Neunte Fortsetzung

Wie richtig Schweitzer gerechnet hatte, als er seine Partei durch Bildung von Gewerksgenossenschaften auf eine breitere Basis der Organisation zu stellen versuchte, zeigte sich kurz nach der Hamburger Generalversammlung, noch ehe der Arbeiterkongress in Berlin zusammentrat. Das Polizeiamt zu Leipzig löste am 16. September 1868 den allgemeinen deutschen Arbeiterverein, der nominell noch immer seinen Sitz in Leipzig hatte, wegen Bildung von Zweigvereinen auf. Bekanntlich verbieten die meisten deutschen Vereinsgesetze die Verbindung einzelner Vereine unter einander; Lassalle hatte deshalb die statutenmäßige Bestimmung getroffen, dass alle Mitglieder durch ganz Deutschland hin unmittelbar Angehörige des Leipziger Vereins sein sollten. Selbstverständlich ließ sich diese Fiktion in der Theorie leichter als in der Praxis durchführen; es machte sich von selbst, "dass die an einem Orte wohnenden Mitglieder sich zu engeren Verbänden nicht formell, aber faktisch zusammenschlossen. Diese unvermeidliche Erscheinung ist von je her die beliebteste Handhabe der Polizei und Staatsanwaltschaft gewesen, wenn sie dem agitatorischen Treiben ein Ziel setzen wollten, von Lassalles Zeit bis auf den heutigen Tag; ein Kleinkrieg der Art war eigentlich ununterbrochen im Gange. Meist richteten sich die Angriffe gegen die lokalen Gemeinden; jene Verfügung des Leipziger Polizeiamts war aber ein Hauptschlag, welcher in der Theorie die ganze Partei sprengte. Freilich auch nur in der Theorie; der Sitz des Vereins wurde nach Berlin verlegt, und da die Gerichte auf erhobene Anklagen die Identität des Berliner und Leipziger Vereins nicht anzuerkennen vermochten, blieb im Grunde Alles beim Alten.

Tatsächlich lag ohnehin der Schwerpunkt der Partei da, wo das Vereinsorgan erschien und der Vereinspräsident wohnte. Zudem fing der Sozialismus endlich an, in Berlin festen Fuß zu fassen; die Fortschrittspartei begann um ihre Alleinherrschaft zu sorgen. Um sich die Arbeiterkreise wieder fester zu verknüpfen, war sie etwa gleichzeitig mit Schweitzer auf die Idee gekommen, Gewerkvereine zu bilden; sie hatte den jugendlichen Max Hirsch auf seine bekannte Studienreise nach England geschickt, um die dortigen Trades-Unions kennen zu lernen. Er musste schleunig zurückkehren, als Schweitzer mit der praktischen Organisation seiner Gewerkschaften in energischer Geschicklichkeit vorging; einige Tage vor dem sozialistischen Arbeiterkongress kam noch eine Versammlung von Berliner Maschinenbauarbeitern zusammen, in welcher Max Hirsch zuerst seine Pläne entwickelte. Er ist das, was man einen guten Menschen, aber einen schlechten Musikanten nennt; er meint es ohne Frage treu mit den Arbeitern, viel treuer als die sozialistischen Agitatoren, aber er ist auch ein ehrgeiziger Kopf, und ehrgeizige Köpfe haben heut' zu Tage eine so weite Laufbahn im öffentlichen Leben vor sich, dass sie just nicht gezwungen sind, aus der brennendsten Frage des Jahrhunderts die Scheite zu greifen, mit denen sie die eigene Größe beleuchten. Was er in jener Versammlung sagte, das klang Alles sehr hübsch, aber es war auch sehr inhaltlos und sein Ehrgeiz trug die grünen Farben nicht der Hoffnung, aber der Unreife. Er rief, Schweitzer wolle die Fackel der Zwietracht am Feuer der Eintracht nähren; der Meißel in der Hand des Künstlers bringe ein Götterbild, in der Hand des Ungeschickten einen unförmlichen Klotz hervor; die Gewerkvereinsbildung müsse naturwüchsig von unten nach oben wachsen. Sehr richtig, wenn nur Max Hirsch das Wort hätte zur Tat werden lassen, und wer hatte ihm denn das Künstlerdiplom verliehen, wenn nicht die Tagesvelleitäten einer politischen Partei? Auch Schulze-Delitzsch wohnte der Versammlung bei; der ehrliche Arbeiterfreund war nur mit halbem Herzen bei der Sache, und bekanntlich ist nicht er, sondern Franz Duncker es gewesen, welcher die schützende Hecke seines parlamentarischen Rufes um die jung sprossenden Lorbeeren von Max Hirsch zog. Schulze-Delitzsch sprach mehr gegen Schweitzer, als für Hirsch; in der Hitze der Debatte entfuhr ihm das Scheltwort von den „müßigen Schwätzereien unnützer Buben;" es war eitel Narretei, als die Sozialisten über das schnelle Wort des verdienten Mannes, den sie mehr als jeden andern in den Kot zu ziehen sich bemüht hatten, in endloses Gezeter ausbrachen, aber zu jener Zeit der hochgespannten Gegensätze in der Berliner Arbeiterwelt wäre es wohl besser ungesprochen geblieben. Schließlich einigte sich die Versammlung dahin, zwölf Mitglieder aus ihrer Mitte zu wählen, welche unter der Führung von Max Hirsch als Deputierte der Berliner Maschinenbauer dem Schweitzerschen Kongresse beiwohnen und ihn in das Fahrwasser der fortschrittlichen Gewerkvereinsbewegung zu leiten versuchen sollten.


