Die Niemen-Eisenbahn

Die große Frage, welche in diesem Augenblicke die Kaufmannschaft von Libau — sowie die Einwohner von Kurland, Litauen und Ostpreußen beschäftigt, ist das auch in unseren Zeitungen mehrfach besprochene Projekt einer Eisenbahn zwischen dem Niemen (bei Georgenburg) und der russischen Ostseeküste bei Libau. — Es soll durch diese Eisenbahn die preußische Mündungsstadt des Niemen, Memel, das ohndieß schon jetzt im buchstäblichen und bildlichen Sinne auf einem ziemlich sandigen Strande liegt, vollkommen auf den Sand gesetzt werden.

Die Litauer haben dieses Project, das ursprünglich von dem Warschauer Banquier Steinkeller ausgeht, mit großem Enthusiasmus aufgegriffen, und die Kaufmannschaft hat sich sogleich mit dem besagten Banquier, der dabei die Hauptsumme vorstrecken will, vereinigt, um die Nivellierung der Bahnstrecke vornehmen zu lassen. Diese Nivellierung ist jetzt auch gemacht worden und hat als Resultat ergeben, dass auch nicht die allergeringsten Schwierigkeiten der Ausführung des Projekts im Wege stehen. — „Es seien“ — heißt es in dem Berichte der Jngenieure — „keine bedeutenden


Brücken, keine großen Viaducte, keine Tunnels, keine Bergebenungen etc. nötig, und die Kosten würden daher sehr mäßig ausfallen.“ Die Zeitungen haben sogar schon mehre Male gemeldet, dass, ich weiß, nicht, wie viele Regimenter Soldaten an der Bahnung arbeiten. Die Litauer sind außer sich vor Freude, die Memeler und Preußen dagegen in Verzweiflung gestürzt. Jedoch gibt es auch eine kleine Partei, die von dem Allen nichts glaubt, und die auch überhaupt eine Anbahnung der bezeichneten Eisenbahn gar nicht für zweckmäßig und ausführbar hält.

Es ist wohl höchst wahrscheinlich, dass die letztere kleine Partei Recht behalten, und dass es mit jenem Projekte wie mit dem zu seiner Zeit eben so viel besprochenen und beschrieenen Windau-Kanale gehen werde, der so und so viele Zeitungsartikel veranlasst, so und so viele Millionen gekostet hat, der in allen Geographien Russlands erwähnt wird und bereits auf manchen Karten mit einem schönen schwarzen Striche bezeichnet steht, der aber jetzt im tiefsten Sumpfe steckt und noch nie ein Fischerboot flott machte.

Da es keine Personen in diesen Gegenden zu transportieren gibt, und da die den Niemen herunter kommenden Gegenstände fast lauter voluminöse, grobe, rohe Waren sind, so werden die Lokomotiven hier ganz andere Arbeit finden müssen als in anderen Ländern. Sie werden nur große Mastbäume, eichene Planken, Getreidesäcke, Felle, Matten, Flachs, Leinöl, Leinkuchen u. s. w. im Fluge dahinschleppen können. Es wäre dieß etwas ganz Neues, und man könnte hier zu bisher noch nicht gemachten Erfahrungen kommen. Denn es existieren bisher noch keine Eisenbahnen, die bewiesen hätten, dass Dampflokomotiven dergleichen Dienst mit Erfolge leisten könnten.

Es ist keine Frage, dass jede Eisenbahn, die weiter nichts als solche rohe wertlose Gegenstände zu transportieren bekäme, viel zu tun haben würde, um die Zinsen ihres Capitals herauszubringen, um so mehr aber, wenn sie, wie diese lithauische Bahn, mit einem Flusse wie der Niemen in Konkurrenz zu treten hätte. Die Bahn von Georgenburg bis Libau beträgt etwa 30 Meilen. Nicht weiter ist es auf dem Niemen hinab bis Memel. Die Menschen und Handelsgegenstände sind jetzt an diesen Wasserweg gewöhnt, und Alles ist zu ihrem Transport auf dem Flusse zugerichtet und vorbereitet. Die Waren sind etwas eigensinnige Dinge und lassen sich nicht sogleich in jeden Kanal, den man zu graben beliebte, überleiten. Auch werden sie ohne Zweifel schon manchen tüchtigen Ausfuhrzoll, den man etwa zu Gunsten der Eisenbahn diktieren wollte, ertragen können, denn sie würden immer noch 10 Mal billiger nach Memel als nach Libau gebracht werden können.

