Dritte Fortsetzung
Schließlich geschieht es nicht selten, dass die gewaltsam herbeigeschafften Massen das Flussbett gänzlich verlegen, das Wasser zum See stauen. Nur als Episode in der langen Geschichte der Talbildung bestehe diese Seen. Besonders klar tritt dies vor Augen, wenn der Mensch das Werden und Vergehen selbst gesehen hat. Im Jahre 1828 ging im südlichen Tirol, in der Val Cia unterhalb des einsamen Dorfes Caoria, eine gewaltige Mure nieder. Überstell senken sich die Hänge in das düstere Tal; sie bestehen aus Phyllit, einem weichen, leicht zerstörbaren Gestein. Die Verwitterung konnte die Felsen umso leichter in grobe und kleine Trümmer legen, als die feinplattige Struktur das Eindringen des Wassers, die Wirksamkeit des Spaltenfrostes weitgehend begünstigt. Große Massen von Schutt waren entstanden, die nur der treibenden Kraft harrten, um zur Tiefe zu brechen. Gewaltige Regengüsse durchweichten das lockere Material, und die langvorbereitete Katastrophe wurde ausgelöst. Das Tal wurde verschüttet, der Fluss zu langgestrecktem See gestaut. Bald floss das Wasser über die hochgetürmte Sperre und fing die langsame Wühlarbeit an. Dieser alles zersetzenden Tätigkeit konnte das Tor, das doch nur aus losen Gesteinstrümmern aufgebaut war, nicht widerstehen. Die Massen gerieten ins Wanken, vermischten sich mit den tosenden Wassern und — in unwiderstehlichem Anprall brach die derart entstandene Mure durch die enge Schlucht. In den siebziger Jahren geschah dies Unheil. Heute ist der See verschwunden, nur schwache Spuren hat er hinterlassen. Der Schuttkegel ist zerschnitten, steile „Anbrüche“ sind dem Fluss zugekehrt, Bäume und Sträucher haben sich auf der talsperrenden Mure angesiedelt.
Gewiss ist das Auslaufen und Verschwinden des Sees nicht immer von solch gewaltsamer Natur. Stellen wir uns vor, dass die Wasserader, die schließlich über die Mure aus dem See abfließt, immer tiefer in den Schutt einschneide, ihn nach allen Gesetzen der Erosion durchsäge, so wird der See seinen Ausfluss auch stets tiefer legen. Er wird allgemach verschwinden, auslaufen. Andererseits können durch irgendwelche Umstände die aufgestauten Wasser lange Zeiträume hindurch im Becken erhalten bleiben. Wer kennt nicht den Toblacher See, in dessen tiefblauer Flut die Fichten und helleuchtenden Zacken der Dolomiten darüber sich spiegeln? Eine mächtige Mure hat ihn aufgestaut!
Die Geschichte der Schwemmkegel ist noch nicht erschöpft. Üppiges Grün überkleidet die breiten Fächer, die sich in den Tälern an die Bergflanken anlehnen. Wiesen, Felder, Ortschaften, Obstgärten wirken zu einem friedlichen Bilde zusammen, als kenne das Land gar keine gewaltsamen Naturerscheinungen, als gäbe es keine Verwüstungen. Vielleicht ist wirklich kein Murbruch mehr zu fürchten gerade an der Stelle, die wir der Betrachtung unterziehen; vielleicht ist aber diese Ruhe nur die Pause, die erneutem Unheil vorausgeht, das Atemholen vor neuem Ungestüm. Wie dem auch sei, das Bächlein, dessen unerhörte Kraftsteigerung zur Mure das ganze Gebilde schuf, beginnt, seinen Lauf in den Schwemmkegel einzuschneiden. Darin folgt es nur den Gesetzen des fließenden Wassers, die im normalen Zustand auch normal zum Ausdruck kommen. — Auf entzückender Wanderung steigen wir im Inntal über frischduftende Wiesen, durch blühende Obstgärten gegen das tief verschneite Gebirge bei Hall in Tirol an. Der Pfad führt über den Schuttkegel des Haller Tales hinan. Da wird der Schritt plötzlich durch einen ansehnlichen Graben gehemmt, an dessen spärlich bewachsenen Hängen die einzelnen Schuttlagen frei zutage liegen, die Innenstruktur des Schwemmkegels verratend. Dieser Graben ist das Werk des munter plätschernden Bächleins in seinem Grunde. Wer traute ihm diese Arbeit zu? Solche Schwemmkegel, die durch den eigenen Wildbach zerschnitten werden, die in jeder Hinsicht Zeichen tragen, dass ihre Aufschüttung der Vergangenheit angehört, sind wohl auch „tot“ genannt worden.
