Fünfte Fortsetzung

Auf einer Karte sind vom gesamten Forstpersonal alle jene Risse und Schluchten eingetragen worden, durch die regelmäßig Lawinen fegen. Zahl und Art der Katastrophen wurden gebucht, die Zeit des Abganges vermerkt, so dass man in der Tat ein anschauliches Bild von der Erscheinung und Wirksamkeit der Lawinen erhält. Die seit langen Jahren gesammelten Erfahrungen sollen eben als Grundlage für einen zweckmäßigen Verbau dienen. Man hat ja nicht nur zu berücksichtigen, was am besten zu tun ist, sondern auch, welche Schutzanlage am billigsten durchzuführen ist. In Kürze sei hier einiges von den Ergebnissen der Statistik mitgeteilt, bedeutet es auch eine Wiederholung einzelner Punkte.

1. Im Schichtgebirge wird die Entstehung der Lawinen begünstigt, wenn die Schichten geneigt sind. Auf den glatten, schrägen Schichtflächen haftet der Schnee nicht vollkommen genug, um nicht infolge seiner eigenen Schwere schließlich die Talfahrt anzutreten. Jene steilen Felshänge dagegen, die den Schichtkomplex quer abschneiden, sind meist zu steil, um genügend Schnee sich ansammeln zu lassen.


2. Weitaus die meisten Lawinen gehen von nacktem Fels ab. Vegetation wirkt hemmend; Wald macht den Lawinensturz so gut wie unmöglich. Die Baumstämme wirken ja wie Pfähle, festigen die Schneedecke an steilen Längen, verpfählen durch ihr Wurzelwerk auch den Untergrund. Es erhellt hieraus die Bedeutung der Legföhre (Latsche), jener Zwergform der Föhren, die bis 2400 m, also weit über der Baumgrenze noch ihr Fortkommen findet.

3. Weitaus die meisten Lawinen nehmen ihren Ursprung über der Waldgrenze, also zwischen 2.000 m und 2.500 m.

4. Noch höher liegt der Ursprung vieler Lawinen, die durch Abbrechen von Wächten und Schneeschildern entstehen. Sie gehören ausschließlich der Hochregion an. Wir haben ihre Bedeutung durch den Vergleich mit der Tätigkeit fließenden Wassers zu charakterisieren gesucht.

5. Die Witterungsverhältnisse sind natürlich von größter Bedeutung für das Ansammeln des Schnees und sein Abgleiten. Föhn bringt Tauwetter, und mit diesem brechen Lawinen und Muren zu Tal.

„Verbau“ ist nicht das einzige Wehrmittel gegen Lawinenschaden. Es ist sogar viel näherliegend, die Gefahr herankommen zu lassen und an Ort und Stelle unschädlich zu machen. An Häusern und Kirchen bringt man z. B. sog. Spaltecken an (Tafel 25), deren Festigkeit genügt, die heranfahrende Lawine zur Gabelung zu veranlassen. Unversehrt bleibt das Gebäude; es wird umflossen. — Der eigentliche Verbau soll das Abgehen der Lawine überhaupt verhindern. Er erstreckt sich daher vom Sammelgebiet ob der Waldregion durch die ganze Sturzbahn bis ins Tal hinab. Kunstvoll und kostspielig sind diese Anlagen, zumal, wenn es gilt, Verkehrswege vor Gefahr zu schützen. An der Gotthardbahn und besonders an der jüngeren Albulabahn sind die Schutzbauten überaus großartig. Lawinenzüge werden in Galerien unterfahren; Tunnels leiten unter den gefährlichsten Runsen hin, deren wirksamer Verbau zu kostspielig wäre. Verpfählungen (die Aufforstung ersetzend) und Mauern verschiedenster Konstruktion, Erdwälle sind an den jähen Hängen errichtet worden, die Schneelagen zu festigen, gleitende Partien aufzuhalten, die Sturzbahn immer wieder zu knicken, die Gewalt der Talfahrt zu brechen. Der Liebenswürdigkeit von Dr. Coaz verdanke ich unter anderem die Abbildung: Lawinenverbau auf Muot unterhalb Bergün (an der Albulabahn) (Tafel 26).

Nur den schädlichsten und größten Lawinen kann man so zu Leibe rücken; die erdrückende Mehrzahl, zumal die der Hochregion allein angehören und keinen Schaden anrichten können, werden genau wie seit urdenklichen Zeiten niedergehen, werden ihre Funktion, an der Abtragung des Gebirges zu arbeiten, ausüben. Es fehlt auch nicht an Stimmen, die hierin einen Nutzen, keinen Schaden erblicken. Gäbe es keine Lawinen, so läge der Schnee länger auf den Bergen; es wäre oben noch kälter, in den Tälern wärmer, während ihnen durch die Lawinen eine Abkühlung gebracht wird. Lässt sich auch nicht verkennen, dass ein klimatischer Ausgleich — d. h. eine Verzögerung des Frühjahrbeginnes im Tal, eine Beschleunigung auf den Bergen — eintritt, so dürfte es wohl zu weit gehen, zu behaupten, dass ohne die Lawinen die Temperaturerniedrigung in der Höhe ausreiche, eine Reihe von Almen und Heuwiesen unbrauchbar zu machen. Die Schneegrenze würde wohl kaum eine merkbare Verschiebung nach unten erfahren! Dagegen wäre es gerade für die Hänge, an denen mühselig Heu gewonnen wird, vorteilhaft, sie lägen länger unter schützender Schneedecke und erhielten später im Frühjahr, wenn alle Fröste überstanden sind, durch den schmelzenden Schnee eine ausreichende Bewässerung. Ziehen wir neben dieser Erwägung die Schäden in Betracht, die jährlich unmittelbar durch Lawinen angerichtet werden, so können wir in ihnen nur eine kulturfeindliche Macht erblicken.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 026 Detail des Lawinenverbaus auf Muot

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 026 Detail des Lawinenverbaus auf Muot

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