heute ist, ein geschworener Anhänger von Marx; Vieles an Lassalle und seiner Agitation musste ihm missfallen; so ist es zu keinem rechten Verständlich zwischen ihnen gekommen, denn auch Lassalle erwiderte redlich das Misstrauen seines neuen Jüngers.

Mehr noch aber als an der Unlust der Arbeiter scheiterte die Versuchte Eroberung Berlins an zwei Faktoren, deren jeder einzelne für Lassalle unüberwindlich war; an dem dominierenden Einfluss der fortschrittlichen Presse und an dem energischen Quod non der Berliner Polizei. Die letztere tribulierte die Berliner Vereinsmitglieder durch Haussuchungen, durch Konfiskationen von Broschüren und Stammlisten; sie veranlasste die Wirte, ihre Lokale zu den Vereinssitzungen nicht herzugeben; so war Lassalle mit feiner dünnen Anhängerschaar auf einer ewigen Wanderschaft begriffen. Fanden sie ja ein neues Heim, so konnten sie sich doch nicht heimisch einrichten; fremde Gestalten drangen in die geschlossenen Sitzungen und verursachten unruhige Auftritte; gleichviel von wem diese Störungen zuerst ausgingen, der Berliner Fortschrittsphilister fand nur zu bald Geschmack an diesem neuen Sport, der ihm sechs Jahre später so verhängnisvoll werden sollte. Lassalle war endlich des grausamen Spiels müde; er griff wieder zu seinen „großen Mitteln" und berief Massenversammlungen, zu denen Jedermann der Zutritt freistand, aber er besserte damit nichts. Die lärmenden Störungen dauerten fort; am 22. November drangen gar Polizeibeamte in den Saal des Eldorado, wo Lassalle sprach, verhafteten ihn unter Beifall vieler Anwesenden als angeklagt des Hochverrats, den er in seiner „Ansprache,, begangen haben sollte, und trieben die Versammlung mit Gewalt auseinander. Nach drei Tagen gelangte Lassalle zwar gegen, eine Kaution von dreitausend Thalern wieder auf freien Fuß, aber die persönliche Agitation in Berlin blieb ihm für immer verleidet. Die Eroberung der Hauptstadt war gänzlich missglückt. Von Ende Oktober bis Ende November 1863 stieg die Zahl der Vereinsmitglieder nur auf 200, im Februar 1864 war sie schon wieder auf 35 zusammengeschmolzen.

Aber auch abgesehen von dem abschreckenden Eindruck dieses argen Misserfolges, dringendere und größere Sorgen begannen auf die Kraft des vielgeplagten Mannes einzustürmen. Der Tod des, Königs von Dänemark griff mit rauer Faust in das sorgsam ausgeklügelte Gewebe seiner Zukunftspläne. Lassalle begriff eben so schnell, dass dieser Zwischenfall der nationalen Politik des Ministeriums Bismarck neue Bahnen eröffne, wie er einsah, dass er selbst noch nicht im Entferntesten genügend auf die Rolle vorbereitet sei, die er sich in der entscheidenden Krisis zugedacht hatte. Zudem kreuzte die schleswig-holsteinische Bewegung empfindlich die Wirkungen seiner Agitation; viele der Vereinsmitglieder wurden von ihr hingerissen. An einen Bevollmächtigten, der wieder die Organisation von Freiwilligenschaaren plante, schrieb Lassalle erbittert: „Wir können uns unmöglich für das legitime Erbrecht des Herzogs von Augustenburg schlagen. Ist es national, zu den 33 deutschen Fürsten noch einen 34. zu schaffen? Ist das der Drang nach deutscher Einheit?" Er deutet in diesem Briefe verständlich an, dass die einzig rationelle Lösung der Schleswig-Holsteinischen Frage die Einverleibung der Elbherzogtümer in Preußen sei, aber öffentlich wagte er nicht, so weit vorzugehen. In seiner tödlichen Verlegenheit griff er endlich zu dem Mittel, das er an der Fortschrittspartei so oft verspottet hatte; er ließ seinen Verein eine nichtssagende Resolution fassen, welche die Trennung Schleswig-Holsteins von Dänemark, die „Einverleibung dieser Provinzen in Deutschland", forderte, aber vor der Bildung, von Freiwilligenschaaren warnte. Kurz zuvor war Lassalle durch die polnische Frage in ein ähnliches Dilemma geraten; auch hier blieb ihm schließlich nichts übrig, als den Tatendrang seiner Anhänger durch eine Resolution zu zügeln, die sich von den ähnlichen Adressen englischer und französischer Arbeiter dadurch unterschied, dass sie die Eroberungen deutscher Kultur und Sitte in Polen als einen legitimen Erwerb Deutschlands verteidigte.

Unter solchen Arbeiten und Sorgen begann für Lassalle die Winterkampagne von 1863, indes diese Anfänge — die erregten Massenversammlungen am Rhein, die stürmischen Eroberungsversuche Berlins, die unerwartet schnelle Entwicklung der nationalen Krisis — waren doch nur Spielereien gegen die schweren Kämpfe, die seiner noch harrten. Es handelte sich für ihn um drei unlöslich in einander verflochtene Aufgaben, von denen jede einzelne hingereicht haben würde, die Kräfte auch eines sehr begabten Mannes zu absorbieren. Es galt zunächst, einen Codex zu schaffen, an welchem die praktische Agitation in allen theoretischen Fragen ihren Anhalt finden könnte. Lassalle löste, behaftet mit einem halben Dutzend von Kriminalprozessen, die ihm aus seinen Agitationsschriften entstanden waren, so wie erdrückt von einer ungeheuren Korrespondenz- und Verwaltungslast für den Verein, diese Aufgabe in drei Monaten; Januar 1864 erschien das bekannte Werk: „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch oder Capital und Arbeit." Es zerfällt zwangslos in zwei Teile, in die negative Kritik der liberalen Ökonomie und die positive Entwicklung des Kapitalbegriffes, aus welchem die sozialistischen Forderungen Lassalles abgeleitet werden, die sich auch in dieser theoretischen Auseinandersetzung auf Produktivassoziationen mit Staatskredit beschränken. Der wissenschaftliche Wert des zweiten Teiles, obgleich derselbe nur den kondensierten Gedankenextrakt der Theorie von Marx enthält, fand auch unter den Gegnern mannigfache Anerkennung; die „Ostseezeitung", damals wie heute ein eifrigstes Organ der Freihandelspartei, spendete vielen Ausführungen Lassalles warmes Lob. Bekannter wurde der erste Teil der Schrift wegen seiner maßlosen Polemik gegen Schulze-Delitzsch; sie strotzt von den ärgsten Geschmacklosigkeiten und Rohheiten; zu einiger Entschuldigung gereicht Lassalle, dass er nicht zuerst den gehässigen, persönlichen Ton in den Streit mit seinem namhaftesten Gegner eingeführt hatte; noch in seinem „Antwortschreiben" hatte er den Verdiensten Schutzes warme Anerkennung gezollt.

Die zweite Haupttätigkeit Lassalles während des Winters 1863—1864 war sein Kampf mit den Behörden und Gerichten. Ihn im Einzelnen zu verfolgen, ist unmöglich und an sich auch ohne Interesse; Bernhard Becker führt nicht weniger als 55 Schriftstücke, Eingaben, Gesuche, Bescheide, Rekurse etc. auf, die in diesem Winter zwischen Lassalle und den allerverschiedensten Behörden gewechselt wurden. Dazu kamen die lokalen Verfolgungen seines Vereins, in die er überall mit Rat und Tat eingreifen musste. Verhaftet wurde er zwei mal; ein mal im Eldorado wegen Hochverrats; kurze Zeit darauf in der Potsdamerstraße am Arm der Gräfin Hatzfeldt auf Requisition des Düsseldorfer Instruktionsrichters. Bei dieser Gelegenheit schaffte er sich noch früher die Freiheit wieder, als jenes erste mal. In der Tat, wenn das preußische Ministerium die Agitation Lassalles erstarken lassen wollte, wie noch jüngst ein fortschrittlicher Redner im Abgeordnetenhause behauptete, so gingen seine Organe, die Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, sehr schlecht auf die Intentionen der leitenden Stelle ein. Verhängnisvoller noch als die polizeiliche Verfolgungswut der Konfliktszeit erwies sich für Lassalle sein herrisches, höhnisches, gereiztes Wesen, das ihm jeden Beamten, mit dem er zusammenstieß, unversöhnlich verfeindete. Er kämpfte wie mit einer Lernäischen Hydra; wenn er eine gerichtliche Prozedur ganz oder zum Teil unschädlich gemacht oder, wie er sich auszudrücken liebte, „mit der Schärfe des Schwertes vernichtet" hatte, erwuchsen ihm aus seinen Verteidigungsreden neue, nicht minder schwere Anklagen. So ging es ihm unter Anderem bei den drei größten und schwersten Kriminalprozessen, die er während seiner Agitation zu bestehen hatte. Der erste derselben ist bereits erwähnt; als seine Verteidigungsrede vom 16. Januar 1863: „Die Wissenschaft und die Arbeiter," im Drucke erschien, wurde sie sofort wieder unter Anklage gestellt. Den zweiten großen Prozess veranlasste die rheinische Heerschaurede; nach erfolgter Drucklegung verfiel sie in Düsseldorf der Beschlagnahme; obgleich sie die schärfsten Angriffe gegen die Fortschrittspartei richtete und dem Ministerium Bismarck wenigstens relative Lobsprüche spendete, wurde der Verfasser dennoch der Erregung von Hass und Verachtung gegen Anordnungen der Obrigkeit angeklagt. In erster Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, bewirkte Lassalle durch seine persönliche Verteidigung vor dem Appellgerichte die Herabsetzung der Strafe um die Hälfte, indes seine im Druck erschienene Verteidigungsrede wurde augenblicklich konfisziert und eine neue Anklage vorbereitet. Dasselbe Schicksal traf endlich die Verteidigungsrede in Lassalles Hochverratsprozess wegen der „Ansprache an die Arbeiter Berlins," in welchem er März 1864 von dem Staatsgerichtshofe völlig freigesprochen wurde; der Strafantrag des Staatsanwalts hatte auf drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gelautet. Aus diesem circulus vitiosus, in welchem jede Freisprechung oder Strafmilderung ein paar neue Anklagen hervorrief, gab es für Lassalles Natur kein Entrinnen; diesen unerschöpflichen Schwärmen gerichtlicher Prozeduren, von denen hier nur die hauptsächlichsten angedeutet sind, hätte er bei längerer Lebensdauer naturnotwendig erliegen müssen.

Von Allem aber das Aufreibendste und Schwerste hatte Lassalle während des letzten Winters seines Lebens im Schoße seines Vereins durchzukämpfen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.