Die Erscheinung der Mure ist uns vertraut; nun entsteht aber die Frage nach den Ursachen, den Bedingungen, die eine derartige Steigerung abtragender Vorgänge im Gebirge herbeiführen. Vor allen Dingen: warum kennt das Mittelgebirge keine ähnlichen Ereignisse? In Beantwortung dieser Frage muss ich zurückgreifen auf die Vorgänge der Abtragung überhaupt. Steilheit der Berghänge, eine entsprechende Höhe dieser Hänge sind notwendig, um Wildbachbetten entstehen zu lassen. Die Höhe ist nötig, um die lebendige Kraft zu erzeugen, die den Abgang der Schutt- und Wassermassen zur Katastrophe steigert. Die Höhe des Gebirges ist aber noch in anderer Hinsicht von Bedeutung: sie erklärt die Herkunft des Wassers! Gedenken wir nur der hohen Gebirge (S. 4) als Kondensatoren des Wasserdampfes!
Gewiss ist das Auslaufen und Verschwinden des Sees nicht immer von solch gewaltsamer Natur. Stellen wir uns vor, dass die Wasserader, die schließlich über die Mure aus dem See abfließt, immer tiefer in den Schutt einschneide, ihn nach allen Gesetzen der Erosion durchsäge, so wird der See seinen Ausfluss auch stets tiefer legen. Er wird allgemach verschwinden, auslaufen. Andererseits können durch irgendwelche Umstände die aufgestauten Wasser lange Zeiträume hindurch im Becken erhalten bleiben. Wer kennt nicht den Toblacher See, in dessen tiefblauer Flut die Fichten und helleuchtenden Zacken der Dolomiten darüber sich spiegeln? Eine mächtige Mure hat ihn aufgestaut!
Die Geschichte der Schwemmkegel ist noch nicht erschöpft. Üppiges Grün überkleidet die breiten Fächer, die sich in den Tälern an die Bergflanken anlehnen. Wiesen, Felder, Ortschaften, Obstgärten wirken zu einem friedlichen Bilde zusammen, als kenne das Land gar keine gewaltsamen Naturerscheinungen, als gäbe es keine Verwüstungen. Vielleicht ist wirklich kein Murbruch mehr zu fürchten gerade an der Stelle, die wir der Betrachtung unterziehen; vielleicht ist aber diese Ruhe nur die Pause, die erneutem Unheil vorausgeht, das Atemholen vor neuem Ungestüm. Wie dem auch sei, das Bächlein, dessen unerhörte Kraftsteigerung zur Mure das ganze Gebilde schuf, beginnt, seinen Lauf in den Schwemmkegel einzuschneiden. Darin folgt es nur den Gesetzen des fließenden Wassers, die im normalen Zustand auch normal zum Ausdruck kommen. — Auf entzückender Wanderung steigen wir im Inntal über frischduftende Wiesen, durch blühende Obstgärten gegen das tief verschneite Gebirge bei Hall in Tirol an. Der Pfad führt über den Schuttkegel des Haller Tales hinan. Da wird der Schritt plötzlich durch einen ansehnlichen Graben gehemmt, an dessen spärlich bewachsenen Hängen die einzelnen Schuttlagen frei zutage liegen, die Innenstruktur des Schwemmkegels verratend. Dieser Graben ist das Werk des munter plätschernden Bächleins in seinem Grunde. Wer traute ihm diese Arbeit zu? Solche Schwemmkegel, die durch den eigenen Wildbach zerschnitten werden, die in jeder Hinsicht Zeichen tragen, dass ihre Aufschüttung der Vergangenheit angehört, sind wohl auch „tot“ genannt worden.
Die Erscheinung der Mure ist uns vertraut; nun entsteht aber die Frage nach den Ursachen, den Bedingungen, die eine derartige Steigerung abtragender Vorgänge im Gebirge herbeiführen. Vor allen Dingen: warum kennt das Mittelgebirge keine ähnlichen Ereignisse? In Beantwortung dieser Frage muss ich zurückgreifen auf die Vorgänge der Abtragung überhaupt. Steilheit der Berghänge, eine entsprechende Höhe dieser Hänge sind notwendig, um Wildbachbetten entstehen zu lassen. Die Höhe ist nötig, um die lebendige Kraft zu erzeugen, die den Abgang der Schutt- und Wassermassen zur Katastrophe steigert. Die Höhe des Gebirges ist aber noch in anderer Hinsicht von Bedeutung: sie erklärt die Herkunft des Wassers! Gedenken wir nur der hohen Gebirge (S. 4) als Kondensatoren des Wasserdampfes!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge