Die Politik der Fleischtöpfe

Frohnvögte hatte man über sie gesetzt, die ihnen das Leben bitter machten mit harter Arbeit; aber je mehr man sie drückte, desto mehr breiteten sie sich aus. Schiphra und Puah, die hebräischen Hebammen, erhielten den Befehl, alle männlichen Neugeborenen zu töten, und als sie sich lässig zeigten, ließ man die neugeborenen Söhne ins Wasser werfen.

Von alledem befreiten sie Moses und Aron. Aber als sie nach der Wüste Sin kamen — es waren kaum einige Wochen seit dem Auszug verstrichen — da murrten sie und sagten: „Wären wir doch in Ägypten geblieben, wo wir an den Fleischtöpfen saßen und hatten die Fülle Brod zu essen.“


Das war die Politik des jüdischen Volkes an seiner Wiege; denn diese Wiege stand im Exil. Jahrhunderte schweren Frohndienstes hatten den Sinn der Nachkommen Josephs, des großen Staatsmannes, abgestumpft und versklavt. Wie viel mussten sie gelitten haben, ehe sie in so kurzsichtiger und erniedrigender Weise raisonnieren konnten: „Was tut es, wenn wir Knechte sind, was tut es, wenn die Kinder hingemordet werden? Wir haben zu essen. Wo man zu essen hat, dort bleibt man.“

Wir modernen Freiheitsmenschen, wir Bürger konstitutioneller Staaten dünken uns heute weit hinaus über diese Sklavenpolitik. Sie steckt uns noch im Blute. Es ist eine Politik gar gefährlicher Art, denn sie wurzelt in der Achtung vor dem Bestehenden; sie lehrt die tatsächlichen Verhältnisse trotz der unvermeidlichen Schattenseiten ertragen. Die nüchterne Vernunft, der gesunde Menschenverstand scheinen diese Politik zu empfehlen und ein mächtiger Bundesgenosse erwächst ihr in dem optimistischen Glauben, zu dem die menschliche Natur so hinneigt: Es wird besser werden, alles geht im Leben vorüber.“ Kurzum, es ist scheinbare Realpolitik und darin beruht ihre Macht.

Mehr als je haben wir heute Anlass, an unser ägyptisches Exil zurückzudenken. Ist nicht im Osten ein neues, gigantisch vergrößertes Mizraim entstanden? Und siehe da, wenn wir genau hinblicken, Erkennen wir sie auch wieder, die unverfälschte Politik der Fleischtöpfe. Wir haben es in uns mitgeschleppt durch die Jahrtausende, das Erbteil Ägyptens. Was predigen wir denn den Juden des Ostens, wenn sie mit zerfetzten Kleidern und frisch verbundenen Wunden an unsere Türen klopfen, was empfehlen wir in dringenden Aufrufen den Kindern gemordeter Eltern, den Vätern geschändeter Töchter? „Bleibet zu Hause? Dort habt Ihr wenigstens zu essen. Wo anders müsst Ihr verhungern.“ Wir finden nicht den Mut, unseren Brüdern ein neues, freies Leben jenseits ihrer Hölle zu empfehlen. Es ist immer dieselbe ängstliche, energielose Wirklichkeitsbejahung, immer dieselbe scheinbar praktische, angebliche Realpolitik, die in ihrer Kurzsichtigkeit die Leiden verewigt und schließlich zum Untergange führen müsste. Der jüdische Durchschnitts-Politiker hat sich noch nicht verändert.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Realpolitik