Zweite Fortsetzung

Die Tage des Konflikts waren die Blütezeit des Vereinslebens. Kein Beruf, kein Stand, der sich nicht in Vereinen organisierte, die ihrerseits sich wieder zu „Kongressen", zu „Tagen" zusammenschlossen. Namentlich die deutschen Industriebezirke umspannte ein dichtes Netz von Arbeitervereinen, die wohl durchweg unter dem geistigen Einfluss der Fortschrittspartei standen. Unter ihnen Pflegte der Leipziger Verein mit besonderer Vorliebe die Idee eines allgemeinen Arbeiterkongresses, welcher über die Lage des Arbeiterstandes im Allgemeinen, so wie über Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Konsum-, Spar- und Rohstoffvereine etc. im Einzelnen beraten sollte. Es wurde zu diesem Behufe ein Zentralkomitee niedergesetzt, in welchem ein Schriftsteller Dammer und der Schuhmacher Vahlteich die ersten Rollen spielten. Seit dem Herbste von 1862 agitierte, deliberierte, korrespondierte man, indessen das Ding wollte nicht recht vom Flecke, und das war nicht eben zum Verwundern. Denn außer dem allgemeinen Entschluss, die soziale Frage zu lösen, wusste weder Dammer noch Vahlteich, noch sonst wer im Zentralkomitee, was er eigentlich wollte; eine dumpfe Missstimmung gegen Schulze-Delitzsch lag wohl dem Treiben zu Grunde, aber Niemand hatte einen positiven Gegenvorschlag zu machen. Da, im letzten Momente, als es schon in halber Auflösung begriffen war, wandte sich das Zentralkomitee Mitte Februar 1863 noch um Rat und Hilfe an Lothar Bucher, Rodbertus und Lassalle, auf den es durch seinen Arbeitervortrag aufmerksam geworden war.

Lassalle antwortete zuerst; schon am 1. März veröffentlichte er sein „Offenes Antwortschreiben", in welchem er das politisch-soziale Programm seiner Arbeiteragitation darlegte. Er entwickelte das sogenannte eherne Lohngesetz, nach welchem unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist, und er suchte ferner statistisch nachzuweisen, dass 89 bis 96 Prozent der Gesamtbevölkerung des preußischen Staates mehr oder minder unter dem Drucke jenes Gesetzes lebten. Hierauf gestützt, erklärte er die individuelle Selbsthülfe, die Spartheorie für völlig unzureichend und verlangte Staatskredit für Produktivassoziationen, welche nach und nach die gesummte Arbeiterwelt umfassen sollten. Nur so sei an eine wirkliche Hebung des vierten Standes in intellektueller, materieller und moralischer Beziehung zu denken, und als einziges, aber unfehlbares Mittel, auf friedlichem und gesetzlichem Wege dies Ziel zu erreichen, bezeichnete er das allgemeine gleiche Wahlrecht. „Dies ist das Zeichen," so schloss er, „das Sie aufpflanzen müssen. Dies ist das Zeichen, in dem Sie siegen werden. Es gibt kein anderes für Sie!"
Damit hatte Lassalle den Rubicon überschritten. Zwar gab er sich den Anschein, als wolle er auch jetzt noch nicht sich persönlich an der Agitation beteiligen, und er lehnte es anfangs ab, vor den Leipziger Arbeitern zu sprechen, aber er konnte damit weder sich noch Andere täuschen. Seine politische Stellung in Berlin war völlig unhaltbar, und er am wenigsten war der Mann, einen so schrillen Kampfschrei auszustoßen, ohne zu wissen, was er tat. Auch fehlte es ihm nicht an Warnungen; er selbst erzählt in einer späteren Rede, seine besten Freunde seien ihm erschrocken in den Arm gefallen, als er das „Antwortschreiben" habe veröffentlichen wollen; in engeren Kreisen will man wissen, dass die Briefe von Bucher und Ziegler noch existieren, in welchen ihm Beide mit prophetischer Schärfe sein Schicksal vorhersagen. Mit Ziegler beriet er über den Plan einer großen Arbeiterversicherungsgesellschaft; Ersterer arbeitete die Statuten aus und schrieb darüber am 22. Februar an Lassalle: „Sie sind nur ein Entwurf, aber ich warne doch, wesentlich mehr zu präzisieren. Bei allen Organisationen, die ich ins Leben gerufen habe, wenn ich mich auf einem noch nicht angebauten Felde bewegte, war das Leben immer reicher, als meine Voraussicht zu ergründen vermochte . . . Man muss die Entwicklung nicht beschränken, sondern derselben Tür und Tor öffnen. Ich habe z. B. nur 2 Pfennige Prämienbeitrag vom Verdienstthaler per Woche angesetzt, das ist bei 6 Thaler Wochenverdienst 1 Sgr. — 1/180 des Verdienstes — zirka 2 Arbeitstage per Jahr. Nehme ich an, dass in ganz Deutschland nur 200.000 Arbeiter zusammentreten, dass sie nur 15 Sgr. täglich, also 3 Thlr. die Woche verdienen, so würde die Einnahme von 2 Arbeitstagen jährlich 100.000 Thlr. betragen, womit sich schon etwas anfangen lässt. Wenn der französische Finanzminister auf die Steuer nur einige Zusatz-Centimes ausschreibt, so läuft das gleich in die Millionen. Ein einziger Arbeitstag, als Zusatzpfennig ausgeschrieben, deckt gleich 100.000 Thlr. bei 200.000 Arbeitern. Wüchse die Zahl der versicherten Arbeiter auf eine Million, was, wenn erst das Landvolk die Sache kapiert, wohl möglich ist, so ist das Institut so gesichert, wie keine andere Gesellschaft der Welt. Denn es gibt kein Kapital so sicher, so groß und gewaltig, als das, welches in den zehn Fingern der Arbeiter steckt." Der Plan zerschlug sich, aber diese Zahlen klangen in den Ohren Lassalles wie berauschende Musik, sie hallen in seinem Antwortschreiben wieder da, wo er zur Gründung eines Agitationsvereins auffordert, und als dieser Verein ins Leben trat, blieben die Zieglerschen Statuten im Wesentlichen für ihn maßgebend.


