Zehnte Fortsetzung

Noch hoffte Schweitzer, das Beginnen seiner kommunistischen Gegner hindern zu können; er beschickte den Eisenacher Kongress, der zur festgesetzten Zeit stattfand, durch Delegierte seines Vereins, aber sie vermochten die Versammlung nur zu sprengen, nicht sie in das gewünschte Fahrwasser zu leiten. Die Internationalen oder, wie sie sich im Unterschiede von den „Regierungssozialisten" nannten und bald auch von diesen selbst spottweise genannt wurden, die „Ehrlichen", konstituierten sich in einem anderen Lokale und brachten glücklich die Bildung der neuen Partei zu Stande.

Es waren noch immer sehr disparate und wunderliche Elemente, die da zusammenrannen, und so war es nicht eben zu verwundern, dass sie kein allzu harmonisches Werk zu Stande brachten. Den eigentlichen Stock bildete der Arbeiterverband Bebels, der am Tage vor dem sozialdemokratischen Kongresse seine letzte Versammlung hielt und sich dann zu Gunsten desselben auflöste; er umfasste 10.000 Arbeiter. Dazu kamen die abgefallenen Mitglieder des allgemeinen deutschen Arbeitervereins; an Zahl gering, konnten sie bei den Abstimmungen kein entscheidendes Gewicht in die Waagschale werfen, aber aus naheliegenden Gründen waren sie besonders penibel zu behandeln und erheischten große Rück- und Vorsicht. Stärker als die preußischen waren die österreichischen und schweizerischen Arbeiter vertreten; Liebknecht fungierte als Mandatar von sechstausend Wiener Schneidern und im Präsidium saßen der Österreicher Oberwinder und der Schweizer Quick. Natürlich machten sich großdeutsch-partikularistische Tendenzen gewaltig breit und auch die Volkspartei rührte noch immer mit in dem Brei herum; selbst Ladendorf wohnte dem Kongresse bei in der kindlichen Hoffnung, den entstehenden Kommunismus als bequemes und nach dem Siege leicht zu beseitigendes Werkzeug zur Verwirklichung seines glühenden Lebenstraumes, der deutschen Republik, benutzen zu können. Alles in Allem vertraten die 262 Delegierten angeblich gegen 150.000 Arbeiter.


Das Eisenacher Programm ist eine äußerliche Zusammenkoppelung des Chemnitzer und des Nürnberger Programms, der volksparteilichen und der kommunistischen Prinzipien. Es spricht zunächst die bekannten Grundsätze der Internationalen aus und spezifiziert dann als „nächste Forderungen" zehn Punkte vorwiegend politischen Inhalts, als da sind: allgemeines Wahlrecht an alle Männer (wohlgemerkt noch nicht Menschen!) vom 20. Jahre ab in Staat und Gemeinde, direkte Gesetzgebung durch das Volk; Volkswehr; unentgeltlicher Unterricht etc. An sozialistische Forderungen klingen an: Einführung des Normalarbeitstages; Einschränkung der Frauen-und Verbot der Kinderarbeit; Abschaffung aller indirekten Steuern zu Gunsten einer einzigen, direkten progressiven Einkommen- und Erbschaftssteuer; endlich — ein Köder für die Anhänger Schweitzers — staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien. Liebknecht war sich vollkommen bewusst, dass auch dies Programm nur ein Provisorium sein konnte und sein sollte, ober — so tröstete er sich in einem vertraulichen Schreiben an Bonhorst — „in unserem Programm stecken die letzten Konsequenzen des Kommunismus."

