Jüdische Realpolitiker

David und Salomo, die erfolgreichsten jüdischen Politiker, waren Lenker eines unabhängigen Staates; wir können — wird man uns einwenden — ihre Politik in unserer heutigen Lage nicht befolgen.

Aber worin lag die Größe Mosis, der den ersten Staatsmännern aller Zeiten beigerechnet wird und gleich uns im Exil geboren war, worin die anderer Exilpolitiker, eines Esra und Nehemia? Ihre Geistesrichtung bildete den direkten Gegensatz zu der ihrer Stammesgenossen. Bedachten jene mit kurzsichtigem Wirklichkeitssinn nur die momentane Lage, so kennzeichnet diese vor allem ihre politische Weitsichtigkeit. Mit Adlerblick verfolgten sie die Vergangenheit ihres Volkes, machten sich die Lehren der Geschichte zu Nutze und konnten so auch in die ferne Zukunft vordringen. Von diesem hohen Ausblickspunkte aus ersahen sie eine ganz andere Wirklichkeit, als die ängstlichen Freunde der Fleischtöpfe. Waren jene um die Erhaltung kleinlicher, ungewisser, vorübergehender Vorteile bemüht, so strebten diese die Schaffung dauernder Bedingungen einer gesunden Volksexistenz an. Versuchen es die Juden im Exil, das Moment der Rassendifferenz tunlichst zu verwischen, so gehen die Realpolitiker von dieser realsten aller Tatsachen aus, sie machen das nationale Bewusstsein gleich den großen Staatsmännern anderer Völker, zum eigentlichen Eckstein ihres Gebäudes. Ihre große Kunst besteht darin, dass sie unter komplizierten Verhältnissen die richtige, politische Diagnose stellten und dann Kraft und Mut genug finden, um das richtige Heilsystem, und sei es noch so radikal, durchzuführen.


Hatten die Hebräer in Ägypten nicht eine Blütezeit durchlebt? War es nicht möglich, dass sie unter einem neuen Pharao wieder günstige Bedingungen erlangten? Hätte Moses seine geistige Überlegenheit nicht dazu verwenden können, um das Schicksal der Juden in Ägypten zu verbessern? Ging es den Juden in der babylonischen Gefangenschaft nicht so gut, dass nur ein Bruchteil von ihnen geneigt war, das Exil zu verlassen? Saß Nehemia nicht selbst am Tische des Königs Arthasastha? Und doch erkannten diese Männer, dass die Lage eines Volkes, selbst unter momentan günstigen Verhältnissen, in fremden Ländern auf die Dauer unhaltbar sei, dass sie immer wieder die furchtbarsten Verfolgungen herbeiführen müsse. Sie wollten nicht, wie die Bibel voraussieht, dass Israel Gewalt und Unrecht leide sein Leben lang, dass es Tag und Nacht sich fürchte und seines Lebens nicht sicher sei, Häuser baue, aber darinnen nicht wohne, ein Scheusal, ein Sprüchwort und ein Spott sei unter allen Völkern.

Darum gaben sie sich nicht mit Palliativen ab, sondern erfassten das Problem in seinem tiefsten, politischen Kern; darum wählten sie, bevor es zum Äußersten kam, freiwillig eine radikale Lösung: den Auszug und die Schaffung eines nationalen Zentrums.

Das mag in längst vergangenen Zeiten am Platze gewesen sein — könnte man einwenden — da die Juden noch ein kräftiges nationales Leben führten. Aber sehen wir nicht denselben Gedankengang bei unseren Staatsmännern in allen späteren Epochen? Was schwebte Joseph, dem Fürsten von Naxos vor, als er seinen Einfluss beim Sultan dazu ausnutzte, um in dem verödeten Palästina seine Stammesgenossen wieder ansiedeln zu dürfen? Schweifte selbst der Blick des getauften Disraeli nicht immer wieder zur alten Heimat seines Volkes zurück?

Ja mehr noch: haben nicht gerade die größten jüdischen National-Philantropen, Baron Edmund Rothschild und Baron Hirsch, von einem richtigen, realpolitischen Sinn geleitet, einen Standpunkt eingenommen, der dem der Zerstreuungspolitiker direkt entgegengesetzt ist? Hatten ihre groß angelegten Hilfswerke nicht den Zweck, die Juden dauernd anzusiedeln, und zwar in geschlossenen Massen, wie es ihr Charakter als Volk verlangt? Woran dachten diese zwei großen Juden im letzten Grunde? Doch nur an dasselbe, was auch Hess und Herzl planten: an einen modernen Auszug der bedrückten Juden aus den Ländern der Sklaverei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Realpolitik