Kein Zweifel: wie spröde sich Lassalle noch nach außen geben mochte, in seiner Brust war sein Entschluss gefasst. Um sich aus einer unerträglichen Situation zu retten, griff er mit vollem Bewusstsein nach der Hand, die sich ihm aus Leipzig entgegenstreckte Dazu kam der Einfluss der Gräfin Hatzfeldt , die er noch kurz vor seinem Tode anklagte, ihn mit aller Gewalt in die Bewegung getrieben zu haben; auch mochte er sich schlimmen Illusionen hingeben über den Einfluss des Leipziger Zentralkomitees. Einen klaren Einblick in sein Inneres gewährt ein Brief, den er am 9. März an seinen Freund Lewy in Düsseldorf richtete. Es heißt darin über das „Antwortschreiben": „Das Ganze liest sich mit solcher Leichtigkeit, dass es dem Arbeiter sofort sein muss, als wüsste er das Jahre lang, und dass Niemand es ihm mehr rauben oder mit Trugschlüssen oder Sophismen beseitigen kann. Da die Schrift ohnehin in eine bereits bestehende praktische Bewegung fällt, so müsste sie wirken ungefähr wie die theses 1517 an der Wittenberger Schlosskirche." Dann kommt ein Moment der Sorge. „Der Arbeiterstand im Allgemeinen ist aber vielleicht noch nicht reif zur Klarheit, und ist dies der Fall, so bin ich allerdings ein toter Mann." Aber dieser Gedanke huscht nur wie eine flüchtige Wolke über den leuchtenden Himmel seiner Hoffnungen. Er fährt fort: „Mit dem Erfolg der Schrift steht und fällt nun auch die Frage nach dem Arbeiterverein, dessen Plan ich in der Schrift entrollt habe. Das Manifest soll ihn zu Stande bringen! Ein solcher Verein, wie Ich ihn daselbst geschildert: 100.000 Arbeiter in Deutschland umfassend, mit 150.000 Thalern jährlichen Agitationsmitteln und energisch geleitet — das wäre eine Macht!" So hoch flogen die ehrgeizigen Träume des Mannes, und wie herbe war die Enttäuschung!