Diese Versammlung fand dann am 27. September statt. Sie war von etwa 200 Delegierten besucht, die angeblich 140.000 Arbeiter vertraten; die Zahl ist wohl stark übertrieben, aber jedenfalls war dieser Kongress die erste große Demonstration der Sozialdemokratie in Berlin. Max Hirsch mit seiner kleinen Schaar gelangte gar nicht zum wirksamen Auftreten. Kaum begann er seine Ideen zu entwickeln, als ein so großer Tumult entstand, dass der Vorsitzende Tölcke, der hier zum ersten male seinen lokalhistorischen Knüppel produzierte, die Versammlung provisorisch schließen musste; als sich die hochgehenden Wogen etwas beruhigt hatten, fasste man eine Resolution, welche die Deputation der Maschinenbauer ersuchte, sich zu entfernen, da sie „lediglich erschienen seien, um im Interesse der Kapitalisten Unfrieden und Störung unter den Arbeitern zu verursachen." Max Hirsch und seine Getreuen weigerten sich; sie wurden dann tumultuarisch hinausgedrängt. Sie gründeten sofort einen Sonderkongress, der, viel schwächer besucht als der sozialistische, die Bildung der ersten fortschrittlichen Gewerkvereine ins Leben rief. Schweitzer seinerseits brachte nach Beseitigung dieses Hindernisses seine Pläne schnell ins Reine. Er hatte Organisation und Statuten bis ins kleinste Detail ausgearbeitet; in viertägigen Verhandlungen wurde Alles glatt abgewickelt. Natürlich behielt er auch hier die diktatorische Oberleitung bei. Jede Gewerkschaft sollte durch ganz Deutschland hin ein geschlossenes Ganze mit besonderem Vorstand bilden; aus diesen Vorständen setzte sich in Berlin der „Gewerkschaftsverband" zusammen, der wieder in ein dreiköpfiges Präsidium auslief, in welches Schweitzer, Fritzsche und ein namenloser Dritter gewählt wurden. Eine Reihe von Gewerkschaften konstituierte sich sofort; die Berg- und Hüttenleute, Metallarbeiter, Färber, Weber und Manufakturarbeiter, Schuhmacher, Bäcker, Buchbinder, Schneider, Holzarbeiter, Maurer, Zimmerer usw. Zu einigem Zwiste gaben noch die Versuche Anlass, den schon bestehenden Buchdruckerverband in die Organisation einzufügen; man bot seinem Vertreter Smalian sogar einen Sitz im Präsidium an, aber er lehnte die Wahl ab und musste sich arge Dinge darüber sagen lassen, dass die Buchdrucker die „Aristokraten" unter den Arbeitern spielen wollten. Schweitzer schloss den Kongress mit einer Rede, welche ein merkwürdiges Beispiel jener eigenen Mischung von Schmeichelei und Tyrannei war, mit welcher der seltsame Mann die Seelen der Arbeiter zu berücken wusste.

