Zweite Fortsetzung

Lehrer J. Wyß: „Ich stand in meinem Zimmer am offenen Fenster und schaute dem unaufhörlichen Steingeriesel am Tschingel mit der Uhr in der Hand, genau beobachtend zu. Nachdem über dem Plattenberg (ein Vorsprung der Tschingelalp mit Steinbrüchen) schon vormittags zwei größere Stellen mit Wald herausgebrochen waren, stürzten von 4 Uhr nachmittags an wieder größere Partien Terrain mit Wald. Alles dies kam aber nicht von der Höhe des Tschingels, sondern von Lagen unmittelbar über dem Schieferbruch her und fuhr nicht bis in die Talsohle . . . Um 5 1/4 Uhr nun erfolgte der erste große Sturz, und zwar hinter, d. h. östlich vom Gemeindeschieferbruch, beim Hinteren Plattenberg. Pfeilschnell stürzte eine gewaltige Steinmasse direkt der Tiefe zu in der Richtung gegen Gehren, füllte oben den Hinteren Plattenberg aus, fuhr bis in die Talsohle herab, verschüttete das Bett des Tschingelbaches und auf der Landzunge zwischen Tschingelbach und Raminbach die dort befindlichen Gebäude . . . Um 5 Uhr 32, also 17 Minuten später, kam ein zweiter Sturz. Derselbe löste sich unmittelbar über der Plattenbergwand, schoss ebenso schnell wie der erste in die Tiefe über die vom ersten Sturz zurückgelassene Schuttmasse weg, fuhr über den Raminbach hinüber ins Untertal und deckte die dortigen Güter und damit ohne Zweifel auch Häuser zu. Eine schwarzgraue Staubwolke hüllte die Unglücksstätte ein . . . — Jetzt wurde ich unruhig und sah nicht mehr auf die Uhr. Nach meiner Schätzung aber dauerte es 4 Minuten, bis der dritte Sturz erfolgte. Ich sah die Masse von oben erst vertikal stürzen und dann von der Sohle des Plattenberges an horizontal hervorquellen, indem der untere und weiter vorstehende Teil des Berges durch den Druck des darauf herabfallenden oberen Teils herausgedrückt und in die Luft hinausgesprengt wurde. Ich hatte den Eindruck, die ungeheuren Schuttmassen müssten das ganze Tal ausfüllen. Sie schossen mit unglaublicher Schnelligkeit quer über das Untertal hin. Sie fuhren z. B. über das Erlenwäldchen am Untertalbach hinweg, so dass ich unter ihnen deutlich die Erlen sehen konnte. Plötzlich war's wieder ruhig geworden, der Schuttkegel lag da . . . bis nahe an mein Haus und blieb, wie er war; nichts bewegte sich mehr . . .“ Das beobachtete Getöse war geringer, als man hätte meinen sollen. Auch der Windzug wurde auf den Seiten des Sturzes nicht verspürt, wohl aber vor seiner Stirne! Hören wir weiter: „Als gleich darauf der dritte Sturz erfolgte, sah ich in der Höhe des Tschingels die ganze Wand in Bewegung und alles durcheinanderspielen. Und wie ich talabwärts blickte, sah ich die Häuser an der Landstraße gegen Müsli zu sich bewegen, wanken, auffahren, bevor die Masse da war . . . Im Nu war auch die Wolke da. Sie kam rollend heran wie der Rauch einer abgeschossenen Kanone, aber schwarz, kaum zwei Häuser hoch.

Mein Sohn Peter befand sich samt Frau und Kind im Müsli und suchte, mit ihnen laufend, zu entrinnen. Bei einer Mauer angelangt, nahm er seiner Gattin das fünfjährige Kind vom Rücken und sprang über die Mauer. Sich umwendend sah er noch, wie sie die Hand nach einem anderen, fremden Kind ausstreckte. Im gleichen Augenblick wurde er vom Windzug erfasst, aufgehoben und die Wiese hinaufgetragen. Das war seine und des Kindes Rettung, die Frau aber wurde gleichzeitig unmittelbar hinter ihm erschlagen.“ (Heinrich Elmer.)