Wohl erregte das „Antwortschreiben" ein mächtiges Aufsehen, aber die Phrase von der einmütigen Empörung der öffentlichen Meinung wurde hier einmal eine bittere Wahrheit. Zwar das Zentralkomitee nahm den Bescheid Lassalles zustimmend an und gab die Idee des Kongresses zu Gunsten des neu zu gründenden Vereins auf; in gleicher Weise entschied sich der Leipziger Arbeiterverein und auch in Hamburg, Köln, Solingen, Düsseldorf wurden spärliche Stimmen für Lassalle laut. Aber das war auch Alles. Im Übrigen erklärte sich durch ganz Deutschland Arbeiterverein für Arbeiterverein, ein Dutzend immer um das andere, in feierlicher Resolution gegen ihn; in Berlin konnte er öffentlich nicht mehr sprechen, ohne tumultuarisch unterbrochen zu werden; aus der Presse scholl nichts, als der lauteste und schärfste Protest. Nur ein größeres Blatt, die „Deutsche Allgemeine Zeitung" in Leipzig, druckte anfangs Lassalles Einsendungen ab, nicht weil ihr seine Agitation minder antipathisch gewesen wäre, sondern weil Brockhaus, bei dem das „System der erworbenen Rechte" erschienen war, einige persönliche Rücksichten nahm. In den Spalten dieses Organs veröffentlichte Lassalle im April den instruktiven Aufsatz „Die Französischen Nationalwerkstätten von 1848", um die Beschuldigung abzuwehren, als ob er jene verfehlten Experimente wieder aufwärmen wolle. Den Vorwurf, dass er ein bewusstes oder unbewusstes Werkzeug der Reaktion sei, durfte er einfach mit verächtlichem Lächeln erwidern; schwerer traf ihn die dritte Hauptwaffe, welche seine Gegner führten, die harten Angriffe, welche sie gegen die Wahrheit des Lohn-Gesetzes richteten. Er entschloss sich endlich, anderthalb Monate nach Veröffentlichung seines „Antwortschreibens" vor den Leipziger Arbeitern zu sprechen und jenen Fundamentalsatz seiner Lehre zu verteidigen. Seine Rede ist gedruckt unter dem Titel „Zur Arbeiterfrage"; sie besteht in der Hauptsache aus Zitaten über die wirtschaftliche Regelung des Arbeitslohnes, die den Werken von Sah, Ricardo, Smith, Stuart Mill, Roscher u. A. entnommen sind. Die Versammlung tagte unter dem Vorsitze von Vahlteich und zählte 1.300 Köpfe; sie erklärte sich mit allen gegen sieben Stimmen für Lassalle; es war der erste nennenswerte Erfolg seiner Agitation.

Viel war freilich damit noch nicht erreicht. Der jubelnde Zuruf einer Massenversammlung, welche unter der Herrschaft einer feurigen Beredsamkeit und eines mächtigen Willens steht, zerrinnt schneller als der flüchtige Schaum der Meereswelle. Lassalle vor Allen hat diese Erfahrung gemacht; sein glücklich-unglückliches Naturell wollte, dass er sich immer wieder mit gleicher Lust an diesem süßen Tranke berauschte. Ein kurzer Moment solchen Glücks, in welchem er sich als Herrscher fühlte über einige Tausend Menschenseelen, half ihm über Wochen voll bitterer Verstimmung. Die schmerzlichste Enttäuschung konnte ihm freilich auch diese trügerischen Sonnenblicke nicht weglächeln. Bei seiner ganzen Naturanlage musste ihn nichts tiefer niederschlagen, als die niederschmetternde Erfahrung, dass er wohl die Apathie der Massen momentan aufrütteln, aber auch nicht ein leises Echo aus den Kreisen der gebildeten und gelehrten Welt hervorrufen könne. Keiner bekannte sich zu ihm, wenigstens Keiner, der ihm ein wertvoller Bundesgenosse hätte sein können. Rodbertus hatte zwar in seinem Antwortschreiben an das Zentralkomitee das eherne Lohngesetz als unanfechtbar anerkannt, aber er warnte vor einer Organisation der Arbeiter als politischer Partei. Öffentlich trat er völlig aus der Bewegung zurück; in reger Korrespondenz hat er auch nachher mit Lassalle gestanden und, wie Rudolf Meyer, behauptet, der Einsicht in ihren Briefwechsel gehabt hat, einen sehr großen Einfluss auf ihn geübt. Lothar Bucher antwortete sehr spät; erst nach der Leipziger Rede Lassalles erklärte er sich bereit, im Leipziger Arbeiterverein einen Vortrag zu halten über die Frage: „Wie sich die Manchesterpartei zu dem Wesen jedes Staats und zu den Aufgaben der gegenwärtigen Staaten verhält." Es ist nicht dazu gekommen. Augenscheinlich hatte ein so klarer, logischer, umsichtiger Kopf wie Lothar Bucher kein Vertrauen in den Erfolg Lassalles. Jener Brief scheint mehr von persönlicher Freundschaft und natürlicher Sympathie für einen allseitig bekämpften Mann diktiert zu sein; darauf deuten wenigstens die Schlussworte: „Die Vorgänge in der gestern hier abgehaltenen Arbeiterversammlung, wo man Diejenigen, die Lassalles Argumente entwickeln wollten, mit dem Geschrei: „Haut ihn!" nicht zu Worte kommen ließ, und die Art und Weise, wie die so zu Stande gebrachte Abstimmung von einem Theile der hiesigen Presse verwertet wird, dieses von Berlin gegebene Beispiel, die Anwesenden zu terrorisieren und die Abwesenden zu täuschen, macht es doppelt geboten, Farbe zu zeigen. Ich verliere daher keine Zeit, meine Überzeugung auszusprechen, dass die Lehre der Manchesterschule: der Staat habe nur für die persönliche Sicherheit zu sorgen und alles Andere gehen zu lassen, vor der Wissenschaft, vor der Geschichte und vor der Praxis nicht besteht." Für die halbe und laue Unterstützung von Männern wie Rodbertus und Bucher konnte es Lassalle nichts weniger als ein Ersatz sein, dass sich anlässlich seiner Leipziger Rede Professor Wuttke in nichtssagender und unklarer Weise für ihn erklärte und dann die Dinge gehen ließ, wie sie eben gehen mochten.

