Siebente Fortsetzung

Herr v. Schweitzer hat vier Jahre lang an der Spitze des allgemeinen deutschen Arbeitervereins gestanden. Er war ein sehr begabter, kenntnisreicher Mann, einer der wenigen Süddeutschen, welche sich ganz und gar in das Berliner Leben, in das preußische Wesen zu finden gewusst haben. Keine eigentlich produktive Natur; in der Theorie ist er über Lassalle und Marx mit keinem Gedanken hinausgekommen. Aber als Parteiführer im engeren Sinne hatte er Einiges vor Beiden voraus; ein besonnener, positiver Mensch, der die Dinge sah, wie sie in Wirklichkeit waren, von einer unglaublichen Geduld und Zähigkeit, die durch kein Misslingen, durch keine Niederlage zu erschüttern, geschweige denn zu brechen waren. Alles in Allem genau der Mann, den seine Partei in dem gegebenen Momente brauchte.

Sie hat ihm, wie bekannt, mit dem üblichen Undanke gelohnt; er ist dem Scherbengerichte verfallen, dem Lassalle noch durch seinen frühzeitigen Tod entging. Wenn die Halluzinationen seiner Todfeinde entscheiden, dann war Schweitzer freilich ein agent provocateur, ein Mouchard, ein besoldeter Regierungsagent. Wohlgemerkt, die Halluzinationen seiner Todfeinde, denn wie man die unendliche Phrasenspreu, die über dies Thema geschrieben und gesprochen worden ist, immer siebe und worfele, es fällt auch nicht ein Körnlein tatsächlichen Beweises heraus. Von zwei Seiten namentlich sind diese Angriffe mit besonderem Eifer betrieben worden: einmal von der Fraktion der Internationalen, welcher die Person Schweitzers das unüberwindlichste Hindernis ihrer Propaganda war, und dann von einer gewissen Clique des Berliner Philistertums, deren Alleinherrschaft in der deutschen Hauptstadt Schweitzer unwiderruflich brach. Was beiderseits vorgebracht worden ist, nicht an Beweisen, denn von solchen existieren nicht einmal Schatten, sondern von Angaben, die wenigstens nicht pure Phantasien waren, ist erstens, dass Schweitzer einmal in einem Kommissionszimmer des Reichstages eine Unterredung unter vier Augen mit Wagener gehabt, und zweitens, dass er Rudolf Meyer auf dessen Bitte einige tatsächliche Notizen über die Geschichte des allgemeinen deutschen Arbeitervereins gegeben hat. Voilà tout.


Die inneren Gründe, welche gegen ein geheimes Bündnis zwischen der preußischen Regierung und dem sozialistischen Führer sprechen, brauchen heute kaum mehr ausführlich dargelegt zu werden. Man wird hoffentlich noch keiner ungehörigen Sympathie für den Grafen Eulenburg verdächtig sein, wenn man ernste Zweifel daran hegt, dass er aus Furcht vor Eugen Richter und Wilhelm Liebknecht sich die kommunistische Landplage mit schwerem Gelde großgezogen hat. Was Schweitzer anbetrifft, so hatte er es nach Charakter und Talent wahrlich nicht nötig, um des Gelderwerbes willen das elendeste aller Gewerbe zu treiben; nachdem er als „Verräter" endgültig proklamiert worden war, schuf er sich als Theaterdichter eine ungleich angesehenere und bequemere Existenz, wie er je als Arbeiterführer gehabt hat. Der unwiderleglichste Beweis gegen sein „Bündnis mit der Reaktion" ist wie bei Lassalle der Umstand, dass er ein sehr geschätztes Hochwild der staatsanwaltlichen Jagd war. Wenn man nicht grade das credo quia absurdum est proklamieren will, dann ist es doch eine absolut unvernünftige Unterstellung, dass die preußische Regierung einen Arbeiteragitator besoldet, um ihn mehrere Monate im Jahre in ihren Gefängnissen lahmlegen zu lassen. Auf einem Kongresse der Internationalen, wo Schweitzer natürlich immer als der leibhaftige Gottseibeiuns portraitiert wurde, dämmerte einem Delegaten wirklich einmal dieser naheliegende Gedanke auf. Da aber nahm der kühne Renner Liebknecht das unerwartete Hindernis mit folgendem eleganten Sprunge: „Die Richter sind nicht in die Bismarckschen Pläne eingeweiht, vielleicht war es auch bloße Komödie, aber jedesmal war seine Haft nur eine Scheinhaft." Mit dieser Sorte von Argumentation kann man freilich das Blaue vom Himmel herunterbeweisen.