Die Organisation der „sozialdemokratischen Arbeiterpartei" war grundverschieden von derjenigen, welche Lassalle seinem Vereine gegeben hatte. Allerdings mehr in der äußeren Form als im inneren Wesen, denn im letzten Grunde waren Marx und Liebknecht nicht minder Diktatoren, wie nur je Lassalle und Schweitzer. Für die Leitung der Partei wurden mehre Organe geschaffen, die sich gegenseitig kontrollieren und im Gleichgewichte halten sollten. Zunächst die Parteizeitung, zu welcher das „demokratische Wochenblatt" unter dem Titel „Volksstaat" avancierte; sie sollte ihren ständigen Sitz in Leipzig und Liebknecht zum Redakteur haben. Weiter sollte an einem anderen Orte ein Ausschuss die laufende Verwaltung erledigen und die prinzipielle Haltung des Blattes überwachen; über dem Ausschuss stand, wieder an einem anderen Orte, die Kontrollkommission, als letzte Instanz fungierte der Parteikongress. Diese drei Gewalten erneuerten sich von Jahr zu Jahr; so war es natürlich, dass der Schwerpunkt der Partei mehr und mehr dahin fiel, wo das einzig Bleibende im Wechsel war, in die Redaktion des Parteiorgans, d. h. in die Hände von Liebknecht oder noch genauer von Marx, der bei dieser anscheinenden Dezentralisation die leitenden Fäden viel bequemer und viel sicherer hielt. Dabei war einerseits das demokratische Prinzip aufs Trefflichste gewahrt und anderseits verpufften die ehrgeizigen Nörgeleien der „Aristokraten", und „Intelligenzen" viel harmloser und unschädlicher.

Namentlich in letzterer Beziehung erwies sich die Notwendigkeit dieser Organisation noch schärfer und bewährte sich noch trefflicher, als in ersterer. Der beste Inhalt von Lassalles sozialistischer Theorie war jener ideale Traum gewesen von dem welterlösenden Bündnisse der höchsten Wissenschaft mit der elementaren Kraft der arbeitenden Klassen; die kommunistische Bewegung hat sich ganz im Gegenteile vorzugsweise rekrutiert aus jenen unerquicklichen Schichten unseres nationalen Lebens, die mitten inne liegen zwischen dem klaren Denken der gebildeten Minderheit und dem gesunden Menschenverstande der großen Masse; aus jenen Kreisen der Halbbildung, welche die hässlichste Kehrseite jeder hochgesteigerten Kultur ist. Auch an Lassalle hatten sich diese Elemente reichlich herangedrängt, aber er hatte sie immer noch, wenn auch mit großer Mühe, gebändigt und an Vahlteich ein strenges Exempel statuiert; von Schweitzer waren sie abgefallen, als es ihnen misslang, die Autokratie des Geistes zu verdrängen durch die Oligarchie der Phrase. Andererseits war ihnen die knochenlose Gallerte jener „Volkspartei", in welche Liebknecht anfangs das kommunistische Gift einkapselte, immer ein bequemer Unterschlupf gewesen. In diesen vernebelnden Schwarmgeistern fand dann der Kommunismus seine besten Bahnbrecher und Pioniere. Auf dem Eisenacher Kongresse tauchten sie zahlreich auf, die Geib, Motteler, Walster, und sie haben sich dann in wuchernder Fülle vermehrt; Charaktere und Geister, einer wie der andere, von dem obersten Phrasenwellenschlage unserer geistigen Entwicklung flach und platt gespült, wie die Kiesel am Meeresstrande. Sie vor Allem haben der ganzen Bewegung jene aschgraue Einförmigkeit der tätlichsten Langeweile gegeben, welche ihr genaueres Studium zu einer so unerträglichen Marter macht, aber ihr freilich dadurch auch eine um so ungestörtere Entwicklung gesichert hat. Dorfschulmeister, Kaufmannsgehilfen, Advokatenschreiber, Leihbibliothekare — das sind die Stände, aus denen sie sich rekrutieren; ihr unveräußerlichstes Erbteil ist der gänzliche Mangel an jeder geistigen und sittlichen Disziplin. Man lese nur einmal die Broschüre: „Unsere Schulen im Dienste wider die Freiheit", die irgend einer dieser Obskuren herausgegeben hat! Niemals hat in der deutschen Literatur die banausische Frechheit schamloser Halbbildung ihr Banner unverfrorener entfaltet. Da werden unsere Gymnasien und Hochschulen geschildert als die Urquellen einer geistigen Pest; da wird die Kenntnis der alten Sprachen verflucht als die tödlichste Aqua toffana mit welcher die Bourgeoisie und die Reaktion das Volk vergifte. Das packendste argumentum ad hominem ist dann freilich, dass der Verfasser Charakter und Geist nur deshalb in ungetrübter Reinheit bewahrt hat, weil sie nie von dem leisesten Hauche jenes Giftes befleckt worden sind.