In Nachwirkung seines Leipziger Erfolges war Lassalle der Gründung eines großen Agitationsvereins zur Erkämpfung des allgemeinen gleichen Wahlrechts einen Schritt näher getreten; er hatte die Statuten drucken lassen und nach allen Gegenden Deutschlands versandt. Noch aber schwankte er; ununterbrochen, Schlag auf Schlag erklärten sich die Arbeitervereine gegen ihn. Da erhaschte er wieder einen halben Silberblick des Erfolges, Bernhard Becker, der zu seinen frühesten Anhängern zählte, hatte den Arbeiterbildungsverein zu Frankfurt a. M. fast ganz zu der neuen Lehre hinübergezogen; als im April 1863 der Verband der Arbeitervereine des Maingaues zu Rödelheim tagte und namentlich auf Andringen von Leopold Sonnemann das übliche Vehmgericht über Lassalle abgehalten werden sollte, wurde diese Zumutung abgelehnt, dagegen der Beschluss gefasst, Lassalle und Schulze-Delitzsch zum 17. Mai auf den Arbeitertag zu Frankfurt a. M. zu laden. Dort sollten sie in öffentlicher Wechselrede um den Sieg kämpfen. Schulze lehnte wegen seiner parlamentarischen Geschäfte ab; Lassalle kam und hielt an zwei Abenden die große Rede, welche unter dem Titel „Arbeiterlesebuch" gedruckt ist. Dieselbe entwickelte neben einer heftigen Polemik gegen die Fortschrittspartei nochmals in breiteren und tieferen Zügen den Inhalt des „Antwortschreibens"; hier sprach Lassalle das vielberufene Wort von der Hundertmillionenanleihe, die vorläufig genügen werde, die organische Entwicklung des nationalen Systems der Produktivassoziationen zu sichern; in seinen Schlussworten deutete er verständlich an, dass er, wenn sich die Versammlung gegen ihn entscheide, verzweifelnd an der trägen Schwerfälligkeit der Massen und vor Wissenschaft und Nachwelt gedeckt durch seine Schriften, sich ins Privatleben zurückziehen werde. Diesmal blieb ihm der Erfolg treu. 40—60 Personen verließen unter Hochrufen auf Schulze den Saal; 400 Arbeiter erklärten sich für Lasalle, und einen gleichen Sieg feierte er den Tag darauf in Mainz. Wieder übte der laute Jubel der Menge den berückenden Zauber auf seine Seele aus; voll neuer Entwürfe und Hoffnungen eilte er nach Leipzig.