Von diesen Herbsttagen datiert die Gewerkvereinsbewegung in Deutschland; die Fortschrittler und Lassalleaner begannen sie zu gleicher Zeit; bald kamen als dritter Faktor die internationalen Kommunisten hinzu. Sie hat ihre besondere Geschichte für sich, die sich heute leider noch nicht einmal in den rohesten Umrissen schreiben lässt. Es fehlt an allem zuverlässigen Material; auch Rudolf Meyers emsiger Sammlerfleiß hat es kaum zu den dürftigsten Anfängen einer Statistik gebracht. Von den Kathedersozialisten ist gelegentlich der Wunsch ausgesprochen worden, das statistische Amt möge sich dieser Aufgabe annehmen, die keine private Forschung zu lösen vermag. Man kann diesen Wunsch aufs Lebhafteste unterstützen, ohne deshalb seine Motive zu teilen. Es ist oder es war ein verhängnisvoller Irrtum jener Schule, dass sie in der Gewerkschaftsbewegung, so wie sie in Deutschland entstanden ist und sich entwickelt hat, die Elemente zu einer gesunden Fortentwicklung unserer Arbeiterverhältnisse erblickte. Die deutschen Gewerkvereine sind keine Trades-Unions, weder in ihrem Ursprung, noch in ihrem Wesen, noch in ihren Erfolgen; sie sind eben nicht „naturwüchsig von unten nach oben entstanden." Ludwig Bamberger trifft in seinem Buche über die Arbeiterfrage den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Das Grundübel unserer speziellen deutschen Gewerkvereine sitzt in ihrem politischen Ursprung. Parteiinteresse hat sie ins Leben gerufen und nach dem oft angewandten Satze bleibt das Prinzip des Ursprungs auch das Prinzip der Erhaltung. Und nicht bloß das: ganz von selbst, wie sich die politische Tendenz der Pflege der Institution, so widmet sich die Institution wiederum der Pflege der politischen Tendenz," Das ist in der Tat der springende Punkt; es bleibt charakteristisch, dass der weitaus bedeutendste und erfolgreichste der deutschen Gewerkvereine der aus sich selbst, ohne jede Beihilfe höherer Intelligenz allein zur Förderung seiner Fachinteressen entstandene Buchdruckerverband ist.

Bekanntlich ist der politische Charakter der Gewerkvereine namentlich von fortschrittlicher Seite aufs Heftigste bestritten worden, allein ohne wirklichen Erfolg. Fast jede Nummer des „Gewerkvereins" bestätigt die Behauptung Bambergers; in seinen Spalten wird eben so, wenn auch mit mehr Anstand und Maß, so doch kaum minder verhüllt, Parteipolitik getrieben, wie in der kommunistischen Presse. In einem unbewachten Augenblicke hat es Franz Dunker auch Oktober 1873 vor seinen Berliner Wählern ausgesprochen, dass er sich an der Gründung der Gewerkvereine einzig und allein beteiligt habe, um die Arbeiter nicht von der Fortschrittspartei zu Schweitzer übergehen zu lassen, eine Naivität, die ihm den gellenden Hohn des „Volksstaat" eintrug. Das heißt in der Tat, den Teufel durch Beelzebub vertreiben; das heißt, um den Gegner am Werben von Rekruten zu hindern, ihm gleich die gedrillten Soldaten zuführen. Auf der einen Seite von der „Harmonie zwischen Kapital und Arbeit" sprechen, auf der anderen Seite Gewerk-, das heißt im letzten Grunde Strikevereine gründen, das ist denn freilich eine Harmonie, wie wenn eine Husarenschwadron über den Töpfermarkt jagt. Bekanntlich hat die brutale Logik der Tatsachen die unbequeme Gewohnheit, durch allen Phrasengoldschaum unwiderstehlich durchzuschlagen, und so waren es denn grade die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, welche kaum ein Jahr nach ihrem Entstehen die erste große Arbeitseinstellung ins Leben riefen. Wer Max Hirsch nachgesagt hat, dass er den Waldenburger Strike leichtfertig provoziert habe, der hat ihm schwerstes Unrecht getan; er hat im Gegenteil all das Elend vorhergesehen und sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, aber ihn trifft der kaum minder gewichtige Vorwurf, Geister zitiert zu haben, die er so wenig persönlich, wie prinzipiell zu bannen vermochte. Als in kürzester Frist Jammer und Not über die 7—8.000 sinkenden Arbeiter hereinbrach, wandte er sich, bezeichnend genug, an die Fortschritts-Partei um Hilfe, die denn auch 36.000 Thlr. zusammenbrachte, einen Tropfen auf einen heißen Stein. Der Strike missglückte bekanntlich so vollständig, wie nur je einer in Deutschland missglückt ist.

