Vierte Fortsetzung

Auch wenn man nicht von der Zinne der Partei über Lassalle aburteilt, bleibt in seiner Arbeiteragitation Vieles, nur zu Vieles übrig, was vom rein menschlichen Standpunkte aus abstoßend und widerwärtig wirkt, aber doch nach einer Richtung hin wird ein billiger Urteiler mit ungeteilter Teilnahme seiner Tätigkeit folgen. Es liegt immer etwas Erhebendes und zugleich Erschütterndes in dem Kampfe eines genialen, von brennendem Ehrgeize gespornten, titanische Pläne wälzenden Menschengeistes mit der alltäglichen Misere, mit den kleinen Leidenschaften der großen, trägen Masse; wie hart Lassalle zu verurteilen sein mag, dass er von außen eine Bewegung in den Arbeiterstand trug, für welche dieser noch nicht das geringste Verständnis hatte, seine Schuld wird doch bis zu einem gewissen Grade gesühnt durch das Schicksal, welches ihm grade die bereiteten, für deren Lebensinteressen allein er vorgab sich erhoben Zu haben. Für den aufreibenden Kampf innerhalb seines Vereins gibt es kein treffenderes Motto, als das Dichterwort:

Leicht zu lenken ist der Thor; leicht zu lenken, wer verständig;
Nur wer halbgebildet ist, bleibt für Götter selbst unbändig.


Es war ein Resultat bitterster Erfahrung, als Lassalle in einer Erwiderung auf eine Rezension der „Kreuzzeitung" über den Bastiat-Schulze ausrief: „Ich bin der Erste zu erklären, dass jede soziale Verbesserung nicht einmal der Mühe wert wäre, wenn auch nach derselben die Arbeiter persönlich das bleiben, was sie in ihrer großen Mehrheit heute sind."

Es ist bereits hervorgehoben worden, dass sich unter den Bevollmächtigten und Vorstandsmitgliedern des allgemeinen deutschen Arbeitervereins kaum Einer befand, welcher die Pläne Lassalles auch nur zu würdigen verstand. In bunter Mischung waren es gutmütige Enthusiasten; hohlköpfige Schwätzer; Ehrgeizige, die bei anderen Parteien abgefallen waren; Querköpfe und Querulanten, die eine Rolle um jeden Preis spielen wollten; bei den Meisten rannen diese Elemente in verschiedener Abstufung zu den wunderlichsten Komplexen zusammen. Im Guten und Schlimmen schufen sie Lassalle böseste Tage und Wochen. Wollten sie ihren Eifer betätigen, dann kamen sie auf die korruptesten Ideen; Bogen auf Bogen hatte Lassalle zu schreiben, um die Blasen zu zerstören, die in diesen müßigen Gehirnen aufstiegen. Am hartnäckigsten zerrten sie an der einheitlichen Organisation des Vereins, die ihm allein noch einen dürftigen Schein von Ansehen nach außen gab; sie verlangten seine Auflösung in örtliche Gruppen, wo sich dann freilich die Politik auf eigene Faust bequemer treiben ließ. Immerhin war dieser wenigstens gut genleinte Eifer das geringere Übel. Unerträglicher für Lassalle blieb der persönliche Hader und Zank, der von Anfang an unter den Häuptlingen zweiten Grades im Schwange ging; sie warfen einander die bitterbösesten Dinge vor; der gegenseitige Vorwurf, Arbeitergroschen vergeudet zu haben, war damals schon gang und gebe. Lassalle suchte sich diesen Krakehl möglichst vom Leibe zu halten, aber der tolle Wirbel riss ihn doch mehr als einmal in seinen trüben Strudel. Als sich der in Frankfurt lebende Herr v. Schweitzer an die Bewegung anschloss, drohten die dortigen Mitglieder offen mit ihrem Abfall, wenn Schweitzer in ihren Versammlungen erschiene; erst als Lassalle die Kabinettsfrage stellte, fügten sie sich unwillig, aber die Animosität gegen Schweitzer blieb, und Lassalle, der in ihm seinen bedeutendsten Anhänger schätzte, konnte ihn entfernt nicht so verwenden, wie er wünschte. Ergrimmt schrieb er im April 1864 an Dammer: „Sollten in unserem Verein Reibungen, Kleinlichkeiten, Intrigen, Streitigkeiten in Fortschrittlerweise um sich greifen, so würde ich — ich bin ohnehin des Ekels voll, sehr voll! — mein Amt sofort niederlegen und es den Herren überlassen, sich untereinander zu zanken."

Trotzdem, wie es bei solcher Disposition der Gemüter zu gehen pflegt, griff die Hader- und Zanksucht immer weiter um sich und kehrte sich schließlich selbst direkt gegen Lassalle. Auch der instinktive Hass gegen Bildung und Wissen, welcher dem heutigen Kommunismus ein so charakteristisches Gepräge gibt, trat schon in den ersten Anfängen der Bewegung hervor. Niemand Geringeres als der Vereinssekretär erhob die Fahne des Aufruhrs gegen den Vereinspräsidenten. Vahlteich war im Oktober 1863 von Leipzig nach Berlin übergesiedelt; er verkehrte täglich mit Kassalle, aber selbst unter diesen günstigen Umständen vermochte er so wenig sich in die leitenden Gedanken der Bewegung einzuleben, dass grade er unablässig auf die Dezentralisation, d. h. auf die Bankerotterklärung des Vereins drang. Schon Anfangs 1864 waren die gegenseitigen Beziehungen so kühl, dass Vahlteich am 1. Februar sein Amt niederlegte; an seine Stelle trat der Schwertarbeiter Willms aus Solingen. Vahlteich ging nach Dresden, wo er unter den Vereinsmitgliedern für seine Ideen Propaganda zu machen suchte; er wollte namentlich dem Vorstande eine größere Geltung neben dem Präsidenten verschaffen und er trug sich mit großen Plänen für die erste Generalversammlung, die Ende 1864 stattfinden sollte. Lassalle missachtete anfangs diese Opposition; halb scherzend klagte er über die Scherereien, die ihm der „unnütze Mensch" verursache, aber der Vizepräsident Dammer schrieb bedenklich: „Vahlteich ist sehr unzufrieden mit Ihnen. Er ist ein sehr stolzer Mann, der es nicht vertragen kann, dass man seine Ansichten und Handlungen nicht als unbedingt weise betrachtet." Nach langwierigem Hin und Her musste Lassalle schließlich eine dicke Broschüre schreiben, um Vahlteichs Ausstoßung aus dem Vereine durchzusetzen; es war die letzte Arbeit seines Lebens, gewiss ein charakteristischer Zufall für den Verfasser des „Heraklit" und des „Systems der erworbenen Rechte," des Gegners von Julian Schmidt und Schulze-Delitzsch.

Gefördert und genährt wurde die innere Zwietracht namentlich dadurch, dass die reellen Erfolge des Vereins nach außen hin nahezu Alles zu wünschen übrig ließen. Wohl erreichte es die riesige Kraftanstrengung Lassalles, dass außerhalb Berlins die Zahl seiner Anhänger langsam wuchs, aber doch nur etwa in dem Verhältnisse, dass, wo er von Zehntausenden träumte, in Wirklichkeit Hunderte existierten. In dieser Beziehung waren seine Illusionen unheilbar; als einige Strumpfwirker aus dem böhmischen Dorfe Asch Zustimmungsschreiben voll konfuser Begeisterung an ihn richteten, ließ er in seinen Bulletins nun gar noch die „Abkömmlinge der Hussiten" aufmarschieren. Im Zusammenhange mit dem geringen Wachstum des Vereins standen seine zerrütteten Finanzen. Der Beitrag jedes Mitgliedes betrug wöchentlich sechs Pfennige; dazu kam die Einschreibgebühr von zwei Silbergroschen, der Erlös aus dem Schriftenvertrieb, jeweilige Extrabesteuerung der wenigen begüterten Mitglieder u. A. m. Da anderseits außer dem Sekretärsgehalt von vierhundert Thalern nur Bureaukosten zu tragen waren, so hätte sich bei halbwegs regelmäßiger Zahlung der Beiträge immerhin ein leidlicher Etat herstellen lassen, indes selbst die äußersten Anstrengungen Lassalles vermochten nicht, Ordnung in die Kassenverhältnisse zu bringen. Er hat es in dieser Beziehung an nichts fehlen lassen; die Bitt-, Mahn- und Drohbriefe, welche er an seine Bevollmächtigten richtete, sind gradezu unzählbar; auch schonte er seine Privatkasse nicht und unterstützte namentlich die, wenigen Blätter, die ihm anhingen, wie den Hamburger „Nordstern", mit größeren Beiträgen. Alles vergeblich. Die meisten Mitglieder waren und blieben säumig im Zahlen; zwar bestimmten die Statuten dass, wer vier Wochen mit seinen Steuern rückständig bliebe, dadurch aufhören solle, Mitglied zu sein, aber eine rigorose Anwendung dieser Bestimmung hätte den Verein vollends zerstört. Was etwa noch einging, beanspruchten die Bevollmächtigten für ihre durch die Agitation verlorene Arbeitszeit; vergebens erinnerte sie Lassalle daran, dass sie einen Ehrenposten verwalteten, dass sie aus Liebe zu ihrem Stande, nicht für Bezahlung wirken müssten; selbstverständlich ließ sich der harte Zwang, unter dem einfache Arbeiter ihren Lebensunterhalt erwarben, nicht durch schöne Phrasen beseitigen.

In sieben Monate, vom 7. Oktober 1863 bis 8. Mai 1864, drängen sich für Lassalle alle diese Kämpfe, Leiden und Sorgen zusammen. Was er in der kurzen Spanne Zeit vor sich gebracht hat, bleibt immerhin eine großartige Leistung. Die einzigen Ruhepunkte in dieser See von Plagen waren die Beweise von Anhänglichkeit und Liebe, die ihm aus der Arbeiterwelt entgegengetragen wurden aus mehreren Orten wurden ihm Adressen, bedeckt mit Tausenden von Unterschriften, übersandt. Sie waren tröstender Balsam für seine tiefverletzte Eitelkeit und sie erweckten aufs Neue in ihm trügerische Hoffnungen. Aber in Stunden ernster Einkehr konnte er sich doch nicht verhehlen, dass er für eine verlorene Sache kämpfe; seine letzte Hoffnung blieb, dass die bevorstehende nationale Krisis ihm einen ehrenvollen Ausweg aus seiner verzweifelten Lage eröffnen werde So schreibt er am 14. Februar 1864 an die Bevollmächtigten des Vereins: „Neue Gelder kann ich schlechterdings nicht mehr beschaffen und eben so wenig schon jetzt den Verein zu Grunde gehen lassen, so lange Hoffnung am politischen Himmel winkt . . . . Ich bin todmüde, und so stark meine Organisation ist, so wankt sie bis in ihr Mark hinein. Meine Aufregung ist so groß, dass ich keine Nacht mehr schlafen kann. Ich wälze mich bis fünf Uhr auf dem Lager und stehe mit Kopfschmerz und tief erschöpft auf. Ich bin überarbeitet, überangestrengt, übermüdet im furchtbarsten Grade; die wahnsinnige Anstrengung, den Bastiat-Schulze, außer und neben allem Andern in drei Monaten auszuarbeiten, die tiefe und schmerzliche Enttäuschung, der fressende, innere Ärger, den mir die Gleichgültigkeit und Apathie des Arbeiterstandes, in seiner Masse genommen, einflößt — Beides zusammen war selbst für mich zu viel! Ich treibe ein métier de dupe und ärgere mich innerlich zu Tode, um so mehr, als ich diesem Ärger nicht Luft machen kann und ihn nach innen würgen, oft noch das Gegenteil behaupten muss! Und gleichwohl werde ich die Fahne nicht fallen lassen, so lange noch irgend ein Hoffnungsflämmchen am Horizonte blinkt."

In so zerschlagener Stimmung verließ Lassalle am 8. Mai 1864 Berlin, um seine sommerliche Vergnügungsfahrt anzutreten. Vorher aber eilte er dorthin, wo er die glücklichsten Tage seiner Agitation verlebt und ihre glänzendsten Triumphe gefeiert hatte; wieder wollte er über die rheinischen Arbeiter „Heerschau" halten oder, wie es jetzt in seinen Bulletins hieß, „glorreiche Heerschau." Er sprach am 14. Mai in Solingen, am 15. in Barmen, am 16. in Köln, am 18. in Wermelskirchen. Seine dortigen Anhänger empfingen ihn mit stürmischem Jubel; der alte, schlimme Zauber bewährte noch einmal seine ganze Kraft. Am 17. Mai ruft Lassalle Bernhard Becker aus Frankfurt zu sich mit den Worten: „Sie werden sich gesund baden im Volksenthusiasmus;" am 20. Mai schreibt er der Gräfin Hatzfeldt: „So was habe ich noch nie gesehen! Unwillkürlich mussten Einem die Faustszenen einfallen! Sowohl die im ersten Teil (Zufrieden jauchzet Groß und Klein; hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein), als die am Schlusse des zweiten Teiles, wo er befriedigt stillsteht. Die ganze Bevölkerung war in einem namenlosen Jubel. Ich hatte beständig den Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausgesehen haben." So schreibt Lassalle an seine Vertrautesten, ein sicherer Beweis dafür, dass er momentan an das glaubte, was er sagte, aber auch ein erschreckendes Zeugnis, ein wie haltlos schwankendes Rohr er trotz seiner eisernen Energie, trotz seines eminenten Verstandes in den wilden Stürmen seines eitlen Sinnes geworden war.

Der Höhepunkt dieser Agitationsreise war das Stiftungsfest des Vereins, welches am 22. Mai in Ronsdorf gefeiert wurde. Hier hielt Lassalle die Rede, welche unter dem Titel: „Die Agitation des allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen des Königs von Preußen" im Drucke erschienen ist. Wenige Wochen vorher war die damals vielbesprochene Weberdeputation aus Schlesien vom Monarchen empfangen worden; sie galt bekanntlich als ein Coup, den die Junkerpartei gegen einige Großindustrielle, einflussreiche Führer der Fortschrittspartei, und damit gegen diese selbst ausspielen wollte; die königliche Antwort, tröstenden Inhalts, aber an sich ganz allgemeiner Natur, behandelt Lassalle als den großartigen Haupterfolg seiner Agitation! Neben dem Thron muss auch der Altar für ihn zeugen. Der Bischof von Mainz hatte in einer unbedeutenden Broschüre sich zwar gegen die positiven Vorschläge Lassalles ausgesprochen, aber er hatte ihm Recht gegeben in seinem Streite mit Schulze-Delitzsch; so wird flugs der „hohe Kirchenfürst, der am Rhein fast als ein Heiliger verehrt wird," zum Proselyten der sozialdemokratischen Bewegung gepresst. Diesem Humbug reihen sich die die übrigen Erfolge, welche Lassalle in seiner Ronsdorfer Rede aufzählt — darunter auch Triumphe in Berlin!! — würdig an. Hier gibt sich Lassalle als vollendeter Demagoge; vergleicht man diese Kundgebung mit seinem „Arbeiterlesebuch," dann erkennt man mit unheimlicher Deutlichkeit, wie weit es mit ihm im Laufe eines kurzen Jahres gekommen war; die Ronsdorfer Rede, die auch literarisch zu dem Mittelmäßigsten gehört, was je aus seiner Feder geflossen, ist ein schändliches Lügengewebe von Anfang bis zu Ende.

Mit ihr schließt die „glorreiche Heerschau;" mit ihr auch im Wesentlichen die Arbeiteragitation Lassalles. Er ging nach Ems, wo er während des Monats Juni lebte. Hier verhandelte er mit Herrn v. Hofstetten, einem bairischen Ex-Leutnant und unbedeutenden Phantasten, der sich ihm neuerdings angeschlossen hatte, so wie mit Herrn v. Schweitzer über die Gründung eines eigenen Vereinsorgans. Man kam dahin überein, es unter dem Titel „Sozialdemokrat" vom 1. Januar 1865 ab in Berlin unter der Redaktion der beiden Edelleute erscheinen zu lassen. Nach Verlauf seiner Emser Kur und mancherlei Kreuz- und Querreisen am Rhein, in der Pfalz und in Baden, siedelte Lassalle Mitte Juli in die Schweiz nach Rigi-Kaltbad über. Hier schrieb er die bereits erwähnte Broschüre gegen Vahlteich. Eben hatte er am 25. Juli das Manuskript nach Berlin abgesandt, als ihn Helene v. Dönniges in seiner Einsamkeit aufstörte. Es begann jene berufene Intrige, welche sich durch den August hinzog, am 29. dieses Monats zu Genf das Duell zwischen Lassalle und Janko v. Rakowitz und am 31. den Tod des Ersteren zur Folge hatte.

Was Lassalle in den letzten Monaten seines Lebens für die Zukunft der von ihm eingeleiteten Bewegung gesonnen und gesponnen hat, ist nicht mit völliger Gewissheit festzustellen. Am Schlusse seiner Ronsdorfer Rede nimmt er gewissermaßen Abschied von seinen Anhängern; er ruft ihnen zu: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor! Man hat dies darauf deuten wollen, dass er aus Scheu vor den mehrjährigen Gefängnisstrafen, die teils schon über ihn verhängt waren, teils unmittelbar drohten, sich mit dem Plane getragen habe, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Schon bei Ausstellung des Auslandspasses hatte ihm das Berliner Polizeipräsidium Schwierigkeiten gemacht. Gewiss ist, dass Lassalle seiner Angst vor einer längeren Gefängnisstrafe mehrfach unverhohlenen Ausdruck gegeben hat; gewiss auch, dass ihn die Gräfin Hatzfeld mit demselben Ungestüm, mit welchem sie ihn in die Bewegung getrieben hatte, jetzt bestürmte, sie feige im Stich zu lassen; endlich musste sich Lassalle sagen, dass, ob er nun im Auslande oder im Gefängnis weilte, der verderbliche Rückschlag auf seinen Verein der gleiche sein müsste. Dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass er sich ernsthaft mit Fluchtgedanken getragen hat. In seinen intimen Briefen an die Gräfin widerspricht er dem Plane aufs Bestimmteste; zudem wenn nicht sein Ehrgefühl, so war mindestens seine Eitelkeit ein unübersteigliches Hindernis dagegen, dass er unter dem Hohngelächter von ganz Deutschland wie ein Dieb in der Nacht vom Schauplatze seiner Taten verschwand; eher noch hätte er nach seiner Charakteranlage den Tod gesucht. Auch hat man wohl behauptet, dass er, um zu sterben, das Duell provoziert habe, indes dem widerspricht der ganze Verlauf seiner Liebesaffäre aufs Unwiderleglichste. In seiner Korrespondenz mit dem Vereinssekretär gibt er sich durchaus, als ob Alles in dem alten Geleise bleiben solle; er bekümmert sich nach wie vor um alle Einzelheiten des Vereinslebens und trifft namentlich die Vorbereitungen für die bevorstehende Generalversammlung. Hin und wieder ist in einen Briefen, bald sehr kleinlaut, bald sehr überschwänglich von einem Coup die Rede, den er im Herbst zu Hamburg ausführen wollte; ist anders Bernhard Becker recht unterrichtet, so beabsichtigte er, den Verein eine Resolution zu Gunsten der Einverleibung der Elbherzogtümer in Preußen fassen zu lassen. Am wahrscheinlichsten bleibt, dass Lassalle über seine nächsten Pläne selbst noch völlig im Unklaren war, als er durch den Besuch jener Dame überrascht wurde; nach diesem Tage während seiner Liebesfahrten hat er sich um den Verein nicht im Geringsten mehr gekümmert. Der Rausch der „glorreichen Heerschau" war jedenfalls gründlich verflogen; die letzte Äußerung über polirische Dinge, die er schriftlich getan hat, ist voll tiefer Entmutigung. Er schreibt am 28. Juli an die, Gräfin Hatzfeldt: „Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind! Ich wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik los zu werden und mich in Wissenschaft und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar ich würde leidenschaftlich wie je für dieselbe aufflammen, wenn ernste Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte oder ein Mittel sähe, sie zu erobern — ein solches Mittel, das sich für mich schickt, denn ohne höchste Macht lässt sich nichts machen. Zum Kinderspiele aber bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium übernommen. Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt so gewaltig." Hält man diese Worte neben die Ronsdorfer Rede, dann schließt die Agitation Lassalles, wie sie nach ihren unklaren Anfängen schließen musste: mit einer grellen Dissonanz, mit einem schreienden Widerspruch, mit einer tiefen Unwahrheit.