Dort wurde am 23. Mai der allgemeine deutsche Arbeiterverein in Gegenwart von etwa 600 Arbeitern *) gegründet. Vertreten waren elf Städte: Hamburg, Harburg, Köln, Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und Frankfurt a. M. Die Statuten bezeichnen als einzigen Zweck des Vereins das friedliche und gesetzliche Wirken für Herstellung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts. Sonst enthielten sie etwa Folgendes: Der Vorstand besteht aus dem Präsidenten und 24 über ganz Deutschland verstreuten Mitgliedern. Ihre Wahl erfolgt auf der Generalversammlung, die jährlich einmal stattfindet. Das Eintrittsgeld beträgt 2 Sgr., der wöchentliche Beitrag 6 Pf. Der Präsident wird das erste Mal auf fünf Jahre gewählt, später auf ein Jahr.

*) Es sei gleich hier bemerkt, dass die statistischen Angaben in dieser Darstellung, so weit sie nicht Reichstagsakten etc. entnommen sind, selbstverständlich nur auch die relative Richtigkeit Anspruch erheben können, welche ihnen die sozialistischen Quellen anweisen.

Wenn er es für dringlich hält, so kann er, vorbehaltlich der in drei Monaten einzuholenden Genehmigung des Vorstandes, alle Anordnungen treffen. Der Präsident setzt Generalversammlungen und Vorstandsberatungen, so wie den Ort derselben an. Er ernennt in Behinderungsfällen einen Vizepräsidenten. Der Kassierer hat auf jede Anweisung des Präsidenten Zahlung zu leisten, während der letztere von jeder Kontrolle über das Rechnungswesen ausgeschlossen ist. Zweigvereine dürfen nicht gebildet werden; für alle Städte, in denen der Verein Mitglieder hat, ernennt der Präsident Bevollmächtigte. Die Dauer des Vereins wird auf dreißig Jahre festgesetzt. Dies die wesentlichen Bestimmungen. Es ist klar, dass sie in die Hand des Präsidenten eine nahezu diktatorische Gewalt legen; ein brauchbareres und schärferes Schwert konnte sich Lassalle nicht schmieden. Es gab denn auch bei Beratung der Statuten etwelche demokratische Bedenken, namentlich die erstmalige Wahl des Präsidenten auf fünf Jahre wollte man mindestens auf drei Jahre beschränken; schließlich fügte man sich aus Furcht, Lassalle möchte sonst die Annahme des Präsidiums verweigern. Wie Bernhard Becker erzählt, hörte er den Debatten über seine Wahl finster schweigend, bedeckten Hauptes und mit verschränkten Armen zu. Noch hatte er in zwölfter Stunde geschwankt und wieder nur dem Drängen der Gräfin Hatzfeldt nachgegeben. Er mochte fühlen, dass in dieser Stunde die Würfel über seine künftigen Geschicke unwiderruflich geworfen würden.