Dies „Grundübel" der deutschen Gewerkschaftsbewegung, der unheilbare Widerspruch, dass diese Vereine Arbeitergenossenschaften zum Schutz der Arbeiterinteressen und zugleich politische Stützen einer politischen Partei sein sollen, diese Interessenpolitik schlimmster Art muss auf die Dauer zur heillosesten Verwirrung, oder mit anderen Worten zum Kommunismus führen. Dies trifft zu auf die sozialistischen Gewerkschaften eben so, wie auf die fortschrittlichen Gewerkvereine, nur mit dem kleinen Unterschiede, dass jene schieben und diese geschoben werden; dass jene von Schweitzer mit vollem Bewusstsein der Folgen gebildet, während diese von Hirsch in genau entgegengesetzter Tendenz begründet wurden. Dies „Grundübel" erklärt es ferner, weshalb diese deutschen Vereine nicht entfernt die Großartigkeit der englischen Trades-Unions erreicht; weshalb, wenn sie auch manchen, und selbst manchen großen Strike durchfochten, durch die Gunst der Zeitumstände getragen, sie doch niemals jene zähe Geduld in Anhäufung riesiger Geldmittel zur Vorbereitung, jene umsichtige Wahl des Moments, zur Einleitung, jene eiserne Energie zur Durchführung der Strikes bewährt haben wie jene; weshalb sie mit einem Worte keine modernen Arbeitergilden, sondern Werbebureaux des Sozialismus geworden sind, Rekrutenexerzierplätze sowohl, wie Landwehrdepots der streitenden Armee des kommunistischen Zukunftsstaats. Die Gewerkschaftsbewegung, ist die unerschöpflichste Nährquelle des Kommunismus geworden; auf diesem Wege erst hat er sich tief und unausrottbar in die deutsche Arbeiterwelt eingefressen. Und deshalb ist es so sehr zu bedauern, dass der Spatenstich der Statistik erst so wenig von diesen unterirdischen Maulwurfsgängen aufgedeckt hat.

Schweitzer hatte mit dem Gewerkschaftskongresse einen Höhepunkt seiner Macht erreicht; es kam zunächst ein kleiner Rückschlag, hervorgerufen zumeist dadurch, dass er den Bogen allzu straff spannte. Fast alle Macht der Partei vereinigte sich in seiner Hand; er war so gut wie unumschränkter Gebieter des Vereins und des Gewerkschaftsverbandes; er war auch maßgebender Redakteur des Parteiorgans. Aber Herr v. Hofstetten war Mitbesitzer des „Sozialdemokrat," zu dem er fast allein das Geld gegeben hatte; das genierte Schweitzer, und durch eine höchst unsaubere Intrige gelang es ihm, seinen Freund und Kollegen auf die Straße zu werfen und sich selbst in den Alleinbesitz des Blattes zu bringen. Zu seinem Unterredakteur machte er einen jungen Polytechniker, der dazumal an der Berliner Universität studierte und noch nach dem Kriege von 1866 auf Studentenversammlungen durch drastische Beredsamkeit im nationalliberalen Sinne sich hervorgetan hatte. Er hieß Wilhelm Hasselmann. Er war ein Opfer der Broschüren Lassalles geworden, einer akademischen Krankheit, welche vor zehn Jahren viel seltener grassierte als heut zu Tage. Er hatte etwas Frisches, Keckes; die Arbeiter sahen ihn gern und nannten ihn „den langen Studenten"; auch hielt er es damals eines zukünftigen Häuptlings der roten Republik noch nicht für unwürdig, mit heilem Rocke und reinem Hemde sich auf der Straße zu zeigen. Er schrieb viel populärer und schärfer, als der arme Phantast Hofstetten, der, nachdem er sich in der unglaublichsten Weise hatte nasführen lassen, doch endlich durch das unwiderstehliche Factum seiner Depossedierung zur Besinnung gekommen war und nun einiges Lamento erhob, das im Verein ein gewisses Echo fand.

Die große Masse der Arbeiter zwar hing Schweitzer in unverwüstlicher Treue an, aber unter der „Aristokratie" des Vereins, unter den „Führern" zweiten und dritten Ranges, unter den Halb-, Viertel- und Achtelintelligenzen, welche seine Alleinherrschaft überhaupt nur mit Murren ertragen hatten, war ein gewisser Zündstoff vorhanden, der nur des richtigen Zünders harrte, um zu explodieren. Die Affaire Hofstetten an sich reichte dazu nicht aus, aber da war noch die Agitation der Internationalen, die weit bessere Chancen bot. Bebel und Liebknecht hatten in gewohnter Weise weiter gewühlt; sie hatten nach Österreich und nach der Schweiz ihre Fäden gesponnen, natürlich auch ununterbrochen gearbeitet, die beiden Fraktionen des allgemeinen deutschen Arbeitervereins zu sprengen. In Sachsen bedrängten sie hart die weibliche Linie, indes noch ohne entscheidenden Erfolg; sie mussten vielmehr um diese Zeit das Herzeleid erleben, dass der Hatzfeldtsche Präsident Fritz Mende, ein Advokatenschreiber und Mignon der Gräfin, in einer Nachwahl von der Stadt Freiberg in den Reichstag geschickt wurde, weitaus die widerwärtigste Karikatur, welche je diese erlauchte Versammlung verunziert hat. Viel wütender bekämpften sie Schweitzer, der ihre kindische Beschuldigung, dass er ein bestochener Regierungsagent sei, mit der wo möglich noch alberneren Verleumdung erwiderte, Liebknecht sei ein österreichischer Spion und Bebel erhalte Geld von den Depossedierten. Dann kam Liebknecht wieder mit seinen Versöhnungsversuchen; er reiste nach Berlin und bot Schweitzer an, den Generalrat der Internationalen, das heißt Karl Marx, zum Schiedsrichter ihrer Streitigkeiten zu machen. Natürlich wies der „Verräter" diesen Akt wahnsinnigen Selbstmordes mit Hohnlachen ab und der deutsche Apostel der Internationalen fuhr schnaubend von dannen. Es scheint indes, dass er in diesem Winter von 1868 auf 1869 die ersten Schritte in das Lager des Todfeindes getan, die ersten Verbindungen mit der unzufriedenen „Aristokratie" angeknüpft habe; sonst ist es schwer erklärlich, wie er urplötzlich Schweitzer den seltsamen Vorschlag machen konnte, derselbe solle ihm und Bebel auf der nächsten Generalversammlung des Vereins freie Rede gestatten, damit sie ihn anklagen könnten, dass er systematisch die deutschen Arbeiter zu spalten suche und im Dienste des preußischen Junkertums stehe. Schweitzer, in übermütiger Siegeszuversicht, sagte zu.

Diese Generalversammlung fand am 18. März 1869 zu Barmen statt. Sie war von 56 Delegierten besucht, den Vertrauensmännern der lokalen Gemeinden; natürlich war unter ihnen die „Aristokratie" zahlreich vertreten. Bebel und Liebknecht einer-, Herr v. Hofstetten anderseits wuschen die schmutzige Wäsche Schweitzers mit einer Gründlichkeit, welche heute natürlich nicht das geringste Interesse mehr bietet; nach heftigem Gezänk erteilten 46 Delegierte dem Vereinspräsidenten ein Vertrauensvotum, während 12 sich der Abstimmung enthielten. War dies Resultat für einen absoluten Diktator schon eine etwas bittere Pille, so verwandelte sich der Pyrrhussieg in eine vollständige Niederlage, als die Generalversammlung des Weiteren beschloss, der über ganz Deutschland hin verstreute Vereinsvorstand von 24 Mitgliedern solle auf 12 Personen reduziert und an einem Orte, zunächst in Hamburg, konzentriert werden. Das hieß, den Diktator zum gehorsamen Beamten einer Oligarchie degradieren. Schweitzer machte gute Miene zum bösen Spiele; er „versöhnte" sich sogar endlich mit Liebknecht; Beide versprachen, sich künftig in Ruhe zu lassen und friedlich neben einander ihrer Beschäftigung zu leben, andere Leute in Unfrieden zu bringen.