Man hofft, dass nicht bloß die Niemen-Anlande, sondern auch die Teile von Litauen und Kurland, durch welche die Eisenbahn passieren soll, in Zukunft alle ihre Spedition auf diesem neuen Weg machen werden, und dass so auch der Landtransport, der etwa noch von Litauen aus nach Memel statthat, abgeschnitten und ganz auf Libau geführt werde. Allein hierbei Ist die Bemerkung wichtig, dass bisher alle Transporte in diesen Gegenden im Winter stattfanden, und dass daher auch die Eisenbahn gerade im Winter am tätigsten und tüchtigsten sein müsste, wenn sie nicht die ganze bisherige Speditionszeit umändern und aus dem Winterverkehr einen Sommerverkehr machen wollte, was denn geradezu eine sehr bedeutende Umgestaltung aller Dresch -, Wald- und Feldgeschäfte vorausbedingen würde. Bei der Dauer der Kälte und dem Schneereichtum des hiesigen Winters ließe es sich aber bezweifeln, dass die Lokomotiven gerade im Winter am rührigsten sein würden.

Dazu kommt ferner, dass der Wintertransport, wie er jetzt auf den hiesigen Schneebahnen stattfindet, ungemein billig ist, und dass die kostspieligen Lokomotiven die Arbeit wohl kaum um so geringen Lohn verrichten könnten, wie die leibeigenen Leute, die von einem Heringsschwanz, einem Schnaps und einem Stücke trocknen Brots drei Tage leben, und ihre kleinen Pferde, die nichts als Stroh fressen und sich dabei doch immer mit den größten Lasten so rasch über den Schnee tummeln, als stäche sie beständig der Hafer. Sechs Monate des Jahres hätte die Eisenbahn daher mit einem beispiellos billigen Landtransporte zu konkurrieren, wie die übrige Zeit des Jahres mit einem noch billigeren Wassertransporte.

Denkt man an alle diese Schwierigkeiten und dann auch noch an manche andere, welche der eigentümliche Charakter der umwohnenden Völker und ihre politischen Verhältnisse darbieten, so wird Einem bange um den Libau’schen Enthusiasmus, und man schöpft Hoffnung für die Memeler Verzwelflung. Erwägt man endlich noch die enormen Kosten der Anlegung der Bahn, die Entlegenheit Litauens von allen maschinenbauenden Ländern, denkt man an die russischen Soldaten und die litauischen Bauern, welche die einzigen Arbeiter bei der Ausführung des Werks abgeben könnten, an die russischen Beamten, die Podrädschiks, Prekaschtschiks und Direktoren, die auch ihr Teilchen an der Sache zu profitieren hoffen, so wird Einem angst und bange um das Geld des Warschauer Banquiers, das er hier als Eisenschienen in die litauischen Sümpfe stecken, in Steinkohlendamf verpuffen und in russische Beamtenhände niederlegen will. Wo wird man tüchtige Ingenieure, gute Bahnaufseher, nüchterne Bahnwärter, unbestechliche Inspektoren für diese Bahnstrecke finden?

Allein, wird man antworten, sollten denn alle diese Schwierigkeiten, die ein Fremdling zu urgiren wagt, von den Leuten, welche an der Spitze des Unternehmens stehen, und die weit mehr Kenntnisse von dem Lande und den Verhältnissen haben, nicht auch schon erwogen worden sein? Ich antworte darauf nur Folgendes: werden mit Schnelligkeit eine neue Idee auffassenden und eben so schnell einen Plan wieder fallen lassenden Geist des Landes kennt, der wird uns nicht zu großer Kühnheit zeihen, wenn wir dieser Eisenbahn wegen um Preußen keine Furcht haben und es auch überhaupt überflüssig finden, diese Sache noch einer weiteren Untersuchung zu würdigen, die wir sonst noch mit allerlei erbaulichen Betrachtungen genügender ausführen und begründen könnten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen Bd1