Zweite Fortsetzung

Staublawinen sind im allgemeinen auf den Winter beschränkt. Nur in der Hochregion können sie auch des Sommers niedergehen, wenn starker Schneefall eingetreten ist und bei großer Kälte Pulverschnee die Berge überzuckert. An windstillen Tagen sammelt er sich dann in Nischen, an abschüssigen Stellen, auf denen sich der Neuschnee nicht lange halten kann. Die Schwere zieht ihn nach abwärts. Ein kleiner Impuls genügt, die Masse in Bewegung zu setzen. Ja, eine Lufterschütterung, hervorgerufen etwa durch den Glockenschlag im Tal, durch einen Schuss oder den Tritt eines kleinen Tieres löst die vorbereitete Katastrophe aus. Auf engem Fleck beginnt der trockene Schneepuder zu rieseln; mit Macht greift die Bewegung um sich, es beginnt die ganze flimmernde Lage zu fließen, zu stäuben, als hätte ein Windstoß sie aufgewirbelt. Wie ein gewaltiger Sturzbach braust und donnert die ins Ungeheure gewachsene Schneewolke zu Tal. Die Luft wird mitgerissen, vor der Wolke einhergejagt: ein verheerender Windstoß fährt vor der Lawine dahin. Nicht der Schnee ist es hier, der Verwüstung bringt, die Luftwelle wirft alles vor sich um (vgl. Tafel 30). Ein Teil der Massen bleibt am Fuße des Berges liegen, ein anderer Teil verhüllt in weiter Ausbreitung das Gelände, alles mit feinem Schnee bestäubend. Darüber hinaus fährt der Wind, belastet mit Pulverschnee, der alle Fugen der Gebäude, selbst die Kleidung durchdringt. Und häufig findet er erst am jenseitigen Gehänge einen Widerstand. Er prallt gegen den Hochwald und fegt in ihn eine mächtige Bresche.

Trockener Pulverschnee kann nur bei Kälte entstehen. So erklärt es sich denn, dass Staublawinen im Gebiete menschlicher Kultur und des Waldes nur im Winter niedergehen können. Es ist jedoch schon darauf hingewiesen worden, dass in der Hochregion auch in warmer Jahreszeit diese Art der Lawinen häufig ist. Über der Schneegrenze herrscht ja ständig eine Temperatur, die sich im Allgemeinen nicht wesentlich vom Gefrierpunkt entfernt. Nicht nur dass die Gletscher und Firnfelder eine ständige Speisung durch die Lawinen erfahren: diese führen auch stets Verwitterungsschutt mit sich zur Tiefe. Da die Lawinen des Firngebietes auch eine universelle Erscheinung sind, gewinnen sie als Faktoren der Gebirgsabtragung eine hervorragende Bedeutung. Sie sind deshalb mit dem rieselnden Wasser, ihre Tätigkeit mit der Denudation verglichen worden (S. 14).

Anders die Grundlawine. Sie ist der Mure ähnlich. Wie diese auf zwar beschränktem Gebiet eine enorme Kraftsteigerung, eine verhängnisvolle Leistungsfähigkeit, feste Massen zu transportieren, entfaltet, aber in ihrer dauernden Wirkung weit hinter dem fließenden Wasser zurückbleibt, so ist auch das Ausmaß der Zerstörung durch eine Grundlawine zwar beträchtlich, aber örtlich beschränkt. Größer ist die formgebende Bedeutung der Staublawine.


Der nasse, schwere Schnee, der die Grundlawine zusammensetzt, rutscht als geschlossene Masse zur Tiefe, in Tobeln und Runsen noch anschwellend. Sie schmiegt sich den Wandungen ihrer Bahn an, wirft sich an der Außenseite von Krümmungen hoch hinauf, bäumt sich an Felsvorsprüngen, reißt Waldungen mit sich und wühlt den Boden oft tief auf. Wie eine Mure kann auch sie mit unaufhaltsamer Gewalt über Vorsprünge hinausfahren und ihre Bahn verlassen. Darin liegt die Gefahr: die Lawine sucht im Tal eine Stelle heim, an der sie nicht erwartet werden konnte.

Die Grundlawine ist eine Erscheinung des Frühjahrs. Besonders wenn der Föhn über die Alpen fegt, dann wird es in allen Schluchten, in allen Lawinenzügen lebendig. Der Witterungsumschlag, den dieser Wind bringt, eine Erhöhung der Temperatur, lässt viel Schnee schmelzen. Die Schmelzwasser sickern in die tieferen Lagen, durchfeuchten sie und lassen sie zusammensintern. Der nasse Schnee ballt sich und bildet über dem meist noch hartgefrorenen Boden eine schlüpfrige Schicht. Es bedarf nur des Impulses, um das Abgehen der Lawine herbeizuführen. Bis auf den Grund reißt der Schnee ab, so dass der dunkle, nackte Boden zum Vorschein kommt; daher der Name! Der Untergrund bestimmt die Bahnen, die von den Massen eingeschlagen werden, das regelmäßige Abreißen, ihr regelmäßiges Erscheinen. Jahr für Jahr stürzen sie durch die Lawinenzüge, meist nur einmal, unter Umständen aber mehrere Male durch ein und dieselbe Rinne. Zuzeiten bleiben sie aus; in schneereichen Jahren hört man sie bei Tauwetter wieder in allen Furchen niederkrachen. So haben denn diese, Jahr für Jahr wiederkehrenden Boten des Frühlings von den Talbewohnern Namen erhalten, die sich meist an den Namen des Berges anlehnen, an dem der Lawinensturz niederzugehen pflegt. „Urbachlaui“ (Laui = Lawine), „Lauberhornlawine“, „Avalanche de la Dent de Broc“, „Avalanga della Valaseia“ (Avalanche franz., Avalanga ital. Lawine) sind solche Namen, die sich nicht nur auf den Sturz, sondern auch auf die Sturzbahn, die regelmäßig durchfegt wird, und die ruhenden Massen im Talgrunde beziehen.

Vor dem Abgang der Grundlawine finden wir, wie schon erwähnt wurde, den Schnee im Sammelgebiete durchnässt. Wie ein Brett liegt er auf dem Untergrund, ohne an ihm zu haften. Nur der Zusammenhalt mit anderen Schneepartien bewahrt das „Schneebrett“ vor dem Abgehen, bis der geeignete Impuls eintritt. Es genügt das Wegtauen einer kleinen Schneemasse, die als Widerhalt gedient hat, oder der Einsturz eines Teiles des hohlliegenden Schneebrettes, und die Talfahrt beginnt. Der Tritt eines unvorsichtigen Menschen, eines Tieres kann zu sehr ernsten Unfällen führen. Und gerade jetzt, im Zeitalter des Skilaufes, mehren sich die Berichte von Unglücksfällen, die durch „abgehende Schneebretter“ verursacht wurden. Die Skier schneiden wie Messer in den Schneehang, lösen dadurch den Zusammenhang des „Brettes“ mit den höher liegenden Schneepartien. Die Lawine formiert sich, das „Brett“ beginnt unter der Belastung zu gleiten und reißt den unglücklichen Erreger mit sich. Darauf ist unter vielen anderen Beispielen die Katastrophe von Landro (Südtirol) 1910 zurückzuführen, die eine österreichische Patrouille an der italienischen Grenze betroffen hat. Ein anderer Unglücksfall, der wegen der Zahl der Opfer weithin bekannt geworden ist, geschah an der Jungfrau im Sommer 1910. Sechs Menschenleben sind hier zugrunde gegangen, eine Reihe schwerer Verletzungen haben sich die anderen Mitglieder der Karawane zugezogen. Etwa 14 Tage alter Neuschnee auf hartem Grund (Fels und gefrorener Winterschnee) war durch Sonne und Föhn aufgeweicht worden und hielt nicht mehr an der Unterlage fest, er begann, sich langsam loszuschieben. Ein Führer, der gerettet wurde, berichtet, dass die Partie bei gutem Wetter von Grindelwald aufbrach, dem Hüttenwart der Berglihütte Proviant zu bringen. Eine Stunde unterhalb der Hütte bemerkte er eine Karawane von acht Personen, die der Hütte schon recht nahe war. Das Gewicht der Menschen löste das Schneebrett, riss die Unglücklichen zur Tiefe und erfasste auch noch die vier Teilnehmer der unteren Partie. — An steilen Hängen ist bei klebrigem, sich ballendem Schnee stets äußerste Vorsicht notwendig; die Disposition zur Lawinenbildung ist eine außerordentlich große!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 030 Durch die Altelslawine umgeworfener Wald, Windschlag

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 030 Durch die Altelslawine umgeworfener Wald, Windschlag

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