„Ich wurde vom Windzug zwei-, dreimal purzelbaumartig überworfen und rasch und leicht den Abhang hinaufgeschoben. Meiner Frau ging es ähnlich. Dicht hinter ihr schoss die Masse vorbei. So blieben wir beide am Leben. Unsere zwei Kinder aber wurden nahe bei uns, das Mädchen vor unseren Augen, zugedeckt.“ Auch von ferne haben Leute das Unheil geschaut und wissen davon zu berichten.

Matthias Rhyner: „Ich sah, wie beim Hauptsturz vom Untertal her voran die Dächer und hinter ihnen her die Häuser durch die Luft geflogen kamen gegen das Alpegli zu, gerade wie wenn der Sturm im Herbst zuerst das dürre Laub von den Bäumen fegt und alsdann die Bäume selber. Auch die nachstürzende Bergmasse kam durch die Luft und wurde am Alpegli abgeschnellt. Ich sah unter der Wolke durch, wie Heinrich Elmer eine Kuh am Stricke führte und mit ihr . . . rannte, um sie in Sicherheit zu bringen. Ich sah alsdann die Eschenleute in der Wolke verschwinden und im gleichen Augenblick auch die Häuser im Müsli wie Spielzeug zusammenbrechen . . . Dass der Windzug die Richtung talabwärts nahm, erkannte ich an den niederfallenden Bäumen am Ufer des Sernf.“ Ein Landjäger, Werner Freitag, hat das Abbrechen selbst gesehen: „Da bemerkten wir, dass im sog. Krut ein Bruch bis weit hinauf um sich griff. Wir sahen aus der Ferne die Tannen zusammenfallen und durch den Wald hinunter Riemen bloßgelegten Felsens sich bilden . . . Die beiden riemenartigen, hoch über den Schieferbrüchen beginnenden Einschnitte kamen beim Plattenberg zusammen und bildeten eine Gabel, die ihren Schneidepunkt im Schieferbruch hatte und zwischen den beiden schrägen Schenkeln den ganzen Plattenbergkopf übriggelassen hatte. Es währte einige Minuten, so sahen wir alles das herabfahren, was zwischen der Gabel hängengeblieben war (Plattenbergkopf) . . . . Sofort bildete sich eine ungeheure rußschwarze Wolke.“

Unter dumpfem Tosen und Krachen fuhr diese, wie vom Winde gejagt, über das Tal hinaus. Die ungeheure Schnelligkeit, mit der die scharfkantigen Schieferblöcke dahinfegten, erkennen wir an dem Zustand der glatt durchgeschlagenen Stämme hundertjähriger Tannen und dem Ergebnis der Leichenschau.

„Was mich bei ihrer Besichtigung am meisten traf, war der Ausdruck höchsten Entsetzens, der Todesangst und Verzweiflung auf den Gesichtern derer, bei welchen man überhaupt noch ein Antlitz erkennen konnte. Die meisten waren bis zu gänzlicher Unkenntlichkeit entstellt, zerquetscht, zermalmt, verstümmelt in unsagbar schrecklicher Weise. Hier war einer der Beine oder Arme beraubt, dort einem anderen der halbe Kopf weggerissen, ein dritter war bei der Brust buchstäblich durchgeschnitten, wieder ein anderer so zerhackt, dass man kaum mehr erkannte, welche Teile zusammengehörten. Weit größer aber als die Zahl der noch einigermaßen vollständigen Leichname war die Summe der einzelnen Gliedmaßen und zerdrückten Fleischklumpen, die, von Sand und Staub bedeckt, auf der Schuttmasse hervorgezogen wurden . . . Hier zu oberst auf diesem höchsten Punkt der Steinmasse wurde ein Menschenkopf gefunden, von anderweitigen Gliedmaßen war weit und breit nichts zu finden.“ (E. Buß.)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge