Nationale Philantropie

Mit brutaler Faust hat das Schicksal die selbstgefälligen Wahnbilder der modernen Judenpolitik zerstört. Die Reihe blutiger Katastrophen, welche seit dem Beginne der achtziger Jahre die östliche Judenheit aus ihren Wohnsitzen hinausdrängten, blieb nicht ohne umgestaltende Wirkung auf das Verhalten der offiziellen jüdischen Kreise des Westens. Mit der Überlieferung der absoluten Passivität musste endlich gebrochen werden: man musste dem übergroßen Elend steuern.

Aber wie?


Die Antwort lautete: Philantropie. Allerdings ist es eine Philantropie, die unter ganz besonderen Umständen geübt wird, die eine Volkshälfte der anderen zuteil werden lässt, der ganz bestimmte Gesichtspunkte zu Grunde liegen und die daher mit der Politik alles gemeinsam hat — ausgenommen den Namen.

Diese moderne jüdische National-Philantropie, die um Gottes willen keine Politik sein will, ist eine Politik, die der früheren unbedingt überlegen ist. Vor allem darum, weil sie an Stelle der mittelalterlichen Separation der zerstreuten Volksteile, sowie der starren Unbeweglichkeit, Organisation und Aktion setzt. Sie bedeutet einen immensen Fortschritt, weil sie die ökonomisch leistungsfähigsten Elemente der Judenheit in den Dienst der Bedürfnisse der Gesamtheit stellt, weil sie die organisatorischen Kräfte zu unermüdlicher, selbstloser Tätigkeit anspornt und die Opferfreudigkeit weiter Kreise zu einer früher ungekannten Höhe emporfacht. Beispiellos steht in der Geschichte des Exils die rührige Tätigkeit der Alliancen, der Hilfsvereine und der Hilfskomitees, die grandiose Opferwilligkeit der jüdischen Wohltäter da. Ein glanzvolles Kapitel, trotz des tragischen Untergrundes, aber doch nur ein Kapitel der Illusionspolitik.

Dass den Bedrängten unmittelbar nach dem Eintreten der Katastrophe mildtätige Hüte geboten wird, — wer könnte dies bemäkeln, wer sollte es nicht anerkennen? Aber dass das philantropische System sich prinzipiell darauf beschränkt, dass es programmatisch einer wirklichen, dauernden Lösung der Judenfrage aus dem Wege geht, dass es allerhöchstens zu halben Mitteln greift, darin beruht seine Schwäche und Unhaltbarkeit. Die ganze sog. Abhilfeaktion trägt den Stempel des Illusionismus, denn ihre Voraussetzungen, ihre Ziele und ihre Methode wurzeln in der überlieferten, irrigen Auffassung der Judenfrage. Bestimmend ist für sie die Empfindung, dass der Antisemitismus in allen seinen Formen eine versiegende Bewegung Bei, dass selbst die mittelalterliche Judenverfolgungen an Grauen übertreffenden russischen Massacres nur ein letztes Aufflackern des Judenhasses bedeuten. Man geht von der Überzeugung aus, dass binnen Kurzem der Judenheit in allen Ländern ein ähnliches Schicksal beschieden sein werde, wie den kleinen Judengruppen im europäischen Westen: dass dies nur eine Frage der Milderung der religiösen Gegensätze und der wirtschaftlichen Missstände sei. Für die Abstumpfung des konfessionellen Fanatismus sorgt die Zeit; zur Beseitigung der wirtschaftlichen Gefahren soll die Philantropie beitragen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Realpolitik