Was er plante, war nichts Kleines; er wollte die großen Zahlen, die ihm unablässig vor den Augen flirrten, im Sturme erobern; als Vorbild schwebte ihm die Agitation Richard Cobdens gegen die Kornzölle vor; gern zitierte er in seinen Reden, namentlich vor Gericht, diese Bewegung als das klassische Ideal einer eben so gewaltigen und tiefen, wie friedlichen und gesetzlichen Agitation. Er rechnete für das erste Jahr auf den Beitritt von hunderttausend Arbeitern. Mit Entzücken sprach er von einer nahen Zukunft, in
welcher er an der Spitze von 20 Arbeiterdeputierten im Abgeordnetenhause die vorwärts treibende Opposition bilden würde. Er, der auf dem Wege historisch-philosophischer Betrachtung den Gang der europäischen Entwicklung bis in seine geheimsten Falten zu erspähen vermochte, sah nicht die einfachsten Dinge, die um ihn her vorgingen; nicht zehn Personen von Fleisch und Blut kamen auf je tausend Anhänger, mit denen seine Phantasie rechnete; er war in Allem, wobei seine Person ins Spiel kam, voll kindlichster Illusionen. Als er den Verein gründete, konnte er in den Städten, welche bei der Gründung vertreten waren, Alles in Allem auf wenige Hundert wirklicher, d. h. zahlender Vereinsmitglieder rechnen. Wenn er auch noch an anderen Orten Bevollmächtigte ernannte, so war das ein Privatvergnügen ohne praktischen Zweck, denn dieselben blieben Kompaniechefs ohne auch nur einen Rekruten.
Die empfindlichste Lücke in der Rüstung Lassalles war der Mangel an jeder publizistischen Vertretung. Einzelne Organe erklärten sich jetzt ganz oder teilweise für ihn; das Hamburger Wochenblatt „Nordstern", der Leipziger „Zeitgeist", der Frankfurter „Volksfreund", der „Gradaus" in Esslingen, endlich die „Fränkische Volkszeitung" in Nürnberg und die „Schwäbische Volkszeitung" in Stuttgart, aber es waren durchweg Winkelblättchen von wenigen Abonnenten, und die meisten trugen den hippokratischen Zug; bei mehr als einem förderte die Hoffnung auf pekuniäre Unterstützung die Bekehrung zu der neuen Lehre. Einen gewissen Ersatz boten die Agitationsschriften Lassalles, die massenhaft vertrieben wurden. Sie erfuhren um diese Zeit einige Vermehrung. Seiner Verteidigungsrede vom 16. Januar ließ Lassalle zwei weitere Hefte folgen unter dem Titel: „Die Wissenschaft und die Arbeiter II., III."; das erste schilderte den, wie erwähnt, höchst dramatischen Verlauf der gerichtlichen Verhandlung, das zweite gab als Appellationsrechtfertigung eine vernichtende Kritik des erstinstanzlichen Urteils. Als viertes Glied in diesen Zyklus reiht sich die große Rede „Indirekte Steuern", die Lassalle in der Appellationsinstanz vor dem Kammergerichte hielt. Es gelang ihm, die viermonatliche Gefängnishaft in eine Geldstrafe zu mildern. In jenen vier Heften und dem ersten Arbeitervortrage, durch dessen gerichtliche Verfolgung sie veranlasst wurden, ist das Gediegenste und Reifste von Lassalles Agitationsschriften enthalten. Hier kämpft er noch mit einer Beredsamkeit, die weder vor- noch nachher vor den Schranken preußischer Gerichte erhört worden ist, mit Waffen, die dreimal im Feuer der Wissenschaft gehärtet sind, einen gerechten und guten Kampf; was in seinen sonstigen Agitationsschriften peinlich und störend ist, die maßlose Polemik, die unerträgliche Eitelkeit, fehlt hier noch ganz oder ist nur erst in schwachen Anfängen vorhanden. Sonst wurden noch als Vereinsschriften verbreitet der „Offene Brief" von Rodbertus an das Leipziger Zentralkomitee, „Lassalle und seine Verkleinerer" von Bernhard Becker, „Das Recht auf Arbeit" von dem alten Sozialisten Moses Heß. Die Poesie war vertreten durch Herweghs Bundeslied, „Bet' und arbeit' ruft die Welt", das der bekannte Zukunftsmusiker Hans v. Bülow unter dem Pseudonym „Solinger" komponierte, ferner durch den sozialen Roman „Lucinde", den der Frankfurter Advokat Jean Baptiste v. Schweitzer Lassalle gewidmet hatte. Lassalle war über diese poetischen Produktionen in seiner Weise hoch begeistert. Das Lied, das für den Preis von 6 Pf. vertrieben wurde, nannte er ein nimmer sich erschöpfendes Ölfläschchen für die von Anfang an zerrütteten Finanzen des Vereins; über den Schweitzer'schen Roman schrieb er an Bernhard Becker: „Der soziale Roman ist ein gewaltiges Propagandamittel; Eugen Sue hat in Frankreich den gewaltigsten Nutzen gehabt."