Für solche Elemente öffneten sich in der kommunistischen Partei die Pforten aller sieben Himmel. Hier war selbst die letzte Schranke dissoluter Geister, die Anhänglichkeit an das Vaterland, gefallen; in einem ungeheuren Nichts schwebten diese Seifenblasen von Menschen, ungehindert und ungestört von jedem Erdenreste. Es war denn auch charakteristisch, dass die formelle Leitung der Partei, obgleich sie eine Arbeiterpartei par excellence sein sollte, „Intelligenzen" anheimfiel. Die Kontrollkommission wurde nach Hamburg verlegt, wo der Leihbibliothekar Geib an ihre Spitze trat; der Ausschuss kam nach Braunschweig-Wolfenbüttel. Zu seinen Hauptmitgliedern gehörten der Techniker v. Bonhorst, ein „Verrungenierer" à la Heinzen und der jüdische Lehrer Spier, der erste jener talmudistischen Spintisierer, die, wie beispielsweise die jüdischen Theologen Karl Hirsch und Adolf Hepner, eine nicht unbedeutende Rolle in der Partei gespielt haben. Bedeutender und einflussreicher noch wie Bonhorst und Spier, war der Kaufmann Wilhelm Bracke, ein Schwarmgeist edlerer Art; ein begabter, wenn auch unklarer Kopf, ein ehrliches Gemüt, eine reine Seele. Er steht schon seit 1865 in der Bewegung und ist im Herzogtum Braunschweig ihr eigentlicher Schöpfer gewesen Er hat immer eine etwas vornehmere Sonderstellung unter seinen Genossen bewahrt und wohl nur die unausgesetzten Opfer, die er seiner Überzeugung gebracht hat, haben ihn jeweilig vor dem Schicksale der „Verräter" bewahrt. Wie Bebels, so ist auch Brackes Charakter unter dem wirrseligen Einfluss einer zehnjährigen Agitation wilder und wüster geworden, aber an sich gehört er zu den edelsten und lautersten Gestalten der Bewegung. Es gibt kaum eine Scene in der Geschichte der Partei, welche menschlich mehr anmutete, als da im Braunschweiger Prozess der siebzigjährige Professor Aßmann vom Collegium Carolinum als Entlastungszeuge auftrat und über Bracke aussagte: „Er war einer meiner besten Schüler und zeichnete sich aus durch großen Eifer, seltene Begabung und gründliches Studieren. Ich bin fest überzeugt, dass er bei seinen Bestrebungen keine eigennützigen oder selbstsüchtigen Zwecke verfolgt; er meint es wohl mit den Arbeitern." Kurz nach Konstituierung des Ausschusses kam Marx nach Deutschland hinüber; er fand die Trias Bonhorst, Spier, Bracke seinen Zwecken vollkommen entsprechend und ließ ihnen später durch Liebknecht sein gnädiges Wohlgefallen ausdrücken.