Im Übrigen ist nicht zu leugnen, dass ein gewisser Schleier über dem Treiben Schweitzers liegt. Wer einmal den Mann, dessen ganzes Wesen müde Genusssucht und weltmännische Skepsis war, vor einer atemlosen Versammlung über die Leiden des Arbeiterstandes hat sprechen hören, der hat schwerlich die Frage unterdrückt: Ja, wie kommst Du denn zu solchen Reden und in solche Gesellschaft? Schweitzers Verhalten bei der ersten Reichstagswahl in Elberfeld, seine parlamentarische Theorie der „Bosheit," die gleichgültige und legere Art, mit welcher er plötzlich sein Präsidium niederlegte, nachdem er den Verein durch die rastlose Arbeit langer Jahre aus trübstem Verfall in einen respektablen Zustand gebracht hatte — alles das sind Widersprüche, die auch unbefangene Urteiler frappieren müssen. Aber so ganz unlösbar sind diese Rätsel doch nicht. Schweitzer war ein blasierter Roué; er hatte Alles genossen, was sich außerhalb der Gitter des Strafgesetzes genießen lässt, und vielleicht noch Einiges darüber. Der Sprössling eines reichen Patriziergeschlechts in Frankfurt a. M., war er in seiner Vaterstadt unmöglich geworden; auch wo man freier dachte als in dieser großartigen „Republik," brachte ihn der Verdacht einer unsauberen Leidenschaft in die Mäuler der Leute. Der arme Lassalle hatte damit seine weidliche Plage; wenn ihm die Querelen gar zu bunt wurden, da donnerte er wohl: „Eure Töchter sollt Ihr ihm ja nicht zur Frau geben, aber" — und, dann zitierte er seine griechischen Philosophen zu etwas profanen Zwecken. So trieb Schweitzer lässig auf der Woge des Lebens, ein geistreicher Wüstling, der zu klug und zu kräftig war, um sich in sinnlicher Lust ganz zu erschöpfen. Das politische Leben betrachtete er als eine Art höheren Würfelspiels; er pointierte da, wo ihm die Chancen am günstigsten schienen. Er war ein moderner Condottieri, gewissenlos, aber auch wieder gewissenhaft, wie ein solcher; sein subjektives Belieben ging ihm über Alles, aber so lange er sich engagierte, tat er seine übernommene Pflicht nach besten Kräften. Dass er im Grunde keine gemeine und unedle Natur war, hat er während seiner letzten Lebensjahre bewiesen, in denen sich auch an ihm der Zauber einer ächten Liebe bewährte und er in glücklicher Ehe einer geistigen Tätigkeit mit schönen Erfolgen lebte. Die deutsche Bühne hat an ihm eins ihrer wenigen Lustspieltalente verloren.

Wie hart oder wie milde aber die politischen Gegner Schweitzers über ihn urteilen mögen, seine Partei ist ihm nichts Anderes schuldige als reichen Dank, wenn anders dies Wörtchen im kommunistischen Lexikon auch nur die bescheidenste Stätte fände. Im Mai 1867 übernahm er das Präsidium des Vereins und schon im September, als die Wahlen zum ersten Reichstage des norddeutschen Bundes stattfanden, hatte er Zahlenerfolge erreicht, welche Lassalle überglücklich gemacht haben würden. In Elberfeld-Barmen wurde er selbst mit 8.915 Stimmen, in Lennep-Mettmann Dr. Reincke mit 7.832 Stimmen gewählt; in einer Anzahl anderer Kreise hatte die Partei ansehnliche Minoritäten aufzuweisen; so unterlag beispielsweise der Lohgerber Hasenclever in Essen mit 3.419 Stimmen nur um ein Geringes. Die abgefallene Partei der Gräfin Hatzfeldt brachte in Chemnitz den Kupferschmied Försterling mit 5.561 Stimmen durch. Ende November 1867 fand die sechste Generalversammlung des Vereins, die erste unter Schweitzers Präsidium, zu Berlin statt. Die Organisation erwies sich als vollkommen hergestellt; die Finanzen — Bracke in Braunschweig war Kassierer — befanden sich in guter Ordnung. Als ein großer Mangel stellte sich heraus, dass die Partei in Berlin noch immer nicht festen Fuß gefasst hatte; eine öffentliche Volksversammlung, die zu Ehren des Parteikongresses abgehalten wurde, trommelte an Freunden, Gegnern und Neugierigen etwa 200 Personen zusammen. Bei den engeren Parteiverhandlungen waren 51 Gemeinden durch 20 Delegierte vertreten, die zusammen 3.462 Mitglieder repräsentierten.

