Die Meerfahrt

Eines Tages am frühen Morgen ereignete es sich, dass ich das tat, was alle Leute, die nicht eben Langschläfer sind, kurz vor oder nach Sonnenaufgang zu tun pflegen. Ich machte einen Versuch, mich aus den Betten zu erheben, in denen ich mich beim Erwachen vergraben fand.

Mein Kopf war außerordentlich benommen, und als ich nich aufrichtete, bemerkte ich, dass ich hin und her taumelte. Ach wusste nicht, wie mir geschah. Hatte während der Nacht ein böser Geist es mir angetan, oder war ich krank?


Ich wollte mich an der Wand festhalten. Aber ich taumelte nichtsdestoweniger. Die Wand schwankte mit mir. Zu meiner nicht geringen Verwunderung bemerkte ich, dass mein ganzes Zimmer, welches unglaublich eng war, eben so hin und her schaukelte.

Erschreckt sprang ich an das kleine Fenster, das sich über meinem Bette befand, und blickte auf die Straße hinaus, um zusehen, ob vielleicht ein Erdbeben die Stadt zerstöre. Aber als ich nichts als Wasserbeben, schäumendes Nass und brausende Wogen rund umher gewahrte, da— fiel mir auf einmal wieder bei, was ich in ein paar schlaftrunkenen Augenblicken vergessen hatte und was ich dem Leser, damit er sich dies Alles erklären könne, berichten muss, — dass ich nämlich nicht mehr in dem Wirtshause zu den drei Türmen in der löblichen Hansestadt Lübeck quartierte, sondern vielmehr mich auf der kleinen Rostocker Brigg Louise, die unter der Leitung des kundigen Kapitäns Schmidt mitten auf der Ostsee hinsteuerte, befand.

Wir, d. h. der Kapitän Schmidt, ich, sein Passagier, und dann noch ein zweiter Passagier, den ich als patriotischer Niederdeutscher schon seines niederdeutschen Namens wegen — er hieß — husen — von vorn herein lieb gewann, — hatten am Abende zuvor in Travemünde die Anker gelichtet und waren mit günstigem Winde bereits auf der Meereshöhe zwischen Giedersbye auf Falster und Darser-Ort in Pommern angekommen, wie uns der Steuermann, der in unser Schlafkabinett blickte und uns zum Kaffee einlud, so eben freudig zurief.

Wir kleideten uns an, nahmen mit unserem ehrenwerten Kapitän Schmidt in der Kajüte den Kaffee ohne Sahne, frühstückten mit ihm Lachs, Chester-Käse, Porter und andere speisbare Überreste, die er noch von seiner Reise von London nach Lübeck in seinen Schränken als Leckerbissen verwahrte, gingen dann auf dem Deck in frischer Morgenlust spazieren und sahen uns die vorübersegelnden Schiffe und Inseln an.

Das Wetter blieb den ganzen Tag über das beste von der Welt, und als Abends die majestätische Sonne prächtig und farbenreich in im Ozean hinabgetaucht war, stand auch sogleich der silberne Mond fix und fertig, hell rundlich und in Gesellschaft aller seiner goldenen Sterne am Himmel.

Wir hatten wirklich außerordentliches Reiseglück. Denn so wie in den ersten 24 Stunden, so ging es auch während der zweiten, dritten und vierten. — Tags über ununterbrochen Sonnenschein, Nachts beständig Mondesschimmer. Tags und Nachts fortwährend eine frische Brise aus Südwesten, von allen 64 Richtungen der Windrose gerade diejenige, die wir am besten benutzen konnten. Denn wir steuerten — um auch dieses dem wissbegierigen Leser nicht zu verschweigen — nach Nordosten auf die Küsten Kurlands und zwar auf den Haupthafen dieser Küste Libau zu.

Wir beiden Passagiere und unser Kapitän teilten ununterbrochen im freundschaftlichsten Triumvirate unsere Porterflaschen, unsere Lachsschnittchen, unsere Lübeck'schen Weißbrodkrümchen, so wie die engen Räume unserer kleinen Kajüte, und verbrachten auf diese Weise ein viertägiges Stück Leben, wie es Einem so friedlich und anmutig auf der stürmischen See wie auf dem nicht minder unruhigen Festlande selten zu Teil wird. — Bei den Inseln Femern, Laaland, Falster, Moen, bei den Lichtern von Rügen und dem Leuchtturme von Bornholm, so wie bei allen übrigen bemerkenswerten Punkten trafen wir daher auch so regelmäßig und pünktlich ein, wie eine Diligence auf den Stationen der Festland-Chausseen.

Endlich, am Morgen des vierten Tages rief uns der Kapitän Schmidt aufs Deck und bat uns, ihm zu sagen, was wir in der See über der Spitze des Bogspriets entdeckten. — Es war eine undeutliche Schattierung am äußersten Rande des Horizonts. Wir nahmen das Fernrohr zur Hand, die Schattierung löste sich auf, und wir sahen ganz genau über der Spitze des Bogspriets die von der Sonne hell beschienenen Türme und Gebäude einer Stadt tanzen.

„Es ist Libau,“ sagte der Kapitän, das Ziel unserer Reise. „Wir steuern seit 4 Tagen in schnurgerader Linie wie eine Kanonenkugel darauf los. Das heiße ich gesegelt, meine Herren. Nun loben und preisen Sie mir in Zukunft überall auf dem Festlande den Zustand und die jetzige Entwickelungsstufe der Steuermannskunst!“

Das Festland wuchs schnell und riesengroß aus dem Wasser empor, und wir erkannten an dem Libau'schen Hauptturme bald, was die Glocke in der Stadt geschlagen hatte.

Wir nahmen die Lotsen an Bord, welche uns in plattdeutscher Sprache begrüßten, segelten in aller Ordnung über die Sandbank, welche vor dem Libau'schen Hafen liegt, gingen in diesem Hafen selber vor Anker und ließen dann die ganze Reihenfolge von Zeremonien, welche die russischen Zollbeamten mit uns vorzunehmen für gut befanden, geduldig sich abspielen, uns und unsere Sachen visitieren, versiegeln, plombieren — unterschrieben einige Versicherungen an Eidesstatt, verschiedene Reverse, dass wir nicht zu den Freimaurern, Burschenschaftern, Rosenkränzern, Illuminaten oder sonst einer geheimen Verbindung gehörten, dass wir auch unsere plombierten Bücher richtig an die russische Zensurbehörde abliefern wollten, usw. — und waren dann am Ende herzlich froh, als wir uns gegen Abend endlich in unserem Gasthause bei Herrn Meißel zu einem Maschen Festlandtee mit frischer Sahne zurückziehen konnten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen Bd1