Eine Hauptmachenschaft des Eisenacher Kongresses war endlich, die Stellung der Partei zur Internationalen zu fixieren. Die deutschen Vereinsgesetze gestatteten keinen unmittelbaren Anschluss; so einigte man sich dahin, dass jedes Mitglied moralisch verpflichtet sei, auch, Mitglied der Internationalen zu werden, und dass im Übrigen die Partei sich geistig möglichst eng an die Tendenzen des großen Bundes anschließen solle. Der erste Beschluss ist im Wesentlichen resultatlos geblieben; Bebel hat gelegentlich konstatiert, dass nicht tausend seiner Parteigenossen Mitgliedskarten der Internationalen gelöst hätten, und das ist wahrscheinlich vollkommen richtig. Dagegen ist der zweite Teil jener Resolution durchaus befolgt worden; schon von Eisenach aus deputierte man Liebknecht und Spier zu dem Kongress der Internationalen, der im Herbste 1869 zu Basel stattfand. Auf dieser Versammlung wurden gegen den heftigen Widerspruch der französischen Mitglieder die bekannten Beschlüsse gefasst, welche das Erbrecht und das Privateigentum an Grund und Boden für unzulässig erklärten. Nunmehr dämmerte endlich der Volkspartei, der fürnehmsten Patin des deutschen Kommunismus, ein fatales Licht auf, allein es war zu spät. Liebknecht versuchte anfangs noch, zu vermitteln. Er schrieb Oktober 1869 an Bornhorst: „Mein Wunsch ist, nicht vorzeitig mit der süddeutschen Volkspartei in Krakehl zu geraten. Von Gera nach Nürnberg, von Nürnberg nach Eisenach ist schon ein rascher Vormarsch. Wartet noch ein wenig, dann sind die Leutchen schon im Stande, nach Basel zu marschieren. Aber jetzt noch nicht." Allein schon einen Monat später schrieb er an Bracke: „Die Volksparteiler verlangen ein Desaveu der Baseler Beschlüsse. Nimmermehr! Ich selbst bin Kommunist, also prinzipiell mit den Beschlüssen einverstanden, bedauere aber aus praktischen Gründen, dass sie in dieser Form gefasst worden sind. Die Grundeigentumsfrage kann den Bauern nur nach und nach klar gemacht werden. Die Franzosen wussten, was sie taten, als sie auf dem Baseler Kongress gegen die Abstimmung protestieren. Wir brauchen die Bauern nicht, um eine Revolution zu machen, aber keine Revolution kann sich halten, wenn die Bauern dagegen sind." Wieder einige Monate später, und Liebknecht veröffentlichte seine Broschüre über die Grund- und Bodenfrage, in welcher er mit rückhaltloser Begeisterung für das Prinzip der Baseler Beschlüsse eintritt. Nicht gar lange nachher schrieb der „Volksstaat" der Volkspartei klipp und klar den Absagebrief: „Wir haben allerdings kein Bedürfnis, mit Bourgeois Hand in Hand zu gehen, die mit demokratischen Phrasen um sich werfen, mitunter auch in Milch- und Wassersozialismus machen, aber im Grunde für die Beibehaltung der heutigen Klassenherrschaft sind und daher jedem ernsthaften Versuche zur Lösung der sozialen Frage feindlich, ja gehässig entgegentreten." Dank vom Haus Österreich!

Die glücklich gelungene Organisation des internationalen Kommunismus übte doch einen gewissen Rückschlag auf die Stellung von Schweitzer aus; die Konkurrenz zwang ihn, weiter zu gehen, als sich eigentlich mit seiner besonnenen und praktischen Natur vertrug; als Liebknecht zögerte, die Baseler Beschlüsse sans phrase anzunehmen, erklärte Schweitzer seinerseits Jeden der an ihrer Richtigkeit zweifle, für einen Verräter der Arbeitersache. Zudem musste er bald nach Gelingen seines Staatsstreichs eine mehrmonatliche Gefängnisstrafe antreten; so konnte er anfangs nicht die errungenen Erfolge vollkommen ausnutzen. Die weibliche Linie löste sich bald wieder von ihm los, um dann, Gott sei Dank! endlich eines langsamen Todes zu verbleichen. Auch die bairischen Mitglieder des allgemeinen deutschen Arbeitervereins fielen ab und konstituierten sich zu einer eigenen Partei mit dem „Proletarier" zu Augsburg als Organ; nach einem Jahre schon schlössen sie sich an Liebknecht an. Indes alle diese Unfälle erschütterten doch kaum merklich die feste Organisation, welche Schweitzer seinen Anhängern gegeben hatte; die Gewerkschaften bewährten sich vollkommen in dem Sinne, in welchem er sie gründete; eine Reihe erfolgreicher Strikes verschaffte ihm namentlich in Berlin eine zuverlässige Garde, die sich täglich stärker rekrutierte. Das Letzte zur völligen Beseitigung der inneren Wirrnis tat eine mehrmonatliche Agitationsreise, die Schweitzer selbst nach seiner Entlassung aus dem Gefängnisse gegen Ende von 1869 durch ganz Deutschland hin unternahm.