Mehr noch als die Dichtungen selbst erfreute Lassalle wohl der Zutritt dieser gebildeten und zum Teil bekannten Männer zu seinem Verein. Als der Rechtsanwalt Martiny zu Kaukehmen und Herwegh in Zürich sich bereit erklärten, ein Bevollmächtigtenamt zu übernehmen, schuf er sofort eine neue Würde und ernannte Beide zu Generalbevollmächtigten, den Einen für die Provinz Preußen, den Andern für die Schweiz. Beide haben nicht den kleinen Finger für den Verein gerührt, nicht einen einzigen Anhänger geworben. Herwegh, einer der trägsten Menschen, die je gelebt haben, schadete direkt. Als am 20. Juli 1863 in Zürich die Delegierten von 36 Arbeitervereinen der Schweiz tagten, schickte das Komitee auch eine Einladung an Lassalle; dieser beauftragte Herwegh mit seiner Vertretung, aber der also Ausgezeichnete ließ sich in der Versammlung nicht sehen. Die einfache Folge war, dass der Arbeitertag auf einen bissigen Vortrag Leopold Sonnemanns hin sich scharf gegen Lassalle erklärte. Dieser ward sehr zornig und beauftragte den Frankfurter Bevollmächtigten seines Vereins, dafür zu sorgen, dass Leopold Sonnemann wegen der tiefen Unwahrhaftigkeit seines Wesens aus dem Arbeiterbildungsverein zu Frankfurt hinausgetan werde. Der Versuch scheiterte an zwei Stimmen Majorität. Auch nach London wandte sich Lassalle an Freiligrath, erhielt aber keine Antwort. Dagegen erklärte sich der Londoner Arbeiterbildungsverein für ihn, was ihn mehr peinigte als erfreute. „Nichts ist schwieriger und verwickelter, als das Londoner Terrain," schreibt er an den Vereinssekretär. Er war in Sorge, wie er zu seinem alten Freunde Marx stand. Noch 1862 hatte er ihn in London besucht; seit Beginn seiner Agitation war eine stillschweigende Entfremdung zwischen ihnen eingetreten. Die nationale Richtung und die monarchische Organisation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins mussten dem kosmopolitischen Republikaner Marx zuwider sein. Zu einem offenen Konflikte ist es indes nicht gekommen: erst nach dem Tode Lassalles versetzte ihm Marx in dem ersten Bande des „Kapitals" einen schnöden Fußtritt.

Im Allgemeinen war es ein erfolgloses Streben Lassalles, Vertreter des besitzenden und gebildeten Bürgertums, Repräsentanten der Wissenschaft in die Reihen seines Vereins hinüberzuziehen, und wo es etwa gelang, war es seinen Interessen eher schädlich als nützlich. Einigermaßen entschuldigt wird es durch den qualvollen Kampf mit der Halbbildung, den er im Innern des Vereins zu führen hatte. Unter den Vorstandsmitgliedern war nur ein Mann von Bildung und Wissen, Kaufmann Lewy zu Düsseldorf, der Vereinskassierer; Vereinssekretär war Vahlteich, ein Prototyp jener anmaßenden und unfähigen Halbbildung, die am wenigsten einen einfachen und großen Gedanken aufzufassen versteht. Weder Vahlteich, noch die meisten Bevollmächtigten verstanden Lassalles Taktik; sie wollten das Dasein des Vereins durch große Heldentaten der staunenden Welt verkünden; der Eine projektierte eine Unterstützungskasse für fechtende Handwerksburschen, der Andere wollte gesellige Vergnügungen in großem Stile arrangieren, der Dritte gar begann „Freiwilligenchöre" zu organisieren behufs Befreiung von Schleswig-Holstein, von Polen oder sonst einem verlassenen Menschenbruderstamme. In diesem Kampfe mit dem unendlich Kleinen zeigt sich Lassalle von einer guten Seite. Der heftige, hochfahrende Mann wird nicht müde, aufzuklären, zu beruhigen, zu belehren. Manchmal höchstens, wenn er Dutzende von Argumenten entwickelt hat und doch instinktiv fühlt, dass er einen Kampf kämpft, in dem selbst Götter unterliegen, ruft er verzweifelt aus: „Sollten Sie noch nicht überzeugt sein, Lieber, so rufe ich die Disziplin an: es muss eben ein Wille sein!" So vergingen die ersten Tage und Wochen des Vereins: der Präsident in Berlin und der Sekretär in Leipzig, wo der Sitz des Vereins war, schickten nach allen Himmelsrichtungen Briefe, Broschüren, Zirkulare, Statuten; es blieb ein Schöpfen in das Fass der Danaiden. Namentlich in Süddeutschland war gar keine Propaganda zu machen. Die meisten Sendungen blieben unerwidert; wenn einmal eine Antwort eintraf, war sie ablehnend oder der neue Erwerb erwies sich als das alleruntauglichste Material für Lassalles Pläne, Querköpfe, die bei allen anderen Parteien abgefallen waren und ihr Entree mit schrullenhaften Reformplänen feierten, dieser alte Fluch jeder neuen Parteibildung. Ein Glück noch für Lassalle, dass die gegnerische Presse seine Erfolge überschätzte; sie taxierte die Mitgliederzahl seines Vereins auf 10- bis 15.000 Mann.

