Rettungsweg oder Utopie

Unsere Scheinrealisten versuchen es, den Spieß umzukehren um gegen diese einzig wirksame Lösung den Vorwurf zu erheben, dass sie eine Utopie wäre. Ohne genauere Kenntnis der Verhältnisse Palästinas und der Türkei wiederholen sie immer wieder, dass die Juden sich nicht den Gefahren eines autokratischen Regimes aussetzen dürfen, dass Unterhandlungen mit der Türkei zu keinem positiven Resultate führen können, dass Palästina ein ödes und zu kleines Land sei. Unleugbare Tatsachen widerlegen diese Einwürfe: Palästina allein, das für die verfolgten Juden Russlands und Rumäniens das nächste, am billigsten zu erreichende Einwanderungsgebiet ist, kann das Gros der emigrationsbedürftigen Massen aufnehmen; über 8.000 Juden sind im Vorjahre nach Palästina eingewandert; bei einiger Erleichterung würde die Zahl der Einwanderer von Jahr zu Jahr steigen. Die Nachbarländer Palästinas bieten unbegrenzte Einwanderungsmöglichkeiten; sein Boden hat die legendäre Fruchtbarkeit bewahrt; das blühende autonome Gebiet der Maroniten beweist, dass mitten im autokratischen Türkenreiche dauernd gesicherte politische und wirtschaftliche Oasen existieren können; wir Juden wurden, wie wild auch der Völkerkampf im Orient tobte, von der türkischen Regierung stets mit wohlwollen behandelt.

Und doch ist ein jüdisches Zentrum eine Utopie — ruft man — denn die Juden sind kein staatenbildendes Element! Wir können die theoretische Untersuchung der Begabung zur Staatenbildung ruhig bei Seite lassen. Staatenbildend ist eben die Kollektivität, die einen Staat bildet. Uns genügt die Tatsache, dass die Juden se;' über einem Vierteljahrhundert mit zäher Energie und wachsendem Erfolge an der Bildung eines Gemeinwesens in Palästina arbeiten; und die weitere, dass sie auf ihrer jahrtausendelangen Wanderschaft immer wieder große, staatenähnliche Ansammlungen innerhalb anderer Nationen bildeten und immer mit größter Energie ihre innere Autonomie zu wahren wussten. Während des ganzen Exils waren die Juden nichts als ein landloser, wandernder Staat. Hat man sich alle diese Tatsachen in Erinnerung gebracht; wird man durch die Massenemigration der östlichen Juden, die steigenden Einwanderungsschwierigkeiten und die Gefahren der Judenkonzentration in Amerika zur Überzeugung gedrängt, dass eine Heimstätte für die Juden auf dem alten, eigenen Boden angestrebt werden müsse, so kämpft man um den letzten Rest jüdisch liberaler Denkgewohnheiten: die Neubesiedelung Palästinas durch Juden — behauptet man — darf nie einen politischen Charakter annehmen; sonst wird sie utopistisch.


Utopistisch erscheint uns vielmehr, den Tatsache und der Logik aus dem Wege gehen zu wollen. Die Judenfrage ist eine politische Frage und kann nur auf politischem Wege gelöst werden. Daran ist nicht zu rütteln. Versuchen wir, in der Türkei nach der alten Schablone einfach eine Judenkonzentration zu schaffen, so muss, ob wir es wollen oder nicht, dort, wie überall, eine Judenfrage entstehen, deren politischer Charakter offener als überall zu Tage treten wird. Keine Utopie mehr. Wir suchen den Rettungsweg.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Realpolitik