Die Politik der Erlösung

Ein neues Element tritt neben dem eben gekennzeichneten in der Politik unseres Volkes seit seinem staatlichen Untergang auf. Es ist dem vorigen verwandt, es trägt wie jenes den Stempel des Exils und doch ist es anders gefärbt. Die dumpfe Trostlosigkeit ungebildeter Sklaven hat der sehnsüchtigen Hoffnung einer Nation Platz gemacht, die eine Kultur und einen Staat geschaffen. Der Glaube an die dereinstige Erlösung durch einen Messias ist der Leitstern der neuen Politik, aber ihr erstes Gebot ist das passive Abwarten dieses göttlichen Wunders, das die tätige Politik anderer Völker ersetzen soll.

Die Verzweiflung eines Zeitalters, dem jede Aussicht auf baldige nationale Großtaten benommen war, hat diese Trost-Politik geschaffen, nicht der weltkundige Sinn tatendurstiger Staatsmänner. Die Propheten, in denen noch wahrhaft staatsmännischer Geist lebte, zeichneten einen praktischen, rationellen Weg zur politischen Wiederherstellung vor: den der unablässigen tätigen Bemühungen um die Wiederbevölkerung Palästinas und die Wiedererwerbung des heiligen Bodens. Die messianische Tat sollte nur die natürliche Krönung des Werkes von Generationen sein. Unsere frommen Träumer haben eine andere Interpretation zur geltenden zu machen gewusst: die starre Unbeweglichkeit der Volksgesamtheit, das Abwälzen eines politischen Riesenwerkes auf einen Einzigen. Aber wie viel Mühe sie sich auch gaben, diese Wahnpolitik als religiöses Gebot zu begründen, sie ist doch nichts anderes als der Ausdruck erlahmter nationaler Energie, als die Selbstentschuldigung des Ghettogeistes.


Mit einer leichten Nuance hat sich auch diese politische Tendenz bis heute erhalten. Die Führer der emanzipierten Judenheit haben den Glauben an das messianische Wunder aufgegeben, aber das Widerstreben gegen jedes tätige Eingreifen, gegen alle vorbeugenden Maßregeln ist ihnen geblieben. Auch sie erwarten eine Erlösung der Juden durch die Zeitläufe, statt selbst an einer großzügigen Lösung der jüdischen Frage zu arbeiten. Sogar als die Periode der letzten, blutigen Judenverfolgungen anbrach, als die Gefahr schon offenkundig drohte, als schon Hilferute ertönten, ja als bereits furchtbare Katastrophen sich ereignet hatten und die Wiederholung genau bekannter Schrecknisse bevorstand, blieb immer noch die Parole des unbeweglichen Abwartens maßgebend. Was man früher mit religiöser Ergebenheit als Buße für die Sünden der Väter hingenommen, das ließ man jetzt aus ererbter geistiger Gewohnheit untätig über sich und seine Brüder hereinbrechen. „Nur keine Einmengung! Nur kein Alarmieren! Sonst schaden wir ihnen und uns.“ Der Würger hielt die Hand an der Gurgel des Opfers, aber noch immer hieß es: „Quieta non movere!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Realpolitik