Während seiner Abwesenheit vollzog sich endlich die lange ersehnte Eroberung von Berlin. Noch schien die Fortschrittspartei unumschränkt in der Hauptstadt zu herrschen; merkwürdiger Weise waren es die Ultramontanen, welche zuerst zeigten, dass diese Herrschaft auf tönernen Füßen ruhte. Im Sommer 1869 war das Kloster zu Moabit gegründet worden, ein Vorgang, der bekanntlich zu allerlei kindischen Putschen führte. Dieselben verliefen natürlich im Sande, aber als nun der biedere Weißbierphilister sei» belastetes Gemüt in den Bezirksvereinen durch die üblichen Resolutionen erleichtern wollte, wurde ihm dies harmlose Vergnügen in unbequemer Weise gestört. Fremde Gestalten tauchten auf, schier unheimlich anzusehen; sie störten die Debatten und vereitelten die Beschlüsse. Es waren immer dieselben, verhältnismäßig nur wenige Leute, ein graubärtiger Mann leitete sie finster und schweigend, wie der Alte vom Berge. Aber es gelang ihnen, die geläufige Resolviermaschine vollkommen ins Stocken zu bringen; die Sozialdemokraten erkannten, dass die Frucht reifer sei, als sie gehofft hatten. Im Herbste trat der Landtag zusammen, und die Fortschrittspartei begann die bekannte Abrüstungsagitation; ihre parlamentarischen Führer beriefen auf den 7. November eine allgemeine Volksversammlung ins Konzerthaus, um sich durch einige Resolutionen moralisch zu stärken. Noch schwankte Tölcke, der provisorische Leiter Zier Berliner Sozialdemokraten, ob er bei dieser Gelegenheit den großen Coup wagen solle; auf seine Anfrage telegraphierte Schweitzer lakonisch aus Dresden zurück: „Vorwärts!" Bei Eröffnung der Konzerthausversammlung füllten Fortschrittler und Sozialdemokraten den Saal in buntem Gemisch; bei der Präsidentenwahl ließ sich keine Einigung erzielen, ob Löwe (Calbe) oder Tölcke die Majorität erhalten habe. Es entstand rasender Lärm, wütender Tumult; Drohworte und Handgreiflichkeiten flogen von einem Ende des weiten Saales bis zum andern. Schließlich musste die Fortschrittspartei weichen, und Tölcke mit den Seinen behauptete das Feld.

Dieser Vorgang hat unendlich viel Staub aufgewirbelt und an sich mit Recht, denn auf das öffentliche Leben Berlins ist er von verhängnisvollstem Einfluss gewesen. Aber wie jedes Ding in der Welt, hat auch er seine zwei Seiten. Nicht fortschrittliche, sondern sozialdemokratische Versammlungen sind — zu Lassalles Zeiten — zuerst in brutaler Weise gesprengt worden; wer einmal einen Konservativen oder Nationalliberalen oder Ultramontanen in Berliner Bezirksvereinen hat sprechen hören, der weiß auch, dass das rohe Niederschreien der Gegner keine sozialdemokratische Erfindung ist. Ferner liegt ein unbestreitbarer Gran gesunden Menschenverstandes in der Forderung, dass, wenn eine allgemeine Versammlung des Volkes ohne Unterschied der Parteifarbe einberufen und ihr die Wahl des Bureaus übertragen wird, die tatsächliche Mehrheit zu entscheiden hat. Es ist nur gerecht, anzuerkennen, dass die Sozialdemokraten niemals eine Versammlung gesprengt haben, deren Einberufer sich an eine bestimmte Parteischattierung wandten, und dass sie, wo ihr Recht der Majorität in allgemeinen Versammlungen anerkannt wurde, sich durchaus anständig und angemessen benommen haben. Das Spiel mit der großen Masse ist nun einmal ein gefährlich und zweischneidig Spiel; seine günstigen Chancen als ein Gottesurteil zu proklamieren und gegen ungünstige Zufälle die Spieße und Stangen der Polizei zu Hülfe zu rufen, das ist weder konsequent noch würdig. Selbstverständlich sollen damit die Rohheiten, welche sich die Sozialdemokraten bei solchen Anlässen gegen so würdige Männer wie Löwe (Calbe) haben zu Schulden kommen lassen, nicht im Geringsten beschönigt werden.

