Naturgewalten im Hochgebirge

Einleitung.

Wie oft hören wir von Unglücksfällen, von Verschüttungen und Katastrophen, die einzelne Menschen, ganze Dörfer in den Hochtälern der Alpen betroffen haben! Unser ganzes Interesse, unser ganzes Mitleid wird erregt, wenn wir etwa lesen: „Folgen eines Bergsturzes. In St. Anton erfolgte, wie uns ein Telegramm aus St. Pölten meldet, ein großer Bergsturz. Eine Bergwand mit 5 ha Wald stürzte in den Reibach, der verschüttet wurde. Der Bach staute sich zu einem See, der 1 km lang und 20 m tief ist. Das Wohnhaus einer Holzarbeiterfamilie wurde von den gewaltigen Erdmassen hinweggerissen.“ (11. Mai 1910.) Ob es sich um Bergstürze, Vermurungen oder Lawinen handelt, stets tritt das wirtschaftliche Moment in den Vordergrund. Der angerichtete Schaden, das Unglück, das Menschenopfer verlangt hat, gehen den Menschen viel näher an als die Bedeutung, die diese Vorgänge für die Natur selbst haben könnten. Und doch, wie tief und deutlich sind ihre Spuren im Landschaftsbild! Überall erkennen wir im zerfurchten Antlitz des Hochgebirges die Züge und Linien, die ihm durch die Naturgewalten ein. gegraben worden sind.
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Es verhält sich mit dem Betrachten eines Landschaftsbildes geradeso wie mit dem eines Kunstwerkes; der Kenner versteht und sieht und genießt. So ist dem Verständigen auch die Natur vor allem erschlossen. Er verfolgt die einzelnen Linien im Relief der Erdoberfläche; er ist bestrebt, diese verborgene Schrift zu entziffern, Ursache und Wirkung zu erkennen. So ist er bevorzugt vor dem Laien, denn bei ihm verbindet sich die rein ästhetische Freude am Schönen, an den Farben und Formen der Bergwelt mit dem Bewusstsein, das, was er sieht, auch zu verstehen. Der Geologe sieht das bunte Auf und Ab von Berg und Tal und erkennt die Bausteine und Kräfte, die das Bewunderung fordernde Bild geschaffen haben. Und er vermag durch ständiges Beobachten sein Auge zu schärfen, dass ihm bald hundert Züge im Landschaftscharakter auffallen, an denen ein anderer achtlos vorbeigeht. So weiß er denn auch das Walten der Naturkräfte im Gebirge zu verfolgen und die dauernde Wirksamkeit der Vorgänge einzuschätzen, die dem Menschen als furchtbare Mächte erscheinen, ihm durch Zerstörung
seiner Kulturwerte zur Katastrophe werden. —
Im folgenden wollen wir versuchen,
das Wesen der Katastrophen
kennen zu lernen.