Jüdische Realpolitik

Autor: Zentralbureau der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, jüdischer Abstammung, Lasker, Bamberger, Simson, Achille Fould, Naquet, Josef Reinach, Judenpolitik, Moses, Esra, Theodor Herzl
Die Juden als Politiker

Zu den Mängeln, die die Verkleinerer des Judentums uns mit Vorliebe zuschreiben, gehört das Fehlen jeglicher staatsmännischen Begabung.

Ist dieser Vorwurf begründet? Seit Jahrhunderten haben die Juden alle zivilisierten Völker, die sie zur aktiven Teilnahme am politischen Leben zuließen, mit Staatsmännern beschenkt. Die Namen Negro und Abarbanel erinnern an jene glänzende Folge jüdischer Finanzminister und vertrauter politischer Ratgeber, die im 15. Jahrhundert an den Höfen von Portugal, Spanien und Neapel wirkten, ohne der Religion ihrer Väter untreu zu werden. In den modernen konstitutionellen Staaten mussten die Juden allerdings — es gibt einen Fortschritt in der Weltgeschichte — vielfach den Taufschein präsentieren, wenn sie ein Minister-Portefeuille erhalten sollten. An der Spitze dieser neuzeitlichen Minister jüdischer Abstammung steht ein staatsmännisches Genie: Disraeli. Crémieux und Raynal in Frankreich, Glaser und Unger in Österreich, Ottolenghi und Luzatti in Italien, Oscar Strauß in Nordamerika schließen sich ihm an. Selbst in Preußen scheint die Zeit der jüdischen, wenn auch noch nicht die der mosaischen Minister gekommen zu sein . . .

Und wie viele hervorragende Parlamentarier, die auf die Politik ihrer Länder einen bestimmenden Einfluss ausübten, hat die Judenheit seit der Emanzipation hervorgebracht! Lasker, Bamberger, Simson, Achille Fould, Naquet und Josef Reinach, diese Namen drängen sich von selbst in die Feder. Im englischen Parlament wirken 16, im Italienischen 13, im österreichischen 17, im ungarischen 23 jüdische Abgeordnete und selbst in der ersten russischen Duma haben von den 12 jüdischen Deputierten zwei eine führende Rolle gespielt: Winawer und Herzenstein.

Wenn es neben den Staatsregierungen und den Volksvertretungen noch einen Faktor gibt, der die Politik beeinflusst, so ist es die Presse. Gerade das politische Ressort aber wird in der Tagespresse der meisten Länder vorwiegend von jüdischen-Redakteuren geleitet. Die Regierungen mögen über diese „unverantwortlichen Politiker“, deren unabhängiger und kritischer Sinn ihnen so oft unbequem wird, noch so sehr die Nase rümpfen, politische Einsicht können sie ihnen nicht absprechen; sie würden sonst ihre Meinungsäußerungen nicht mit jener Aufmerksamkeit verfolgen, die so manches Zitat von der Ministerbank her beweist.

Haben aber die Juden, besonders seit der Emanzipation, politische Begabung an den Tag gelegt, so drängt sich unwillkürlich die Frage auf: warum haben sie das Schicksal ihrer eigenen Gemeinschaft nicht günstiger zu gestalten gewusst? Warum ist die Majorität der Juden heute noch schutzlos den furchtbarsten Heimsuchungen preisgegeben?

Es gibt dafür zureichende Erklärungen. Es steht schlecht um die Juden vor allem darum, weil den jüdischen Massen nicht jene geistige Elastizität eigen war, die ihre politischen Talente auszeichnet. Jahrtausendelange Knechtung, völliger Ausschluss vom politischen Leben und eine eigentümliche geistige Schulung haben den angeborenen politischen Instinkt der großen jüdischen Bevölkerungsgruppen verwirrt. In allen Epochen des Druckes und seiner Nachwirkungen beobachten wir, dass dieses aktivste aller Völker inbezug auf sein eigenes Schicksal einer fatalistischen Passivität sich hingibt, dass diese praktischste aller Rassen auf dem Gebiete der Politik zu Schwärmereien und Selbsttäuschungen hinneigt. Es steht schlecht um die Juden auch darum, weil sie fast alle ihre staatsmännischen Talente — auch die großen Sozialistenführer wie Marx und Lassalle kommen hier in Betracht — an die anderen Völker abgetreten haben. Insoweit aber Männer von politischer Begabung sich in den Dienst ihrer bedrückten Brüder gestellt, glaubten sie seltsamer Weise in der Judenpolitik Prinzipien befolgen zu müssen, die der irrigen Geistesrichtung der Massen entgegenkamen.

Aber nicht zu allen Zeiten war es so. So oft die Juden sich dazu aufrafften, ihr unglückliches Schicksal zu überwinden, sehen wir Staatsmänner unter ihnen auftauchen, die ihr Genie ihrem eigenen Stamme widmen, die die Bahnen einer erfolgreichen Politik betreten und die jüdischen Massen mit sich fortzureißen wissen. Solche jüdische Staatsmänner waren in früheren Epochen Moses, Esra und Nehemia; ein solcher war in unseren Tagen Theodor Herzl.

Theodor Herzl (1860-1904), österreich-jüdischer Schriftsteller und Publizist

Theodor Herzl (1860-1904), österreich-jüdischer Schriftsteller und Publizist