Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen Bd1

Natur- und Völkerleben in Kur-, Liv- und Estland
Autor: Kohl, Johann Georg (1808-1878) deutscher Schriftsteller, Ethnograf und Geograf, Erscheinungsjahr: 1841
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ostseeprovinzen, Kurland, Livland, Estland, Naturleben, Völkerleben, Deutschland, Deutsche, Russland, Russen
Vorwort

Die Kolonien, welche die Deutschen im zwölften und dreizehnten Jahrhunderte an den östlichen Küsten des baltischen Meeres stifteten, und die Gebiete, welche sie hier in den Ländern der Letten und Esten erwarben waren ehedem, bevor sie dem russischen Szepter anheim fielen, besser in unserem Vaterlande bekannt als jetzt. Sie erkannten einst die Oberhoheit des deutschen Kaisers an, und die livländischen Städte standen in engem Bruderbunde mit der deutschen Hansa. Sogar noch im vorigen Jahrhunderte war der Verkehr zwischen ihnen und Deutschland weit lebhafter; Deutsche aus dem Mutterlande flogen hier aus und ein, und sogar die Messen und Binnenmärkte des Landes*) wurden von deutschen Kaufleuten wie andere deutsche Marktplätze besucht.

*) Z. B. die nicht unbedeutende Mitauische Messe.
Durch die russische Besitzergreifung sind jetzt die Provinzen uns ferner gestellt als je zuvor. Die deutschen Kaufleute, welche die Seehäfen besuchen, dringen nicht in das Innere des Landes, und die Kenntnisse derjenigen Eingeborenen, welche wir alljährlich aus jenen Provinzen in ziemlich großer Anzahl hervortauchen sehen, um sich auf unseren Bildungsanstalten zu belehren oder um sich an der schöneren Natur unseres Vaterlandes zu erfreuen, gelangen nicht zu öffentlicher Kunde. Es gibt daher nur Wenige bei uns, die eine deutliche Vorstellung von dem Leben und Treiben in jenen in so vielfacher Hinsicht, durch ihre bunte Bevölkerung, durch ihre eigentümliche Natur, durch ihre interessante Vergangenheit und durch ihre bedeutungsvolle Zukunft merkwürdigen Gegenden haben*).

*) Weil man die bezeichneten Provinzen „deutsche Provinzen“ nennt, so meint Mancher, dass in ihnen Alles so deutsch sei wie bei uns, und weiß nichts von der lettischen und estnischen Grundbevölkerung. Andere glauben, weil man in neuerer Zeit viel von der Russifizierung dieser Landschaften gesprochen hat, dass dort schon Altes russisch spreche und denke. Die Fragen, welche in Deutschland selbst die Gebildeten über jene deutschen Kolonieländer tun, zeugen in der Regel von einer nicht sehr genauen Bekanntschaft mit den Zuständen derselben. Wie außerordentlich Viele es aber bei uns geben mag, denen sogar Alles, was man darüber vorbringen konnte, neu sein möchte, erfuhr ich einst auf einem Spaziergange in einer sehr volkreichen und hoher Bildung sich rühmenden Stadt Deutschlands. Ich folgte zweien Damen, die allem Anscheine nach, wenn auch nicht dem Stande der Weisen und Gelehrten, doch keiner ungebildeten Klasse der Gesellschaft angehörten. Als wir, so hinter einander hergehend, bei einem Bretterhaufen vorüber kamen, das man auf einem öffentlichen Platze baute, fragte die Eine die Andere: „Nicht wahr, hier sollen Samojeden gezeigt werden?“ — „Ja, ich glaube,“ erwiderte die Andere, „ich habe gehört, dass auch ein paar Finnen oder Kur- und Estländer dabei sein sollen.“

Wir haben es in den folgenden Aufsätzen versucht, unseren deutschen Landsleuten eine solche deutliche Vorstellung zu geben. Wir durchstreiften Kur-, Liv- und Estland in verschiedenen Richtungen, hielten uns an mehren Orten längere Zeit auf und reden daher mit wenigen Ausnahmen fast überall als Augenzeuge. Die einzigen von uns geschilderten Orte, die wir nicht selbst besuchten, sind Rewal, Pernau, Windau und die Insel Runoe. Bei der Schilderung Rewals legten wir vornehmlich einen allerliebst geschriebenen Aufsatz aus einem in Dorpat herauskommenden Journale zum Grunde. Die meisten Nachrichten über die Insel Runoe verdanken wir einem esthländischen Freunde, der jenes Eiland mehre Male besuchte.

Über Pernau und Windau brachten wir Das vor, was Jedermann in diesem Lande über diese Städte weiß.

Auch die Nachrichten über das Deutschtum in Finnland verdanken wir zum Teil einem finnländischen Bekannten.

Bei der Bearbeitung der Artikel: „lettische und estnische Poesie“ unterstützten uns ebenfalls mehre baltische Freunde durch Mitteilung von Volksgedichten aus inländischen Blättern oder eigenen Sammlungen.

