Wildbäche und Muren

Abtragung, ständiger Massentransport zur Tiefe sind ihrem Wesen nach nur ein Ausdruck des Gesetzes der Schwere. Sie ist die letzte Ursache; das Wasser ist gleichsam nur ein Mittel, nur eine Transporterleichterung. Bei einer Gruppe von Erscheinungen, die auf das Hochgebirge beschränkt sind, kommt dies aufs deutlichste zum Ausdruck: es sind die Wildbäche, mit denen zusammen die Muren betrachtet werden müssen. Kaum eine andere Naturgewalt vernichtet so viele volkswirtschaftliche Werte; kaum gibt es einen sprechenderen Ausdruck für das Zerstörungswerk im Gebirge als die Wildwasser. Wollen wir zunächst die Teile eines Wildbaches kennen lernen, so steigen wir einmal entlang dem Laufe eines solchen hinan. Vom Talboden verfolgen wir die steile Runse, deren Mündung wir in sanftem Anstieg über Schuttmassen erreicht haben. Immer gröber werden die Blöcke im Bachbett, das kaum eine dünne Wasserader führt. Immer tiefer wird die Schlucht, immer jäher steigen zu beiden Seiten die Hänge an, während der Boden des Grabens dem Steigen immer größere Hindernisse entgegenstellt. Schon nähern wir uns der Waldgrenze, die Bäume lichten sich. Von den Seiten münden unter spitzem Winkel ähnliche, weniger tiefe Gräben ein.

Die Steilheit nimmt ab. Jetzt haben wir den „Hals“ oder „Tobel“ passiert und stehen in einem Zirkus wildester Schönheit. Zahllose Rinnen, Gräben ziehen nach allen Richtungen zum Kamm des Gebirges; Felswände ragen zwischen ihnen schroff auf und leiten zu den firngekrönten Graten. Der Wald liegt schon unter uns. Über uns, den Sammeltrichter des Wildbaches umkränzend, die leuchtende Eiswelt (Tafel 7)!

So eindrucksvoll spricht diese Stätte der Zerstörung zu uns! Das murmelnde Bächlein in der steilen Schlucht lässt uns aber daran zweifeln, dass es die tiefen Gräben ausgewühlt habe, dass es den ragenden Fels zusammenstürzen lassen könne.


Wie ganz anders ist aber das Bild, wenn ein starker Regen, ein Gewitterguss niedergegangen ist! In dem weiten Sammelgebiet, dem Trichter, laufen die unzähligen Wasseradern zusammen; reißend brechen die Massen durch den engen Tobel und ergießen ihre Hochflut mit verheerender Gewalt und Schnelligkeit in das Tal. Der Weg bis dahin ist ja nur kurz, denn durch eigene Mühe haben wir erfahren müssen, wie steil der Lauf des Wildwassers ist! Vergeht doch vom Niedergang des Gewitters bis zum Hereinbrechen der Katastrophe nur ein Zeitraum von einer oder wenigen Stunden.

„Lassen wir einmal, eingekeilt zwischen den Bergflanken, einen ausgiebigen Wolkenbruch niedergehen oder über ganze Gebirgszüge einen Dauerregen sich ausschütten, da rollen sich gleichsam massierte Truppen zum Hauptstoße auf. Von den glatten, abgeschabten Alpenböden stürzt das Wasser eilends in eine Bachrunse zusammen. Die Sturmkolonne auf die tiefer liegende Region ist formiert. Das zusammengeschwemmte Wasser schleppt bereits Erdreich und Gebirgsschutt mit sich. Das starke Gefälle steigert in hohem Grade die Wirkung der Sturzmasse. Das lose Bett des Bachrunstes wird aufgerissen und der Fuß eines lockeren Hanges unterwaschen. Der Auflager beraubt, gleitet eine Uferwand in die gehetzte Flut, welche sich aufbäumt und im Schwunge, gleich einem Raubtier, auf die andere Böschung sich wirft, sie gleichfalls untergrabend. Mächtige Felsblöcke werden losgespült und sausen wie Fangbälle in den Abgrund. Nun berennt das Wildwasser die Waldungen. Links und rechts krachen die Bäume nieder, und hinterher stürzt der Boden. Von oben her drängt verstärkter Nachschub, und immer unwiderstehlicher wird der Vorstoß . . . Der mit rasendem Ungestüm einherbrausende Strom bohrt und erzwingt sich neue Bahnen, auf welchen er fortstürmt, ohne bestimmte Straßenlinien einzuhalten. Es ist kein Bett, kein Rinnsal mehr, nur eine grauenhafte Flucht stürzender Massen, vergleichbar den wüsten Raubzügen wilder Kriegshorden der Vorzeit, vor sich die Schrecken, hinter sich die Gräuel.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 007 Wildbachsammeltrichter im Dajatal, Japanische Alpen

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 007 Wildbachsammeltrichter im Dajatal, Japanische Alpen

alle Kapitel sehen