Diese Mitgliederzahl ist allerdings noch beträchtlich geringer, als sie beim Tode Lassalles war, aber sie hat einen ganz anderen Hintergrund. Zu Lassalles Zeiten war jeder Anhänger der Partei zugleich Mitglied des Vereins; man war froh, wenn man die Stammlisten füllen konnte, und hütete sich, durch ein strenges Steuersystem die spärlichen Einzeichnungen vollends auf Null zu reduzieren. Das wurde unter Schweitzer ganz anders, namentlich als er später die Gewerkschaften zu organisieren begann. Mit der strafferen Organisation des Vereins einer- und der weiteren Ausbreitung der Parteigrundsätze anderseits vergrößerte sich immer mehr die Kluft zwischen den Mitgliedern des Vereins und den Anhängern der Partei oder, um den springenden Punkt zu treffen, zwischen den steuernden und den stimmenden Mitgliedern. Diesen Unterschied darf man nie aus den Augen lassen, wenn man nicht bei Schätzung der Zahlen über die Ausbreitung der Partei zu völlig irrigen Schlüssen kommen will. 1864 deckten sich im Wesentlichen noch beide Kategorien. 1867 mochten 40.000 Stimmen für sozialistische Kandidaten bei der Reichstagswahl abgegeben sein, während der Verein, wie erwähnt, etwas über 3.000 Mitglieder zählte. 1874 stimmten etwa vierthalbhunderttausend Sozialisten, während anderthalb Jahre später auf dem Vereinigungskongresse zu Gotha, wo nur regelmäßig steuernde Mitglieder vertreten sein durften und die Eifersucht der beiden Fraktionen für eine strenge Kontrolle sorgte, ungefähr 25.000 Mandanten hinter den Delegierten standen. Die Sozialisten selbst taxieren den Unterschied, wie 1:20. Das ist arg übertrieben, aber die Verhältniszahl 1:10 oder vielleicht auch 1:15 dürfte etwa das Richtige treffen.

Während so der Verein Lassalles endlich in das Stadium stetiger Entwicklung gelangt war, schwamm Liebknecht, der deutsche Apostel der Internationalen, noch auf hoher See. Als er im Juli 1865 aus Berlin ausgewiesen wurde, ging er nach Leipzig; es war eine recht glückliche Ortswahl, denn er fand zu jener Zeit im Königreich Sachsen in reichster Fülle, was er überhaupt in Deutschland suchte, Aufregung nämlich und Unzufriedenheit. Freilich war es keine soziale, sondern eine politische Aufregung und Unzufriedenheit. Umso besser für ihn und seine Zwecke. Für ihn, denn hier konnte er seinen wütenden Preußenhass recht nach Herzenslust ausgären und austoben; für seine Zwecke, denn der Kommunismus hasst jede Reform und betrachtet es zunächst als seine Hauptaufgabe, bei jeder revolutionären Bewegung im Trüben zu fischen, wie es das kommunistische Manifest von 1847 mit dürren Worten ausspricht. Zudem war Deutschland damals so wenig der Ort zu einer direkten kommunistischen Agitation, wie Liebknecht der Mann dazu war. Was an derartigen Neigungen und Trieben vorhanden war, das hatte der allgemeine deutsche Arbeiterverein eingefangen; in ihn sich einzunisten, war Liebknecht misslungen, und gegen ihn mit klingendem Spiel und wehender Fahne zu marschieren, wie Lassalle gegen die Fortschrittspartei marschiert war, dazu hatte er nicht das Zeug. Denn er ist wohl ein Fanatiker, aber von einem Politiker hat er nicht einmal so viel, als dazu gehört, ein guter Agitator zu sein.

Ein Fanatiker mit allen guten und schlimmen Seiten eines solchen. Liebknecht ist persönlich ein sehr ehrenwerter Mann, sein Privatleben nach allen Richtungen hin ein musterhaftes. Er ist — im Gegensatz zu Lassalle, Marx, und Schweitzer — arm geboren und arm geblieben; er begnügt sich mit dem Dürftigsten, wenn er seiner Idee leben kann, und er verschmäht den rechtlichsten Erwerb, der ihn abseits locken könnte von dem Wege seines Lebens. In dieser Beziehung steht er unantastbar da; der Vorwurf unlauterer Motive im niedrigen Sinne des Wortes reicht ihm nicht an die Schuhsohlen. Aber wo es seine Sache gilt, da mag man in Deutschland den Mann suchen, der mit derselben Gleichgültigkeit die giftigsten und verächtlichsten Waffen führt. Seitdem er sich als Primaner an den Schriften St. Simons berauschte, stürmt Liebknecht mit atemloser Hast der Phantasmagorie des kommunistischen Staats nach, die unablässig vor seinen erregten Sinnen gaukelt; was ihm hindernd in den Weg tritt, das sucht er zu zerstören mit jedem, aber auch mit jedem Mittel, dass nur irgend brutale Zerstörungslust handhaben kann. Keine Verleumdung ist ihm gemein genug, als dass er sie nicht einem politischen Gegner an den Kopf würfe; kein Mantel der Liebe weit genug, um den schlimmsten Unrat in den eigenen Reihen zu verdecken; dieselbe Hand, welche verdorren würde, ehe sie sich mit einem Pfennige unrechten Gutes besudelte, verteidigt die infamste Korruption, Und das ist nicht bewusste Schlechtigkeit, denn sonst könnte Liebknecht nicht persönlich ein anständiger Mann bleiben; es ist eine geistige Entartung, welche die Dinge nur noch so zu sehen vermag, wie sie der verzerrende Spiegel einer verzerrten Weltanschauung auffängt. Und dazu kommt: Liebknecht ist die besten Jahre seines Lebens Emigrant gewesen; wohin er tritt, riecht er Spione und wittert er Verräter. Es ist etwas unendlich Tragikomisches in diesem Gehabe; komisch in der äußeren Erscheinung, tragisch im inneren Wesen, denn es ist ja doch nur der unselige Fluch der Entfremdung vom Vaterlande, der einen ursprünglich edlen und reinen Charakter zu einer so traurigen Karikatur umgestaltet hat.

So wie Liebknecht durch eigene und fremde Schuld geworden ist, war und ist er völlig unfähig, eine Massenagitation aus eigner Initiative ins Leben zu rufen. Wo die Gemüter in das kommunistische Gedankensystem schon eingesponnen sind, da erzielt seine wilde Beredsamkeit wohl manche Erfolge, aber um die Massen hinüberzuleiten von dem Boden der Wirklichkeit in die Nebelwolken einer Traumwelt, dazu bedarf es zunächst der Fähigkeit, sich in ihr Denken und Fühlen wenigstens momentan zu versetzen, und hieran gebrach und gebricht es Liebknecht vollständig. Als er im Sommer 1865 einsam in Leipzig landete, konnte er zunächst nur der Kehrseite seines kommunistischen Ideals, dem rasenden Hass gegen den nationalen Staat, das heißt, wie die Dinge damals lagen, gegen Preußen, leben und er hat diesen Hass in wahren Orgien gesättigt. Wer um jene. Zeit in Leipzig lebte, der weiß, wie der bloße Klang des preußischen Namens die schlimmsten Leidenschaften aufbrausen ließ, wie die widernatürlichsten Bündnisse von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken geschlossen wurden, wie Feuer und Wasser sich mengte, um in Brausen und Zischen wirkungslos gegen das drohende , Verhängnis auszupuffen. In diesen trüben Strudeln trieb Liebknecht wie in seinem Lebenselemente; die schlimmste Hefe jenes Treibens rann durch die Spalten der „mitteldeutschen Volkszeitung," welche er in großdeutsch-partikularistischem Sinne redigierte. Anfang September 1866 — der Friedensschluss mit Sachsen verzögerte sich bekanntlich bis in den Oktober — wurde das Blatt von der preußischen Militärverwaltung unterdrückt. Inzwischen war die Amnestie in Preußen verkündet, durch das Reichstagswahlgesetz ein norddeutsches Staatsbürgerrecht geschaffen; im Vertrauen darauf ging Liebknecht nach Berlin, um Familienangelegenheiten zu ordnen; er wurde alsbald verhaftet, wegen Bannbruchs in Anklagezustand versetzt, zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Als er anfangs 1867 nach Leipzig zurückkehrte, fand er sein Weib im Sterben, seine mühsam geschaffene Existenz völlig zerstört. Was ihm angetan war, das war nicht nach billigem Recht geschehen, aber es war doch nur die schwere Buße einer schweren Schuld. Sein unwahres und wüstes Treiben hatte dem verhassten Staate kein Steinchen in die Geleise siegreichsten Triumphes zu werfen vermocht; um ihn selbst aber hatte es nichts als Ruinen geschaffen.

Dennoch war seine Saat nicht ganz umsonst in den zerwühlten Boden gesäet; er hatte im Wesentlichen zwar nur einen nennenswerten Anhänger geworben, aber dieser eine wog zehntausend gewöhnliche Köpfe auf. Es war Bebel. Er ist bekanntlich ein einfacher Drechsler, auf Dorf- und Sonntagsschulen, auf weiten Fahrten als Handwerksbursche gebildet. Die weitverbreitete Anschauung, als ob Bebel der leitende Kopf der sozialdemokratischen Bewegung sei, ist sehr irrig; geistig ist er nichts als ein Geschöpf Liebknechts. Was ihn auszeichnet und ihm so große Erfolge verschafft hat, liegt in dem ächten und ursprünglichen Gehalte seiner Natur; er ist gewissermaßen das verkörperte Ideal eines modernen Arbeiters im guten Sinne. Anspruchslos, bescheiden, einfach, hat er eine immer rege Lust, sich zu belehren, eine unverwüstliche Neigung zu ernsthaftem Nachdenken; dabei hält er sein Handwerk in Ehren, und er, der tausendmal mehr
Recht dazu hätte als die Most, Sack, Vahlteich et hoc genus omne, hat sich niemals von dem gesunden Boden seiner ehrlichen Arbeit dazu verlocken lassen, als professionsmäßiger Volkslehrer und Schriftsteller eine im innersten Wesen lügenhafte Existenz zu führen. Sein, Einfluss auf die Arbeitermassen ist sehr groß; er besitzt eine volkstümliche Beredsamkeit und er ist seinen Hörern immer nur um einige Schritte voraus, so dass er genau das ausspricht, was in ihrer Seele eben unartikuliert nach Gestaltung ringt. In Wahrheit, um ein viel missbrauchtes Wort zu zitieren, ein Mann aus dem Volke, der in seinem Wesen einige charakteristische Seiten unserer Arbeiterbevölkerung klassisch wiederspiegelt; dabei ein Mann von natürlichen Gaben, von klarem Auge und scharfem Verstande, von schnellem, fast instinktivem Denken; die Art, wie er im Reichstage seine Konflikte mit Lasker und Simson ausfocht, hätten ihm wahrlich wenige Parlamentarier nachgemacht. Seine historische Bedeutung — denn die besitzt Bebel ohne Frage — liegt darin, dass er der erste und bisher einzige Handarbeiter in Deutschland ist, der sich im Vordergrunde der politischen Bühne bewegt, ein Gleichberechtigter unter Gleichberechtigten.

So war Bebel, als Liebknecht ihn zum Freunde und Mitstreiter gewann. Heute ist er nicht mehr ganz so. Der intime Verkehr mit einem so dissoluten Geiste wie Liebknecht, das agitatorische Treiben eines Jahrzehnts haben das einfache Gefüge seines Charakters vielfach entstellt und verzerrt; seine neueste Schrift zur Geschichtsphilosophie der Bauernkriege ist eben so albern, wie anmaßlich. Vor zehn Jahren aber war er genau der Mann, den Liebknecht als Ergänzung seines eigenen Wesens brauchte. Und abgesehen von der persönlichen Bedeutung Bebels, brachte er eine kostbare und unersetzliche Mitgift in das Freundschaftsbündnis mit, einen weiten Anhang in den deutschen Arbeiterkreisen. Bebel war ursprünglich ein Gegner der sozialistischen Bewegung gewesen; er hatte Lassalle, dessen Agitation ja grade von Leipzig ausging, heftig bekämpft und hing Schulze-Delitzsch mit großer Begeisterung an; indem Leipziger Arbeiterbildungsvereine, der Schulze treu geblieben war, spielte er eine große Rolle und wurde 1865 sein Vorsitzender. Dieser Verein war mit einer erheblichen Anzahl ähnlicher, namentlich mittel- und süddeutscher Vereine in einem Verbande vereinigt, dessen ständiger Ausschuss in Leipzig seinen Sitz hatte. 1864 war Bebel schon Mitglied dieses Ausschusses geworden; 1867 wurde er auch hier Vorsitzender. So stand er an der Spitze, einer Arbeitermasse, die nach vielen Tausenden zählte, und verschaffte Liebknecht ein Arbeitsfeld für seine kommunistischen Ideen, das derselbe aus eigener Kraft sich niemals erobert haben würde.

Der deutsche Apostel der Internationalen agitierte nunmehr zunächst mit einer Vor- und Umsicht, die an sich seinem ganzen Charakter widerstreitet und sich wohl am natürlichsten durch die sehr allmähliche und langsame Entwicklung erklärt, welcher Bebels gesunde Natur bedurfte, um sich völlig in die kommunistischen Träume einzuspinnen. Liebknechts Hauptwaffen blieben vorläufig noch ein eben so phrasenhafter, wie inhaltsloser Radikalismus und vor Allem natürlich der unausrottbare Preußenhass. Bebel gelangte durch seinen Anhang in sächsischen Arbeiterkreisen bereits in den konstituierenden Reichstag von 1867; Glauchau wählte ihn mit 7.922 Stimmen. Seine einzige oratorische Leistung in dieser Versammlung war eine donnernde Philippica gegen die Zerreißung Deutschlands durch Bismarck; man hört aus jedem Satze die großdeutsch-partikularistischen Phrasen Liebknechts heraus. Als Lasker spöttisch darauf hinwies, dass die Gesinnungsgenossen des Redners bei der engeren Wahl in Elberfeld ja für Bismarck gegen den liberalen Kandidaten entschieden hätten, protestierte Bebel mit Emphase dagegen, dass er mit den sozialistischen Bestrebungen das Geringste zu schaffen habe; er sei Vertreter der radikal - demokratischen oder, wenn man wolle, der „Volkspartei." Bei Bebel mochte diese Sprache noch ehrlich sein, bei Liebknecht war sie natürlich nur eine heuchlerische Maske seiner kommunistischen Tendenzen.

Etwa um dieselbe Zeit veröffentlichte Marx bei Meißner in Hamburg den ersten und bisher noch einzigen Band seines großen Werkes: „Das Kapital," der Bibel des Kommunismus; gleich auf der ersten Seite schiebt er Lassalle mit einer verächtlichen Handbewegung bei Seite. Marx stand mit Liebknecht im lebhaftesten, vertrautesten Briefwechsel, der bis auf den heutigen Tag gedauert hat, nur in seltenen Intervallen durch Zwistigkeiten unterbrochen; Krakehl und Zank ist ja ein so unveräußerliches Erbteil der Kommunisterei, dass selbst der Hohepriester und sein liebster Jünger sich jeweilig in den Haaren gelegen haben. Mit dem „Kapital" gewann Liebknecht theoretischen Boden unter den Füßen, wie er durch Bebels Freundschaft praktischen Boden gewonnen hatte. Die kommunistische Agitation begann ihr unheimliches, unterirdisches Werk. Vorerst freilich immer noch in schüchterner und sehr verhüllter Form.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.