Schließlich war das ganze Weh und Ach aus einem Punkte zu kurieren. Wäre damals noch in der Hauptstadt die politische Fortschrittspartei am Ruder gewesen und nicht vielmehr schon der schwatzselige Radikalismus des Weißbierphilistertums, der Berlin nachgrade zum ärgsten Rottenborough des deutschen Reichs gemacht hat, dann wäre es nie so weit gekommen, wie es gekommen ist. Tausend energische und geschickte Leute hätten vollauf genügt, dem ganzen Spuk in seinem ersten Entstehen ein Ende zu machen. An Versuchen dazu hat es nicht gefehlt. Zum 28. November 1869 berief der fortschrittliche Arbeiterverein eine neue Massenversammlung ins Universum behufs Besprechung der Konzerthaus schleicht. Es war Alles aufs Sorgsamste vorbereitet; der Arbeiterverein hatte großen Anhang unter den Maschinenbauern, die zu Zehntausenden die Hamburger, Oranienburger, Rosenthaler Vorstadt bevölkern, in deren Mitte das Universum liegt. Aber der Liebe Müh erwies sich umsonst; Tölcke siegte auch hier mit spielender Leichtigkeit; das Vereins- und Versammlungsrecht in Berlin war unwiderruflich zum Spielball der Sozialdemokraten geworden. Eine dritte Hauptschlacht lieferte dann noch Schweitzer selbst. Von seiner Agitationsreise zurückgekehrt, berief er für den 18. Januar 1870 die Generalversammlung des Vereins nach Berlin. Alles erwies sich in bester Ordnung, und er konnte selbst die Fülle seiner diktatorischen Macht noch um Einiges vermehren, indem er alle Gewerkschaften zu einem „Allgemeinen Arbeiterunterstützungsverband" verschmolz, an dessen Spitze natürlich er selbst als Präsident trat. Die Volksversammlung, die zwei Jahre früher zu Ehren des Kongresses stattfand, war kaum von 200 Personen besucht gewesen; jetzt bot Schweitzer den Delegierten der Provinz ein ganz anderes Schauspiel. Grade in jenen Tagen luden die Landtagsabgeordneten der Louisenstadt, Runge und Joh. Jacoby, ihre Wähler behufs Rechenschaftslegung zu einer Versammlung in einen der größten Säle Berlins, in die „Linde" vor dem Cottbuser Tore; als sie anlangten, fanden sie das Lokal Kopf an Kopf gedrängt voll, aber der Willkommensgruß, der sie empfing, klang dünn und spärlich und wurde sofort von donnernden Hochs auf Schweitzer erstickt, der denn auch nach Eröffnung der Versammlung mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde. Runge und seine Anhänger verließen nach der Sitte der Fortschrittler sofort die Versammlung; Jacoby war ehrlich und logisch genug, die Antwort zu achten, die das souveräne Volk auf seine Anfrage gegeben hatte. Er blieb und sprach über „die Ziele der Arbeiterbewegung," in welcher Darlegung er sich zuerst halb und halb zur sozialistischen Theorie bekannte und damit seine Wiederwahl in Berlin unmöglich machte. Beiläufig bemerkt, war die Rede vorher bis auf die letzte Silbe ausgearbeitet, so dass das Publikum, vor welchem sie gehalten wurde, nicht im Geringsten auf ihren Inhalt eingewirkt hat. Die Versammlung hörte den doktrinären Vortrag mit Anstand und Ruhe an; nachher resolvierte sie freilich, dass Jacoby manche sozialistische Wahrheit in sich aufgenommen habe, aber leider auf halbem Wege stehen geblieben sei.

Das war das letzte Siegel auf Schweitzers Triumph; von nun an blieb seine Macht im Innern des Vereins so unangefochten, wie sie unumschränkt war. Die unaufhörlichen Attacken der Eisenacher schadeten ihm kaum unter seinen fanatisierten Anhängern; anderseits gelang es ihm trotz aller sonstigen Erfolge auch nicht, die kommunistische Organisation zu sprengen. Den letzten Versuch dazu machte er vergebens auf dem zweiten Kongress der „sozialdemokratischen Arbeiterpartei," der vom 4. bis 7. Juni 1870 zu Stuttgart stattfand. Auf ihm wurde offiziell die Zustimmung zu den Baseler Beschlüssen der Internationalen beschlossen; die „Leutchen" hatten in der Tat marschieren gelernt. Im Übrigen erwies sich auch diese Partei als im Wesentlichen organisiert; sie musterte etwa 14.000 Mitglieder in gegen 200 Orten. Karl Hirsch gründete am 1. Juli schon das erste Lokalblatt, den „Bürger- und Bauernfreund" in Crimmitschau. Schweitzer hatte bereits am 1. April im „Agitator" eine Filiale des „Sozialdemokrat," ein Agitationsmittel für die ärmsten Arbeiterklassen geschaffen.

So waren beide Fraktionen der deutschen Sozialdemokratie in langsamem, aber stetem Gedeihen, als ein Wetter über sie hereinbrach, das die Bewegung bis auf die letzten Spuren von deutscher Erde zu schwemmen schien. Es war der Krieg von 1870.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.