Ein Freund aus Riga eröffnete uns seine Sammlungen kur- und livländischer Altertümer mit aufopfernder Güte zu willkürlicher Benutzung.

Auch haben uns mehre andere gütig gesinnte Männer durch liberale Mitteilungen ihrer Büchersammlungen vielfach zum wärmsten Danke, den sie hiermit freundlich entgegennehmen mögen, verpflichtet.

Dass nun nichtsdestoweniger trotz unserer im Ganzen nicht ungünstigen Stellung Das, was wir dem Publikum in den folgenden Skizzen bieten, im Vergleich mit der Reichhaltigkeit und dem Umfange des Stoffes so dürftig sich darstellt, wenn es auch allerdings manches für den deutschen Leser Neues enthalten möchte, davon sind eben die außerordentlichen Schwierigkeiten Ursachen, die es überhaupt hat, sich die Benutzung aller der Quellen zu verschaffen, welche für die Kenntnisse eines Landes fließen.

Der Bücher, Journale, gedruckten und nicht gedruckten Aufsätze, in welchen interessante und nützliche Bemerkungen über die Ostseeprovinzen niedergelegt wurden, sind jetzt schon so viele, dass es eine Riesenarbeit wäre, aus dieser Masse alle genießbaren Körner herauszusuchen und die Quintessenz daraus ans Tageslicht zu ziehen. Mit Bedauern gestehen wir, dass uns viele nützliche Schriften entgingen oder unzugänglich waren.

Einem einzelnen Beobachter steht nur immer ein Paar Augen zu Gebote. Mit Schrecken gedenken wir der vielen tausend Augen, welche ebenfalls jene Provinzen sahen und sie auf ihre Weise sahen, und von denen wir leider nur die wenigsten in Kontribution zu setzen vermochten.

Nicht ohne besonderen Schmerz können wir an die Tausende von lettischen und estnischen Liedern denken, welche in den Privatsammlungen einiger Prediger des Landes versteckt sind, und nicht ohne Schamgefühl die wenigen Gedichtchen betrachten, in deren Besitz wir kamen und die unseren Bemerkungen über die Dichtkunst jener, Völker zum Grunde liegen.

Über den deutschen Dialekt der Ostseeprovinzen existieren mehre nicht eben sehr bekannt gewordene Aufsätze, die wir uns leider ebenfalls nicht verschaffen konnten. Unsere Bemerkungen über diesen Gegenstand beruhen daher lediglich nur auf unseren eigenen Sammlungen und auf denen eines Freundes, der uns die seinige zur Komplettierung der unsrigen gütig mitteilte.

Die Sitten der Esten und Letten sind natürlich in den verschiedenen Gebieten, die sie bewohnen, sehr verschieden, und es war daher außerordentlich schwer, ein allgemeines, überschauliches Bild davon zu geben, um so mehr, da uns nicht alle Details bekannt wurden.

Besonders groß werden unsere Besorgnisse, wenn wir an die Leser denken, welche unsere Skizzen in denjenigen Ländern, die wir zu beschreiben versuchten, finden könnten. Der Inländer blickt die Dinge mit ganz anderen Augen an als der reisende Fremdling. Das Detail seiner Nachbarschaft kennt er besser, das Ganze aber überschaut er oft weniger gut als dieser. Viele Eigentümlichkeiten fallen ihm gar nicht auf, weil er sie alltäglich als etwas ganz Gewöhnliches sieht, und so bleibt ihm oft das Außergewöhnlichste uninteressant, während der Reisende mit seinem durch anderweitige frische Anschauungen geschärften Beobachtungsvermögen die Kontraste und originellen Färbungen leichter entdeckt. Dazu gehört der Inländer immer irgend einer Partei an und fühlt sich daher selbst durch die unparteiischesten Urteile des Fremden oft verletzt.

Wir bitten unsere Bekannten und Freunde an der Ostsee, alle diese indem Vorigen berührten und noch manche andere nicht von uns erwähnte Schwierigkeiten bei der Lektüre unserer Mitteilungen vor Augen zu haben. Sie werden uns dann vielleicht zugestehen, dass wir uns wenigstens redlich bemühten, überall eine möglichst richtige Ansicht der Dinge zu gewinnen und ein möglichst gerades und zugleich doch nach allen Seiten hin rücksichtsvolles Urteil zu fällen.

Zugleich möchten wir wünschen, dass sie unsere Bitte um Zusendung von etwaigen Berichtigungen erhörten und dass es ihnen möglich wäre, uns reichlicherer Beiträge und Mitteilungen über ihr Vaterland zu würdigen, damit wir dadurch in den Stand gesetzt würden, vielleicht dermaleinst eine umfassendere und tüchtigere Arbeit darüber zu liefern, als diese flüchtigen Skizzen und dürftigen Bruchstücke es sind, für die wir um Nachsicht und freundliche Aufnahme bitten.
Dresden,
im Mai 1841.
Der Verfasser

Kohl, Johann Georg (1808-1878) deutscher Schriftsteller, Ethnograf und Geograf

Kohl, Johann Georg (1808-1878) deutscher Schriftsteller, Ethnograf und Geograf