Die Vorgänge, welche den Tod Lassalles herbeiführten, fallen außerhalb des Rahmens dieser Darstellung, auch lassen sie sich in einigen entscheidenden Knotenpunkten nicht einmal andeutungsweise schildern. Die authentischen Aktenstücke und Briefe finden sich in den „Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles von Bernhard Becker." Der Kulturhistoriker der Zukunft wird aus diesen Dokumenten einst schwere Anklagen gegen die sittliche Fäulnis schöpfen, welche so oft hinter den glänzendsten Außenseiten unserer hochgepriesenen Kultur verborgen ist. Es ist eine sehr erlauchte Gesellschaft, die in dieser Tragikomödie — denn das ist sie trotz ihres blutigen Ausganges nur gewesen — auftritt: Minister, Gesandte, Bischöfe, Generale, Obersten, berühmte Gelehrte, Grafen und Gräfinnen, des niederen Adels ganz zu geschweigen, aber kaum ein guter, menschlicher Gedanke wird laut, kaum eine sympathische Gestalt erscheint, während sich der traurige Wahnsinn der schmutzigen Intrige durch lange Wochen fortschleppt. Die Gegner Lassalles benahmen sich elend und widerwärtig, aber auch seine Heldenrolle ist überaus triste. Er ist nicht untergegangen an einem Konflikte der Liebe oder der Politik: wenn er in seinen Briefen an Oberst Rüstow wütend schreibt: „Mich zerbricht meine Gimpelei," so spricht er sein eigenes Urteil; was ihn in den Tod trieb, war die blinde Wut des Roué, der, als sich ihm ein Weib in die Arme warf, vielleicht zum ersten male in seinem Leben sittliche Bedenken verspürte und sich dadurch seine Beute für immer entrissen sah. Die einzige erquickliche Erscheinung in dem Wirrwar ist der bairische Minister des Auswärtigen, Freiherr v. Schrenk, welcher, von Lassalle um seine Intervention angerufen — Herr v. Dönniges war bekanntlich bairischer Gesandter in der Schweiz — dem vielberufenen Agitator echt menschliche Teilnahme bezeigt. Dagegen ist vielleicht die abstoßendste Scene des Spektakelstücks die Verhandlung zwischen der Gräfin Hatzfeldt und dem Bischof Ketteler von Mainz über — die Taufe Lassalles. Der fromme Prälat erklärte, er wisse wohl, dass Lassalle nur aus weltlichen Gründen zu konvertieren beabsichtige, aber er sei dennoch zur Vornahme der heiligen Handlung bereit, denn er hoffe, auch an diesem starken Geiste werde sich die Macht der Kirche bewähren. Erfreulicher Weise wurde die Geschichte der katholischen Kirche nicht mit dieser widrigen Posse befleckt. Als die Gräfin triumphierend in die Schweiz zurückkehrte, hatte Lassalle entdeckt, dass die Familie Dönniges protestantisch sei, und so warf er den hohen Kirchenfürsten, der am Rheine fast als ein Heiliger verehrt wird," gleichgültig bei Seite wie einen wertlosen Rechenpfennig, den er irrtümlich für ein Goldstück gehalten hatte.

Unter seinen Anhängern in Deutschland rief die Nachricht von Lassalles Tode selbstverständlich die äußerste Bestürzung hervor. Die Leitung des Vereins lag nun in den Händen des Vizepräsidenten Dammer, des Sekretärs Willms, Schweitzers und Bernhard Beckers. Letzterer war von Lassalle testamentarisch als sein Nachfolger im Präsidium empfohlen worden, indes fehlte ihm sowohl das Ansehen, wie die geistige Kraft, um die Zügel der Leitung sofort energisch zu ergreifen; erst im November gelang es ihm, nach mancherlei Weiterungen seine Wahl endlich durchzusetzen. Zuvörderst suchte mau die Genossen zusammenzuhalten durch Totenfeiern, die zu Ehren Lassalles an allen Orten veranstaltet wurden, wo der Verein eine größere Mitgliederzahl besaß. Auf ihnen begann die Vergötterung des Toten, die später zu so widerwärtigen Extravaganzen führte. Die Gräfin Hatzfeldt beabsichtigte gar, die Leiche Lassalles im Triumphzuge durch Deutschland zu führen; glücklicherweise wurde der Skandal im Keime erstickt. Als der Rheindampfer, welcher den Toten trug, in Köln anlegte, nahm die Polizei auf Bitten der Familie Lassalles den Sarg in Beschlag und ließ ihn direkt nach Breslau führen. Dort ist er auf dem israelitischen Kirchhofe beigesetzt; die Inschrift des Grabsteins: „Hier ruht, was sterblich war von Ferdinand Lassalle, dem Denker und dem Kämpfer," hat kein Geringerer geschrieben, als Boeckh.

Bei Lassalles Tode war der allgemeine deutsche Arbeiterverein in 52 Orten vertreten oder wenigstens vertreten gewesen. In 21 derselben war er wieder völlig ausgestorben; in 15 zählte er mehr als 100 Mitglieder und zwar in Asch (112), in Barmen (529), in Düsseldorf (259), in Duisburg (239), in Elberfeld (160), in Frankfurt a. M. (117), in Großburgk (155), in Hamburg (489), in Harburg (176), in Köln (161), in Leipzig (349), in Ronsdorf (523), in Solingen (500), in Wermelskirchen (245), in Wüste-Waltersdorf (128). Alles in Allem wurden in den Listen geführt 4610 Mitglieder. Unter ihnen befanden sich nur zwei Männer, welche an Geist, Talent und Wissen sich mit den Führern anderer Parteien messen konnten. Es waren Liebknecht und Schweitzer.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.