Zunächst gingen sie nach Berlin zum Reichstage, wo in dieser Session auch die Fraktion Schweitzer um ein Mitglied vermehrt auftrat; der Lohgerber Hasenclever aus Halver war in einer Nachwahl zu Duisburg gewählt. Es saßen jetzt sieben Sozialdemokraten in der Versammlung, gespalten in drei Fraktionen; die drei Schweitzerianer waren sämtlich im Regierungsbezirke Düsseldorf, der zweiten Heimat Lassalles, gewählt; die anderen vier, Försterling und Wende, Bebel und Liebknecht, kamen aus dem Königreiche Sachsen. Präsident Mende dokumentierte seine Auffassung des legislatorischen Berufs dadurch, dass er, während die Fraktion Schweitzer im Reichstage saß, in ihren Wahlkreisen herumputschte; in München-Gladbach richtete er am 24. April einen großartigen Krawall an, wurde verhaftet und nach Düsseldorf abgeführt. Schweitzer begründete sofort in einer fulminanten Rede den Antrag, dass das kostbare Mitglied augenblicklich reklamiert werden müsse, was denn auch nach mehrmaligen Debatten, Kommissionsberatungen, endlosem Hin- und Hertelegraphieren geschah. Damit hatte sich Schweitzer die weibliche Linie verpflichtet und die Scharte von Barmen einigermaßen wett gemacht. Dann aber beteiligte er sich mit seinen beiden engeren Genossen aufs Fleißigste an der Beratung der Gewerbeordnung; die lange Rede, welche er in der Generaldebatte hielt, ist bisher die beste parlamentarische Leistung der Sozialdemokratie. Seine Forderungen waren verhältnismäßig gering und klug berechnet auf weite Arbeiterkreise; er verlangte gesetzliche Regelung des Genossenschaftswesens; einen zwölfstündigen Normalarbeitstag für Männer, einen zehnstündigen für Frauen: Arbeitsverbot für Kinder unter vierzehn, statt unter zwölf Jahren; eine fortlaufende Statistik über Arbeiterverhältnisse. Er hat nicht diese Forderungen, aber einzelne kleine Amendements durchgesetzt, wobei ihm Fritzsche und Hasenclever sekundierten. Bebel, der sich bei diesen Debatten zum ersten male offen als Sozialdemokrat bekannte, sprach einige male, aber Unbedeutenderes; Liebknecht schwieg ganz. Was ging ihn die Gewerbeordnung an? Finsterling und Wende waren überhaupt zu dumm, um auch nur triviales Zeug über konkrete Gesetzesparagraphen zu sprechen.

So hatte sich Schweitzer wieder als der eifrigste und tüchtigste Führer bewährt. Kaum war der Reichstag im Juni geschlossen, als er mit den barmer Rebellen abrechnete. Er erließ eine Proklamation, in welcher er von der „Aristokratie" des Vereins an das „souveräne Volk" appellierte; durch Urabstimmung in allen Gemeinden wurden mit ungeheurer Majorität die Beschlüsse der letzten Generalversammlung umgestürzt und der alte Zustand wiederhergestellt. Zugleich verschmolzen sich die männliche und die weibliche Linie. Mende übernahm provisorisch das Präsidium, bis vierzehn Tage später Schweitzer nahezu einstimmig durch Urabstimmung definitiv gewählt wurde. Bebel und Liebknecht wurden wegen ihres „notorischen Verrats an der Arbeitersache" für unwürdig erklärt, jemals wieder in einer Arbeiterversammlung zu erscheinen. So war der kecke Husarenstreich von Barmen durch einen keckeren wett gemacht. Der Staatsstreich gelang glänzend; nur ein geringer Teil der Mitglieder fiel ab; die namhaftesten unter ihnen waren der Holzarbeiter Jork in Harburg, der noch mit Lassalle zusammen den Verein begründet hatte, der Lehrer Spier in Wolfenbüttel und der Kaufmann Bracke zu Braunschweig.

Bebel und Liebknecht waren aufs Äußerste bestürzt, aber sie sahen schnell genug ein, dass alle ihre bisherigen Erfolge in Frage ständen, wenn sie nicht der neu gesammelten und stark vermehrten Kraft des Gegners auch ihrerseits eine starke Organisation entgegenstellten. So beriefen sie denn in Gemeinschaft mit den abgefallenen Mitgliedern des Schweitzerschen Vereins, der Genfer Sektion der Internationalen, österreichischen und schweizerischen Arbeitervereinen etc. einen Kongress zum 7. August nach Eisenach behufs Konstituierung einer sozio-demokratischen Arbeiterpartei.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.