Der erste Monat war vergangen und so viel hatte Lassalle schließlich erreicht, dass Freund und Feind gespannt der Dinge harrten, die da kommen sollten. Da am 27. Juni erschien in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" eine Proklamation, in welcher Lassalle urbi et orbi verkündete, dass er auf mehrere Monate in die Bäder reise und den Schriftsteller Dammer in Leipzig zum stellvertretenden Präsidenten ernannt habe. Der Hohn und Spott, der auf ihn herabregnete, war grenzenlos und nur zu verdient. Mochte auch hier der unselige Einfluss der Gräfin Hatzfeldt tätig gewesen sein, dennoch zeigte sich in hässlicher Weise, wie hoch Lassalle seine Person über der Sache stand, die er so oft als die heiligste und wichtigste aller nationalen Kulturfragen hingestellt hatte. Dies vorläufige Preisgeben einer Bewegung, bei der es für ihn nur zwei ehrenvolle Ziele geben konnte: gänzlichen Sieg oder gänzlichen Untergang, war einfach unverantwortlich für einen Reformer von seinen großen Plänen und noch größeren Worten. Der so handeln konnte, mochte Alles sein, ein Richard Cobden war er nicht. Indes Lassalle ließ den Lärm über sich ergehen; er ging nach Tarasp, dann nach Samanden, endlich nach Ostende; erst Mitte September rüstete er sich zur Heimkehr.

Während dieser Zeit arbeiteten Dammer und Vahlteich nach besten Kräften an der Ausbreitung des Vereins, aber ihr Erfolg war nunmehr vollends gleich Null. Im August, ein Vierteljahr nach seiner Gründung, zählte der Verein auf dem Papiere in Hamburg und Harburg 230, in Frankfurt 67, in Leipzig 150, in Dresden 12, in Köln 32, in Elberfeld 223, in Düsseldorf 70, in Solingen 74, in Berlin 20, Alles in Allem 900—1.000 Mitglieder. Die großen Zahlen Lassalles hatten sich als eben so große Irrlichter erwiesen.

Seine allmähliche Enttäuschung spiegelt sich charakteristisch in seinen Briefen an Vahlteich. Kurz vor seiner Abreise in die Bäder, am 25. Juni, schreibt er voll banger Ahnung: „Wir können nur durch große Massen marschieren. Eine Massenbewegung mit Nationalvereinszahlen wäre lächerlich. Wir müssen also sieben mal mehr haben als die Nationalvereinler. Sonst haben wir einen lächerlichen Schiffbruch erlitten." Dann weiter am 18. Juli: „Täuschen wir uns nicht! Wenn die Agitation nicht die Massen, nicht den Arbeiterstand erfasst, ist sie trotz alledem verloren. Wenn wir nicht spätestens nach Ablauf eines Jahres große Zahlen auflegen können, sind wir ganz ohnmächtig, wie viel ideelle Siege wir auch noch erfechten möchten!" Am 25. Juli: „Wenn die Arbeiter so sind, wie Sie sie schildern, so werden wir uns trotz aller meiner Anstrengungen blamieren. Das steht fest." Endlich am 29. August: „Also zirka 1.000 Mitglieder in unserem Verein! Das sind vorläufig die Früchte unserer Tätigkeit! Nicht wahr, lieber Vahlteich, diese Apathie der Massen ist zum Verzweifeln! Solche Apathie bei einer Bewegung, die rein für sie, rein in ihrem Interesse stattfindet, und bei den in geistiger Beziehung immensen Agitationsmitteln, die schon aufgewendet worden sind, und die bei einem Volke, wie dem französischen, schon Riesenresultate gehabt haben würden! Wann wird dieses stumpfe Volk endlich seine Lethargie abschütteln!" Vahlteich rät zur Auflösung des Vereins, aber Lassalle erwidert: „Ganz unmöglich. Dazu ist die Zeit, die verflossen, viel zu kurz. Dann wäre die Schande für unsere Nation und Partei viel zu groß. Man müsste sich ja die Augen aus dem Kopfe schämen. Da will ich mich noch drei mal in die Länge und in die Breite legen. Nur Much!"

So gab sich Lassalle noch nicht gefangen; er sann auf neue Mittel, den Verein zu heben; er wollte auf heimischem Boden zunächst debutieren mit einer, wie er es nannte, „Heerschau" über die rheinischen Arbeiter, unter denen er seine anhänglichsten, intelligentesten und tüchtigsten Jünger zählte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.